Bezúčelná procházka (Aimless Walk – Spaziergang ins Blaue) (R: Alexander Hammid, CZ 1930)
Aimless Walk – Alexander Hammid (R: Martina Kudláček, AT/CZ 1996)
Go! Go! Go! (R: Marie Menken, FR 1962–1964)
A Tale of Two Cities (R: Jem Cohen, AT 2007)
cityscapes (R: Michaela Grill, Martin Siewert, AT 2007
Filmische Städte und städtische Filme
Elias Märk
Als „Stadt des Flaneurs“ beschreibt Walter Benjamin Berlin in seinem gleichnamigen Buch. Zielloses Umherschweifen in den Untiefen der anonymen Großstadt, fließen im Strom der Massen, um sie zu beobachten und von ihnen gesehen zu werden. Ob das Flanieren der geeignetste Begriff ist, um das Programm „Prag – New York – Wien“ zu beschreiben, mag fraglich sein, lässt sich der langsame Müßiggang des Flaneurs wohl nicht sonderlich gut mit dem rasanten Tempo, den die meisten Filme an den Tag legen in Einklang bringen. Eindrückliche Stadtspaziergänge sind sie aber allemal. Der erste der fünf Filme des historischen Specials Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung ist Bezúčelná procházka vom tschechisch-US-amerikanischen, in Linz noch mit anderem Nachnamen geborenen, Fotografen und Regisseurs Alexander Hammid. Dieser experimentelle stumme Kurzdokumentarfilm aus den 1930er Jahren ist genau das, was seine deutsche Übersetzung des Titels sagt: Ein „Spaziergang ins Blaue“. Ohne treibende Geschichte, ohne versteckt liegende Botschaft zeigt dieser Film ganz einfach den 9 Minuten lang einen ziellosen Spaziergang eines jungen Mannes durch das Prag der Zwischenkriegszeit und das alltägliche Leben dieser tschechoslowakischen Metropole. Schnelle Schnitte, schräge Perspektiven und die Wiederholung von Einstellungen lassen eine Assoziation mit Dsiga Wertows Der Mann mit der Kamera aufkommen, aber trotz dieser bedachten Montage, sehen wir eine Un-inszenierte Wirklichkeit einer Vergangenheit, die ohne weitere Sinneszuschreibungen anstellen zu müssen, als filmische Zeitkapsel betrachtet werden kann. Das dies auch so gewollt ist, zeigt der nächste Film des Programmes Aimless Walk / Alexander Hammid von Martina Kudláček. In dem Dokumentarfilm über eben jenen Alexander Hammid, sagt dieser mit ruhiger Stimme, dass es in seinem frühen Werk darum ging, das „Gefühl der Stadt auszudrücken“, er „kein Script“ hatte und einfach seine 16mm Kamera auf die Straßen richtete. Ruhig ist überhaupt ein gutes Stichwort für diesen Film. Bis auf die temporeiche Anfangssequenz, die eine Hommage an Spaziergang ins Blaue ist und in ebenso schrägen Perspektiven Häuserfassaden zeigt – dieses Mal aber das New York City der 1990er Jahre –, ist dieser Film doch sehr langsam. Und das ist nicht verwunderlich, schildert dieses eindrucksvolle Künstlerportraits doch den gemächlichen Lebensalltag des mittlerweile in die Jahre gekommenen Alexander Hammids. Mit Verzicht auf erklärenden Kommentar aus dem Off lässt Kudláček einfach Bilder sprechen, Bilder des Gewöhnlichen. Wäsche aufhängen, Kochen, U-Bahn fahren. Die Kamera begleitet den fast 90-jährigen Alexander Hammid der, allem Alter zum Trotz, ganz alleine seinen Alltag in der Großstadt bestreitet. In Verbindung gebracht werden diese Szenen des täglichen Lebens mit Passagen aus Hammids früheren Elias Märk Filmkritik „Prag – New York – Wien“ UE Diagonale 2021 Seite 2 von 2 Experimentalfilmen, die er unteranderem mit seiner damaligen Frau Maya Deren gedreht hatte. Stumme Bilder, ganz im Sinne des Regisseurs, der einmal sagt: „I don’t like to talk. I express myself always in images. Otherwise, I like silence.“ Die Mitte des Programmes bildet der Film Go, Go, Go der US-amerikanischen Experimentalfilmemacherin Marie Menken. In einer unglaublichen Hektik zeigt dieser Film in knapp 11 Minuten das ebenso hektische und geschäftige Großstadtleben in New York City. Zeitraffer trifft auf Stop-Motion, statische Einstellungen auf bewegte. So vielfältig wie die Aufnahmetechniken, sind auch die gezeigten Motive. Abschlussfeier, Geschäftsstraßen, Baustelle, Bodybuildingwettbewerb, Hafen. Mit einer regelrechten Überforderung der Sinne vermittelt dieser Film in zitternden Bildern wie sich die das Leben in einer Großstadt anfühlen kann. „A tour-de-force on man’s activities.“ wie ein Pressetext so treffend diese Reizüberflutung beschreibt. Als vorletzten Beitrag tischt das Programm den Trailer der Viennale 2007 auf. A Tale of Two Cities von Jem Cohen ist eine einminütige Montage schwarz-weißen 35mm-Films, die diverse Stadtlandschaften von New York City, sowie von Wien zeigt. Zur dissonant klingenden Musik verschmelzen die dunklen, nicht immer genaue einer Stadt zuordbaren Bilder von Häuserfassaden, Gehsteigen oder Treppenaufgängen zu einem neuen, ganz eigenen urbanen Raum – gelegentlich unterbrochen durch hell erleuchtete Gesichter, die tief in die Augen des Betrachtenden blicken. Zum Abschluss bekommen wir den avantgardistischen Film cityscapes von Martina Gill und Martin Siewert zu sehen. Ein Film, der sich wohl als ein immersives Erlebnis beschreiben lässt. Monochrome kontrastreiche Filmaufnahmen eines längst vergangenen Wiens, Schnipsel alter Archivaufnahmen, überlagern sich zunehmend und aus ihrem Kontext gerissen mit digitalen Artefakten. Grobkörnige schwarze Wolken, Rasternetzte, VHS-Rauschen und Pixelmuster verweben sich mit Riesenrad, Jugendstilgebäuden und Spaziergängern auf dem Trottoir. Eine Verschränkung des Analogen mit Digitalem. Untermalt wird das Ganze von elektronischer crescendo anschwellender Musik. Details lassen sich unter dieser analog-digitalen Symbiose bildlicher Fragmente nur schwer erkennen. Als eine in seinen Bann ziehende kinematische Erfahrung verstanden, ist man dennoch froh – obgleich auch zufrieden – wenn diese Anstrengung für Augen wieder endet. „Fünf filmische Stadtspaziergänge“ fasst der Diagonale-Katalog dieses Programm zusammen. Fünf unterschiedliche Eindrücke noch unterschiedlicher Städte. Eine Sehempfehlung gibt es für alle.
Regie: Roger Fritz Buch: Georg Ensor Produzent*innen: Fred Zenker, Lisa Film
Die Unteren halten zusammen
Victor Strauch
In einem Doppelpack zeigt die diesjährige Diagonale die Filme Prince of Peace und Frankfurt Kaiserstraße. Letzterer bietet deutsches Achtziger-Jahre Actionkino mit Coming of Age Elementen und einer sozialkritischen Note, die heute vielleicht aktueller ist als damals. Eine Entdeckung.
“Scheiß Freiheit!” ruft der Vater seiner Tochter Susanne als letztes hinterher, als diese sich in die Großstadt aufmacht um der kleinbürgerlichen Enge auf dem Land zu entfliehen. Für ihren Drang nach Freiheit hat er ebenso wenig Verständnis wie für ihre Beziehung mit Rolf. Wie könnte er auch? Als Patriarch mit Haus und Geschäft hat er es sich im heimatlichen Dorfleben, mit allen dazugehörigen Zwängen gut eingerichtet. Den Wunsch seiner Tochter nach Freiheit zu verstehen hieße sein eigenes Dasein unter diesen Zwängen zu hinterfragen. Die wenigen Szenen in denen wir ihn am Anfang des Films erleben, hinterlassen einen bleibenden Eindruck, doch gerade deshalb tut der Film gut daran, seinen Charakter im weiteren Verlauf links liegen zu lassen. Denn Frankfurt Kaiserstraße ist in erster Linie ein Film über die Großstadt, ihre Verführungen, Gefahren und die Möglichkeiten, die sich dort bieten. Ein Film über wahlweise den Duft oder den Gestank der Metropole. Hat man diesen einmal gerochen, will der Film uns sagen, gibt es kein Zurück mehr. Das Landleben ist von nun an passé.
Der 1981 von der traditionsreichen Produktionsgesellschaft Lisa-Film gedrehte Streifen wendet sich mit seinen exploitativen Momenten von den klassischen Erzählmustern ab, die noch in den 60er und 70er Jahren bei der von Paul Löwinger gegründeten Filmgesellschaft üblich waren. Die Suche nach einem Leben in der Großstadt, frei von familiärer und gesellschaftlicher Unterdrückung, ist das bestimmende Thema des Films. Mit der schwungvollen Musik und der Freizügigkeit der 70er Jahre präsentiert uns Regisseur Roger Fritz hier einen Lobgesang auf die naive Suche nach Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung in einer Welt, die auf der einen Seite von roher Gewalt und Kriminalität, auf der anderen von gesellschaftlichen Zwängen geprägt ist. Und die Zwänge sind groß: Susanne (Michaela Karger) sieht sich nach ihrem Schulabschluss gefangen zwischen ihrem autoritären Vater mit seiner neuen Frau und der Kleingeistigkeit auf dem Land. Susannes Freund Rolf (Dave Balko) hingegen muss seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr leisten und wird in die Kaserne in Frankfurt einberufen. Um während dieser Zeit bei ihm sein zu können zieht Susanne zu ihrem schwulen Onkel Ossi (Kurt Raab), der auf der Frankfurter Kaiserstraße einen Blumenladen betreibt. Auf dieser sündigen Meile, die den Hauptbahnhof mit dem Stadtzentrum verbindet tummeln sich die wildesten Gestalten angeführt vom Wiener Zuhälter Johnny Klewer (Hanno Pöschl). Er liegt im Clinch mit dem Nachtclubbesitzer Aldo (Michael Lewy), mit dem er sich gleich zu Beginn des Films ein Scharmützel liefert. Die Fehde zwischen den beiden Unterwelt-Bossen wird später im Film noch wichtig werden. Susanne jedoch scheint fürs erste glücklich in ihrem neuen Zuhause bei ihrem Onkel, doch sehr schnell wird sie auch die Schattenseiten der neu gewonnenen Freiheit kennenlernen.
Regisseur Roger Fritz legt den Fokus eindeutig auf die Charaktere des Films. Neben Susanne und Rolf entfaltet sich ein ganzes Panorama an Figuren, von denen uns nicht wenige im Verlauf des Films ans Herz wachsen. Da ist einmal der schon erwähnte Onkel Ossi, der sich vorzugsweise als Frau verkleidet. Mit einer angemessenen Portion Humor aber niemals lächerlich, verkörpert der an Fassbinder geschulte Kurt Raab den schwulen Blumenladenbesitzer. Sein Geschäft, das er gemeinsam mit seinem amerikanischen Freund Tonino (gespielt vom späteren Star-Choreografen Gene Reed) betreibt, bildet eine wahre Oase der Unschuld inmitten der Bars und Nachtclubs auf der Kaiserstraße. Anders als Susannes Vater scheint Ossi am Glück seiner Nichte ein echtes Interesse zu
haben und versorgt sie entsprechend auch gleich mit einem Job als Blumenmädchen. Als sie während einem grandiosen Chanson-Auftritt ihres Onkels von einigen Männern belästigt wird, stürzt er sich unverdrossen von der Bühne in die Menge um für seine Nichte einzutreten. Diese Momente verleihen seiner Figur eine Würde, die sonst nur Wenige im Film besitzen, und das obwohl es ob seiner tuntigen Possierlichkeit ein Leichtes gewesen wäre die Figur der Lächerlichkeit preiszugeben. Ebenso glänzt Ute Zielinski als kecke Barkeeperin in Aldos Nachtclub. Sie kellnert zufällig auch in der Kantine der Kaserne, in der Rolf untergebracht ist, wo sie ihm schöne Augen macht. Mit ihrer abgeklärten Art und ihrem Motorrad sorgt sie für ein paar denkwürdige Auftritte. Das absolute Highlight des Films ist allerdings Hanno Pöschl in der Paraderolle des Zuhälters Johnny Klewer. Mit seiner wienerischen Art zu sprechen und seinem Schmäh hebt er sich besonders von den anderen Figuren ab. Hanno Pöschl vermag es der Figur eine Bedrohlichkeit zu verleihen, die beängstigend und faszinierend zugleich ist. Gleich zu Beginn wird klar, dass mit diesem Zeitgenossen nicht zu spaßen ist, wenn ein von ihm geplanter Anschlag auf Aldos Club nur knapp sein Ziel verfehlt. Gegenüber seinen Feinden aber auch gegenüber seinen Prostituierten kennt er keine Skrupel. Das wird besonders deutlich, wenn er einer von ihnen in einer Szene mit einem Stück Würfelzucker ins Gesicht schneidet. Während des gesamten Films gehen von ihm nur Gewalt und Intrigen aus. Damit bildet er mit seinen Schergen auch den Gegenpol zu Ossi und seinem Blumenladen. Durch einen Zufall kommt Susanne in Berührung mit Johnny. Der wittert sofort das große Geld als er ihre Schönheit und Naivität bemerkt und plant daraufhin, sie zur teuersten Edelnutte von Frankfurt zu machen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis der Figuren. Es sind diese Begegnungsmomente der Charaktere untereinander die, auch wenn sie manchmal etwas konstruiert daherkommen, dem Film seinen Charme verleihen. Denn hier werden grobe Gegensätze einander gegenübergestellt und die verschiedenen Gestalten innerhalb einer Großstadt zueinander in Beziehung gesetzt. Freilich fehlt es der Story an Originalität, der Film driftet gottseidank aber nie ins Kitschige ab, sondern bleibt seinen Figuren treu, die zwar manchmal wie Schablonen wirken, damit aber auch als Repräsentanten ihrer sozialen Gruppe gesehen werden können. Interessanterweise verzichtet der Film bei einer ganz bestimmten Gruppe völlig auf eine Charakterisierung. Denn man fragt sich bisweilen wer in dieser Stadt eigentlich wirklich das sagen hat und der Film gibt darauf eine klare Antwort. Johnny Klewer, soviel Macht er auch über andere besitzt, hat selbst jemanden über sich und zwar im Wahrsten Sinne. In den höchsten Stockwerken der Wolkenkratzer Frankfurts treffen und feiern sich mächtige Geschäftsleute, die nicht nur über sein Schicksal entscheiden ohne sich dabei je selbst die Hände schmutzig zu machen. Der Film veranschaulicht den krassen Gegensatz zwischen den Oberen und den Unteren indem die Oberen ausschließlich als gesichtslose Anzugträger in Erscheinung treten. Von einer breiten Charakterisierung, wie wir es bei den “Unteren” zu tun haben kann keine Rede sein. Damit zeigt der Film: Es handelt sich bei ihnen nicht um Charaktere, sondern nur um Funktionsträger und in ihrer Funktion sind sie ebenso ersetzbar wie Johnny Klewer. Es gibt demnach keinen Bösewicht an der Spitze den es zu beseitigen gilt und dann ist alles gut. Wir haben es vielmehr mit einem System zu tun, das es Figuren wie Klewer erst ermöglicht andere auszubeuten und sich selbst zu bereichern. Diese leise Kapitalismuskritik ist nicht von der Hand zu weisen auch wenn der Film auf persönlicher Ebene für einen radikalen Individualismus plädiert. Ein Stück weit wird dadurch das unvermeidliche Happy End relativiert.
An dieser Stelle können wir uns fragen welche gesellschaftlichen Bedürfnisse aber auch welche ideologischen Dogmen mit einer Propagierung des Narrativs von der Selbstverwirklichung in der Großstadt frei von bürgerlichen Moralvorstellungen bedient werden? Anfang der 80er Jahre, als der Film erschien, gab es vonseiten der Proponenten der Finanzialisierung der Wirtschaft und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ein Interesse an einer kulturell-ideologischen Wende weg von der Vorstellung einer Solidargemeinschaft hin zu einer Gesellschaft, die nur noch Individuen kennt,
frei nach dem berühmten Satz von Margaret Thatcher: “There is no society”. Diese Vorstellung passt natürlich sehr gut zusammen mit der zunehmenden Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen und den zahlreichen Befreiungsbewegungen, die wir seit den 70er Jahren erleben. So ist es auch kein Wunder, dass wir es seit dieser Zeit auch im Kino mit einer Verschiebung zu tun haben, wo vermehrt Einzelschicksale und vor allem das Innenleben der Figuren im Sinne einer Psychologisierung der Charaktere, sowie deren Durchsetzungsvermögen gegen widrigste gesellschaftliche Umstände aus eigener Kraft thematisiert werden. Die Ausblendung der ökonomischen Verhältnisse, die damit oft einhergeht stellt Machtstrukturen nicht infrage, sondern erklärt im Gegenteil die herrschenden Verhältnisse für unantastbar. Frankfurt Kaiserstraße unterläuft diese Verknüpfung von individueller Freiheit und den Ansprüchen einer Ellenbogengesellschaft auf zwar nicht unbedingt subtile aber nichtsdestotrotz kluge Art und Weise, indem anhand von Susannes Geschichte gezeigt wird, dass die persönliche Freiheit um den Preis der Existenz von Sünde und Ausbeutung erkauft wird. Und auch wenn sich die Figuren untereinander nicht immer riechen können, demonstriert der Film auf berührende Weise den Zusammenhalt der kleinen Leute, wenn es darauf ankommt.
Frankfurt Kaiserstraße gelingt es mit Allgemeinplätzen von einer Wirklichkeit zu erzählen, in der die Figuren aber auch das damalige Publikum noch nicht so richtig angekommen zu sein scheinen. Ohne nachzudenken stürzen sie sich ins Blaue und das macht die Figuren so sympathisch. Der Film erhebt
sich nicht über sie, sondern steht auf ihrer Seite, auf der Seite der Freiheitssuchenden und der Naivlinge. Ein wilder Trip durch das Leben der Großstadt und eine echte Entdeckung.
Vom 8. bis 13. Juni fand in Graz die »Diagonale« – das »Festival des österreichischen Films« statt. Neben einem breiten Spektrum von Spielfilmen, über Dokumentarfilme bis hin zu Expe rimental- und Animationsfilmen finden sich im Veranstaltungskonzept auch immer wieder in teressante Themenschwerpunkte wie z.B. heuer „Displaced Persons – Keine Heimat, nir
gendwo!“ der in Kooperation mit SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien gezeigt wurde. Einer der Highlights in dieser Sonderreihe war Fred Zinnemanns The Search (US/CH 1947/48) der die fiktionale Geschichte eines, im Konzentrationslager Auschwitz von seiner Mutter getrennten und verlorenen gegangenen, Jungen erzählt.
Bei den Filmfestspielen von Cannes hatte 2014 Michel Hazanavicius mit seinem gleichnami gen Drama The Search Premiere. Darin widerfährt im Tschetschenienkrieg einem Jungen ein ähnliches Schicksal wie in Zinnemanns Vorbild.
Im Original spielte Montgomery Clift den GI Steve, der im Nachkriegs-Deutschland dem stummen tschechischen Jungen Karel bei der Suche nach seiner Mutter hilft und sich mit ihm anfreundet. Karels Mutter kommt bei ihren Nachforschungen in jenes UNRRA Lager, in dem ihr Sohn untergebracht war und beginnt dort zu arbeiten. Durch die anstehende Heimkehr von Steve in die USA muss Karel zurück in das Lager, wo es zu einem Wiedersehen mit seiner Mutter kommt.
Im Remake sind es zwei Filmstränge, die erzählt werden. Nachdem seine Eltern im zweiten Tschetschenienkrieg in ihrem Dorf ermordet wurden, flieht der 9-jährigen Hadji und reiht sich in den Flüchtlingsstrom ein. Er trifft Carole, eine Delegationsleiterin der Europäischen Union, und nach und nach kehrt er mit ihrer Hilfe ins Leben zurück. Zur gleichen Zeit sucht seine äl tere Schwester Raïssa unermüdlich inmitten der Zivilflucht nach ihm. Parallel dazu erzählt der Film die Geschichte von Kolia, einem 19-jährigen Studenten, der mit der russischen Armee in den Krieg zieht. Dann folgt der grausame Weg des jungen Mannes nach Tschetschenien, wo er misshandelt und gedemütigt wird, Leichen verpacken und Selbstmörder als „im Kampf ge fallen“ deklarieren muss.
Ein Vergleich der filmischen Gestaltungsmittel von zwei Filmen, die mit einem Abstand von fast 70 Jahre produziert wurden, kann nur eine lückenhafte Annäherung sein, da Unterschiede bei Farbe vs. Schwarz/Weiß, Bildverhältnisse oder Mono vs. Dolby Sourround Ton die Re zeption grundlegend different gestalten.
Deutlich ist jedoch, dass Zinnemann uns mehr Zeit und mehr Raum gibt, um in die Schrecken des zweiten Weltkrieges einzutauchen. Plansequenzen, eine ruhigere Kameraführung und oft mals langgedehnte Ab- und Aufblendungen zwischen den Szenen lassen die volle Breite der Katastrophe erfassen und leiten die Emotionalisierung.
Die Neuverfilmung hingegen ist kleinteiliger, blickt sensationslüstern nach Details in den bei den Strängen und springt gelegentlich hektisch zwischen ihnen hin und her. Gegenüber dem Organal sind es rund doppelt so viele Schnitte, die den Film mit Unruhe belegen und die auch von der Kamerabewegung mitgetragen wird. Doch es ist nicht nur die unbeständige und sprung hafte Ästhetik die die Rezeption des Films zermürbend und schwerfällig gestaltet, es ist auch eine Überladung an Narrativen. Neben den beiden Hauptgeschichten von Hadji und Kolia wer den noch politische Statements zur russischen Alleinherrschaft von Ministerpräsidenten Wla dimir Putin verhandelt, die Lähmung der Europäischen Union im Tschetschenienkrieg wird gesellschaftskritisch beleuchtet und eine Vielzahl von Kriegsschicksalen werden bildgewaltig erzählt. Das ehrgeizigere Vorhaben Hazanavicius, ein Remake von Fred Zinnemanns The Se arch in den modernen Kontext des Tschetschenienkrieges zu transformieren, ist angesichts des katastrophalen Ergebnisses eindeutig gescheitert.
Im Original hat der Regisseur ein klares Konzept was gezeigt werden darf, was nicht, welchen Sinn die Bilder von Armt, Hunger und Krankheit haben und wie man dramaturgisch die Ge schichte des jungen Karel in Szene setzt. In einer gelungenen Symbiose aus der Dokumenta tion des Schicksals verschleppter Kinder, die unter dem Wahn des deutschen Faschismus zu leiden hatten und der Struktur eines klassischen Dramas versteht es Zinnemann sein Publikum in die deutsche Nachkriegsumgebung zu versetzen und vermittelt mit umfangreichen Außen aufnahmen von Trümmern und zerstörten Landschaften ein authentisches Bild von Europa nach 1945.
Obwohl The Search für den modernen Geschmack sentimental erscheint und vielleicht zu ab rupt endet, wirkt er nie gestellt oder erzwungen und verdient zurecht die ihm entgegenge brachten Emotionen. Jarmila Novotnas Darstellung der Mutter ist, obwohl ihr der Schmerz deutlich ins Gesicht geschrieben steht, geprägt von Würde. Ivan Jandl, der einen Spezial-Os car für die herausragende Jugendleistung erhielt, ist bemerkenswert echt und tritt nie wie ein „Filmkind“ in Erscheinung.
The Serach ist ein trauriger Film, aber in seiner Entschlossenheit und seinem Mut ist er eine reiche und lohnende Erfahrung. Auch wenn der Film ein besonderes Ereignis in der Ge schichte behandelt, trifft er doch eine universelle Aussage über Millionen verlorener Kinder, die die Kollateralschäden von Kriegen sind.
„Ich fühle mich Zuhause eigentlich in einer Zwischenwelt“. Weina Zhao ist in Wien als Tochter chinesischer Immigrant:innen aufgewachsen. Ihre Identität ergibt sich aus dem Dazwischen, ist angesiedelt zwischen China und Wien. Inwiefern ist Identität aber nun an einen Ort und an eine Geschichte gebunden? Und wie ist mit Erinnerung überhaupt umzugehen die ja gar so subjektiv ist?
Die Produktion des Films erstreckte sich über einen Zeitraum von 5 Jahren, in denen wir Weina und ihre Familie begleiten. Wir begeben uns mit ihr auf eine Reise nach China, in die Geschichte ihrer Großeltern und Vorfahren. Wir reisen an Plätze, die zwar räumlich gesehen immer die Gleichen sind, die Zeit aber darüber gestrichen ist, die Menschen gekommen und gegangen sind. Wir bewegen uns dabei vor allem in einem häuslichen Setting, eben auf der Suche nach diesem Zuhause. Weinas Großeltern sind sehr unterschiedlich, die einen urban die anderen ländlich, allen gemeinsam ist aber eine Überzeugung gegenüber dem kommunistischen Regime. Das Medium Film ist dabei nicht zufällig gewählt, Weinas urbane Großeltern waren selbst Filmemacher:innen und fühlen sich dementsprechend auch aus diesem Grund mit dem Film wohl. Zum einen gibt es also die Ebene des Inhalts, wo die Verwandten von Weina aus ihrer Vergangenheit erzählen, zum anderen spielt aber auch das Medium Film selbst eine tragende Rolle. Meist ist es ja sehr schwierig die Großeltern, die Familie nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Die Fragen zu intim und die Angst Wunden aufzureißen sind oft ein unüberwindbares Hindernis. Deshalb nutzt Weina das Medium Film, um eine objektive Distanz aufzubauen und diesen Fragen nach der eigenen Geschichte nachzugehen. „Mein Filmemachen gibt mir die Möglichkeit anders zu sein.“ Die dadurch erzeugte Position der Outsiderin und das Filtern durch das technische Medium Film ermöglichen eine Distanz, die es erlaubt das Gespräch über die Geschichte anzufangen, wenn auch Wunden dadurch trotzdem aufgerissen werden, wobei die Frage bleibt, ob das denn immer negativ sein muss.
Ein durchaus nahegehender und wichtiger Film, der in seinem ruhigen Duktus eine enorme Sogwirkung entfaltet. Diese Nahaufnahme, dieses Close-up auf eine einzelne Familie hat eine ungeahnte Relevanz und Universalität, aus der sich vielseitige Fragen und Antworten auf verschiedenste Bereiche des Lebens ableiten lassen. In seiner Persönlichkeit und seiner Intimität, bleibt das Gefühl selbst mit auf der Reise, auf Besuch gewesen zu sein. Es ist ein Film der keine abgeschossenen Antworten präsentiert will, sondern über das Fragen stellen handelt. Es steht weniger das Ergebnis, sondern mehr die Methode im Vordergrund; weniger das Produkt, mehr der Weg. Ein einfühlsamer Film, von dem wir viel lernen können!
Regie: Robert Dornhelm Kamera: Franz Köberl Originalton: Helmut Freulich Weitere Credits: Text: Peter Huemer
Probleme von damals und heute…
Victor Strauch
In einem Special unter dem Titel “Whose Streets? Our Streets!” zeigt die Diagonale 2021 drei Dokumentarfilme aus den 70er und 80er Jahren über die sozialen Probleme der jungen Generation in Städten. Ein Beitrag des ORF von 1973 offenbart dabei weitreichende Prallelen zur Gegenwart.
Irgendwann einmal… Probleme der Jugendlichen in Großsiedlungen, im Jahr 1973 unter der Leitung von Robert Dornhelm vom ORF produziert, führt einem die schäbige und aussichtslose Lebensrealität Wiener Jugendlicher im Außenbezirk Simmering vor Augen. Umgeben von scheinbar endlos in die Ferne reichenden grauen Siedlungsbauten aus Beton finden sich die Jugendlichen in einer räumlichen und gesellschaftlichen Enge ohne Rückzugsorte wieder, die sie verzweifeln lässt. Die geplanten Satellitenstädte bieten zwar Wohnraum, doch für sie nichts darüber hinaus. In eindrücklich beklemmenden Bildern verdeutlicht Kameramann Franz Köberl das Gefühl der Eingezwängtheit inmitten all der gleichaussehenden Wohnhäuser die sich durch das in Untersicht gefilmte Entlangstreifen der Kamera an den Häuserwänden zwangsläufig auf den Zuschauer überträgt. Den Jugendlichen bleibt nichts anderes übrig, als in ihrer Freizeit auf Parkflächen und Bänken herumzulungern, wobei sie auch schon mal von Anrainern aus den Fenstern der umliegenden Gebäude heraus aufgefordert werden sich zu schleichen.
Der Konflikt zwischen den Generationen, der Kampf um öffentlichen Raum erweist sich dabei als politisches Versäumnis. “Man hat auf ihre Probleme vergessen und so werden sie selbst zum Problem” heißt es an einer Stelle von Peter Huemer aus dem Off. Zwar wird den Querulanten nach einer Demonstration eine Bleibe für einen Jugendclub zur Verfügung gestellt, dieser aber nach kurzer Zeit wegen einer Prügelei wieder geschlossen. Bis auf eine Deponie aus Betonabfall und die Hütte einer alten Frau, die den jungen Leuten einen Zufluchtsort gewährt, können sie nirgendwo hin um sich auszuleben. Besonders abgründig wird es, wenn sie durch Löcher in der Erde in kleine unterirdische Höhlen unter Bergen von Betonbrocken abtauchen. Aus diesem tristen Leben am Rande der Großstadt flüchten nicht wenige der Jugendlichen in die Kriminalität oder den Drogenrausch. Immer wieder soll es laut den Siedlungsbewohnern zu Einbrüchen kommen, bei denen allerdings keine Wertsachen entwendet werden. “Aus Langeweile” würde dies passieren, da die Jugendlichen mit sich nichts Besseres anzufangen wissen. Daneben stellt Rauschgift eine attraktive Freizeitbeschäftigung dar. In einer bedrückenden Szene erzählt einer der Jugendlichen mit überraschender Selbstreflexion von seinen ersten Erfahrungen mit LSD und Heroin bis hin zu einem gescheiterten Selbstmordversuch.
Unter veränderten Vorzeichen scheinen die Probleme von damals heute erneut unser öffentliches Leben, insbesondere in den Städten, zu bestimmen. Die Frage nach der Verteilung von öffentlichem Raum, die Frage “Wem gehört die Stadt?”, schließt nicht nur an die Eigentumsfrage an, sondern heute mehr denn je auch an die Klimafrage. Was die junge Generation heute umtreibt ist nichts anderes als das, was die städtischen Jugendlichen in den 70er Jahren an ihrer Umwelt verzweifeln ließ: Perspektivenlosigkeit, die Aussicht auf ein Leben, das weniger Wohlstand bietet als das, der Vorgängergeneration, sowie das Vorfinden verkrusteter Machtstrukturen in Politik und Gesellschaft, die auf keine baldige Veränderung hoffen lassen. Das Aufmachen einer Alternative für die Zukunft bleibt jedoch letztlich auch der Film schuldig.
Regie, Buch, Kamera, Schnitt: Johannes Gierlinger Produzent*innen: Johannes Gierlinger, Georg Tiller / Subobscura Films Koproduktion: Subobscura Films
WAS VERBIRGT SICH HINTER DER MASKE ?
Anton Teuteberg & Jürgen Benjamin
Der Film ,,Die vergangenen Zukünfte‘‘ hinterläßt eindrücklich ein janusköpfiges Bild.
Einerseits behandelt er mit justierter Dynamik und Impetus ein anspruchsvolles, der ,,physischen Realität‘‘ (Kracauer) entlehntes Thema, die Märzrevolution. Es ist inhärent politisch, erheischt potentielles, kritisches Potentat – der Maxime eines Essayfilms folgend.
Generell steht der Film sehr im Duktus kritischer Theorie, denkensweise Walter Benjamin, der bisweilen gar selbst im Film elaboriert wird. Zwischen Erwähnungen historischen-referenziellen Treibgutes über beispielsweise den ,,Mann mit der Kamera‘‘ hin zu verspielten Reminiszenzen adornitischer Natur, wenn beispielsweise von der der Gegenwart den ,,Spiegeln vorhaltenden‘‘ (Filmzitat) Natur im voice over gesprochen wird, entpuppt sich der Film jedoch leider als formalistisch,
und demnach des ihn anheimen Themas negativer, essayistischer Dialektik (man bedenke Hegels geflügelte Rede der ,,bestimmten Negation‘‘) unangemessen. Denn er sieht sich als dezidiert essayistisch, treibt es als seine (scharfgemachte) Speerspitze an vorderster Front und vergißt darüber hinaus den zu füllenden, sich nicht in ,,schlechter Unendlichkeit‘‘ (Adorno) im Gap beziehungsweise interstice vergehend-ergehenden Fallraum subjektiver Erkenntnis.
Diesbezüglich formal ist der Film astrein, krankt und laboriert jedoch an einer sich zu sehr auf Theorie eingeschossener dialektisch-essayistischer Struktur, oszillierend zwischen dokumentarischer und narrativer Guideline. Er ist zu stockend, als dass er das ,,Spannungsfeld‘‘ (Adorno) des Essays entfalten könnte, es gebricht ihm an der ,,Muße des Kindlichen‘‘ (Adorno). Er wirkt wie sich die schwerfällig auf die ihrigen stützenden erratischen, altklug-mahnungsvollen Blöcke Stonehenges. Es scheint bisweilen, als würde er sich apologetisch der Kunst bedienen, um Stocken und unliebenswerte Statik der Form zu kaschieren (vgl. hierzu Adorno, ,,apologetische Anleihe bei der Kunst‘‘). Offenbar wird diese an einer misslich elaborierten, zu langen Einstellung das Archiv betreffend.
Die Varianz der Kameraführung ist eine lieblose Spielerei, die bedeutungsschwere, der Thematik der Märzrevolution sich anheischig machende Erwartungshaltung, die qua statisch-antonymischer Struktur des Essayfilms dergestalt perpetuiert wird, fällt sich selber an.
Es erscheint fast zwanghaft, wie der Film das Wechselspiel (vergleiche beispielsweise Adorno und dessen Attest eingeschrieben dem Essay als ,,Kraftfeld‘‘) zwischen Szientifik und Künstlerischem, vorantreibt , und darüber hinaus dessen inhärent-politischen exstirpierenden Gestus unterläuft.
Summa summarum exstirpiert er nicht, er vergeht sich mit lancierter Kulturindustrieller ,Verschwörung‘ beziehungsweise ,Verschworenheit‘ in leider banalem weil biederem Aufguss, wenngleich thematisch (als offenkundig (und des als ,,sein eigenes Apriori hervorkehrend‘‘ (Adorno)) inhärent politisch) einwandfrei und astrein.
Er ist zu abgeschlossen, endet nicht in unabgeschlossenen Ausläufern, lässt gap und interstice missen und verliert sich, beziehungsweise verführt nicht, sich in der ,,schlechten Unendlichkeit‘‘ (Adorno) der Erkenntnis zu ermächtigen.
Es ist an ihm eine Vorrangstellung der Form vor dem Inhalt anzukreiden, was seinem essayistischen aim diametral entgegengesetzt ist. An diesem unhaltbaren Widerspruch zerbricht er.
Es lässt sich mit einem Filmzitat auf den Punkt bringen, ,,als würde das Skelett von alleine stehen‘‘. Blutleer gerinnt der Inhalt stockend in einem Formalismus ertrunken, wohingegen inhaltlich, versteifte man sich nicht nur begrifflich hierauf, ein exstirpierendes Verlangen schlagend wird.
Diagonale Schwerpunkt: Sehnsucht 20/21 –
Eine kleine Stadterzählung
„Ich liebe sie, Frau Fantasie“ und wir lieben sie, Frau Pezold
Natalie Pruckner
Mit ihrem
filmischen Kunstwerk Canale Grande
erschafft Friederike Pezold eine Gegenwelt zu jener, mit der sie nicht
mitziehen möchte. Unter dem Namen RFU (Radio Freies Utopia) gestaltet sie ein
alternatives Fernsehformat für „Freunde, Bekannte und Unbekannte“. Dieses
thematisiert sie in ihrem 1983 erschienenen Film, der sich ironischerweise
wahrscheinlich ebenfalls an „Freunde, Bekannte und Unbekannte“ richtet. In
diesem nimmt sie Zuschauer*innen mit auf eine originell-amüsante und ständig
aufs Neue überraschende Reise durch Fantasiewelten.
Der Film, in
dem Pezold selbst als charmante und progressive Protagonistin glänzt, startet
in einer Wohnung. Die Hauptdarstellerin wird dabei alternierend mit der
Aussicht aus dem Fenster beziehungsweise Fernsehbildschirm geschnitten.
Zunächst lässt sich der Zusammenhang nicht herauslesen und es macht sich eine
Spannung breit, welchen Weg der hochgelobte Film einschlägt. Die Protagonistin
übermalt sowohl ihre Fensterscheibe als auch den Monitor mit schwarzer Farbe.
An dieser Stelle fällt, ohne weitere sprachliche Hinweise auf – sie sieht
schwarz. Eine großartige Visualisierung der bekannten Metapher, die direkt auf
die kritische Orientierung des Films schließen lässt.
Fern von
Fernseher und Fenster macht sie sich auf die Suche nach einer eigenen Kamera
und eigenem Equipment. Dabei lässt sie keine Absurditäten aus. Als einfache
Bürgerin, der die Utensilien mehr Nutzen bringen würde, stattet sie mit ihrer
verrückt-humoristischen Art den Wiener Linien, Videotheken und sogar der
Polizei einen Besuch ab. Mit ernstem Ton und kindlichen Fragestellungen schafft
es Pezold ihre Gegenüber aus der Fassung zu bringen und das Publikum zum
Nachdenken zu animieren. Sie spielt auf subtile und kritische Weise die
ungerechte Umverteilung an. Wieso sollten die Wiener U-Bahnen zwanzig Monitore
haben, während sie selbst keinen hat? Wenn hier alle überwacht werden, wieso
sollte ihr das nicht auch ermöglicht werden?
Unter dem
Motto „Überwacht alle, die euch überwachen“ startet sie sowohl ihren eigenen
Fernsehsender als auch Denkanstöße im Publikum. Als Revolutionärin will sie
sich nicht in die vorhandene Medienwelt eingliedern und bezeichnet ihren Kanal
als einen Nahsehsender, eine „Gegenwelt, die nicht da ist, solange man sie
nicht selber macht“. Mit ihrer innovativen Erfindung zeigt sie Fluchtversuche
aus der Realität und Entwürfe verschiedener Utopien. Getrieben von
Imaginationskraft en Masse verwandelt Pezold ihre Wohnung dafür in jeden
erdenklichen Ort. Für eine Reise in den Süden finden sich Luftmatratzen,
Sonnencreme, Schirme und alles, was zu einem Meerurlaub dazugehört, bei ihr
zuhause. So zeigt sie auch einen Kreissaal, Italien, ein Restaurant und viele
weitere Orte. Ein Leben ohne Grenzen, eine vielgelebte Traumvorstellung, die
Pezold in Canale Grande Wirklichkeit
werden lässt.
Obwohl der
Film schon fast 20 Jahre zurückdatiert, sind ihre Kritikpunkte nicht aus der
Mode gekommen. Pezold fokussiert vor allem vorherrschende Geschlechterrollen.
Zumeist schafft sie es mit naiven Fragestellungen à la „Wieso muss das so sein,
das verstehe ich nicht“, dem Vorhandenen und Etablierten einen Schleier der
Skepsis überzustülpen. Um ihren Ausführungen folgen zu können bedarf es keiner
jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Thema. Was sie anspricht und kritisiert,
ist vorwiegend das Offensichtliche, mit dem sich die Welt bereits abgefunden
hat. Sie kritisiert es, ohne anstößig zu werden, auf eine Art und Weise, die
kunstvoll und einzigartig ist. Häufig sind lange Einstellungen zu sehen, in
denen zunächst nichts passiert. Sie werden mit einer Komik aufgeladen, die
rational eigentlich nicht zu erklären ist. Das humoristische Potential des
Films wirkt beinahe ungewollt. Zusätzlich ermöglicht Pezold hiermit ein
kognitives Erfassen der Situation. In einer Gesellschaft, die von
Reizüberflutung geprägt ist, wirken statische, ruhige Einstellungen zunächst
fehlplatziert und skurril. Die Regisseurin hat die Herzen der Zuseher*innen mit
ihrer beinahe kindlichen Ehrlichkeit allerdings schon längst für sich
beansprucht und jeder weitere Frame wird mit Freude angenommen.
Die
Assoziation zum Schwarzsehen wird im Verlauf des Films glücklicherweise erneut
aufgegriffen. Pezold lädt all jene dazu ein, bei ihrem Sender zu partizipieren,
„die rotsehen“. Ein spannendes Wiederaufgreifen, das vor allem die
Fluchtmöglichkeit aus der anfänglich angedeuteten depressiven Verstimmung
bezüglich des Weltgeschehens verdeutlicht. RFU ermöglicht der Protagonistin das
Erreichen der nächsten Etappe – eine Etappe, in der sie statt Schwarz-
Rotsieht.
Abschließend
imponiert Canale Grande mit seiner
Schlussszene. Pezold, als rotsehende Protagonistin findet sich mit ihrem treuen
Hund und Nahsehkanal auf der Spitze eines schneebedeckten Berges. Nostalgisch,
aber zufrieden blickt sie aus der Bildmitte auf die Berge. Ihre weiße Umgebung
lässt sie farbenfroh im Zentrum des Bildes strahlen. Nicht nur aufgrund der
großartigen Anordnung wirft die Einstellung Parallelen zur berühmten
Rückenfigur der Romantik auf, sondern sie fungiert zusätzlich als
Identifikationsmöglichkeit der Zusehenden mit Pezold selbst, sowie ihrer
kritischen Haltung und Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Die Einstellung
scheint die längste im ganzen Film gewesen zu sein und doch ist sie jede
Sekunde wert. Sie als gekonnten Abschluss zu bezeichnen wäre untertrieben, denn
sie schließt den Film nicht ab, sondern verleitet dazu, den Film
weiterzudenken.
Rain outside our window AT 2021 Farbe, 17 min., OmeU
Topfpalmen AT/DE 2020 Farbe, 20 min., OmeU
Diagonale Schwerpunkt: Spielfilm kurz
Reflektion zur kinematographischen Vergänglichkeit
Daniel Morawitz
Kinoerfahrungen sind immer etwas
Besonderes, egal welche. Ob der Besuch bei einem lokalen Art-House Kino oder
beim Multiplex, um den neuesten IMAX Film anzuschauen, jeder Kinobesuch ist mit
einer Nervosität, einem Nervenkitzel, einer Erwartungshaltung verbunden. Man
weiß nie genau was einem erwartet, was da auf einem zukommen wird. Man mag vielleicht
die ein oder andere Rezension gelesen haben, vielleicht ein YouTube Review von einem
der bekanntesten Movie-Spezialisten auf der Plattform gesehen haben, trotzdem
weiß man, dass die Erfahrung und das finale Resultat im Endeffekt in den
Sternen stehen.
Gerade bei Filmfestivals spitzt
sich das besonders zu, bzw. man spürt es bei diesen Okkasionen noch intensiver.
Viele Filme feiern bei Festivals ihre Premiere, das heißt es gibt meistens absolut
kein Word-of-Mouth auf das man sich einlassen kann. Das Word-of-Mouth folgt
nach dem Screening, die Erfahrung, die man bei der Uraufführung hat, und die
man mit sich nimmt und teilt, wird das Fundament des Diskurses rund um den Film
sein. Hört man, dass in Cannes bei der Premiere des neuen Gaspar Noé Films,
oder des neuen Von Trier Films, Leute rausgestürmt sind, oder gar in Ohnmacht
gefallen sind, so wird das einen grundlegenden Effekt auf die Erwartungshaltung
gegenüber dem Film haben. Gerade diese Berichte sind für die Filmemacher der
große Paukenschlag, oder der Anfang vom Ende.
Bei der diesjährigen Diagonale wurde einem wieder bewusst, welche Autorität der Zuschauende, die Audienz, tatsächlich hat. Mit einem Wort, einem Text, einer Geste, bestimmt der/die Filmschauende über das Leben des Films. Denn entweder die kollektive Meinung bringt ihn zum Erfolg, oder der Film verwest in der dunklen Kammer der Vergessenheit, dort wo viele Filme verweilen, die auf Festivals gezeigt wurden, aber nie Anklang bei der Masse gefunden haben. Dies wird der unausweichliche Fall für viele Filme sein, egal ob sie nun als „gut“ oder „schlecht“ im polemischen Sinne gewertet wurden, es ist heutzutage schwerer, aber auch leichter denn je seinen Film zu vermarkten und zu veröffentlichen. Besonders bei Kurzfilmen kommt der Gedanke auf: Wo wird man, in 20 Jahren etwa, diese kleinen Kulturartefakte jemals wieder sehen können? Spiel und Dokumentarfilme werden da ganz anders behandelt, denn diese wurden ja für einen Kino-Run konzipiert, danach leben sie in manchen Fällen auf physischen Medien weiter, oder wenn wir uns auf die moderne Mainstream Situation beziehen, auf etwaigen Streaming-Diensten.
Doch Kurzfilme haben selten
diesen Luxus. Vor YouTube und Vimeo hatten sie bis auf Festivalsichtungen wenig
Chance jemals das Licht der Welt zu erblicken. Nach dem Festival Run werden die
Kurzfilme dann eben auf einer Plattform der Wahl hochgeladen. Für wie lange sie
sichtbar sind, das kommt ganz drauf an. Wenn sie dann weg sind, sind sie weg,
gelöscht von dem Bewusstsein der Filmosphäre. Dann muss man den Filmemacher
fragen, ob man einen Link bekommt. Das Leben des Kurzfilms ist eine
Momentaufnahme. Er lebt auf den Festivals, wo er von Lob nur so berieselt wird,
das dauert maximal aber 2 Jahre. Dann landet er mit all den anderen Kurzfilmen
im VOD Verein, ein Ort wo sich alle gegenseitig für paar Klicks bekämpfen, wo
jeder auf sein Comeback sehnsüchtig wartet. Die meisten erhoffen sich ein Feature
auf der Staff-Pick Seite von Vimeo, das ist schon die Große Liga der Kurzfilme,
die sogar vor 5 Jahren ihre Uraufführung hatten. Die bekommen dort dann ihr 2.
Leben, was aber auch nicht lange hält. Mubi zählt auch zu den großen dazu, aber
um hier reinzukommen muss man bereits bei Festival einiges abgestaubt haben.
Als Kurzfilm muss man sich beweisen können.
Wer auf der Diagonale im
Kurzfilmprogramm 1 saß, sah einen Block mit viel Innovation, Mut und formalen
Geschick. Die Kurzfilme in diesen Block waren allesamt auf dem Niveau eines Spielfilms.
17.000€ kostete der Kurzfilm Rain Outside
Our Window von Simon Maria Kubiena. 1000€ pro Minute. Das Ergebnis kann
sich sehen lassen, technisch ist der Film nahezu einwandfrei. Die großen
Widescreen Aufnahmen geben der Location tiefe, der Raum wirkt immens und
immersiv. Man merkt, hier handelt es sich um etwas Aufwühlendes, auf der Makro als
auch auf der Mikroebene. Es geht um ein Paar, kurz vor der Trennung. Die
Emotionen sind dick aufgetragen, fast schon Hollywoodreif, die Plansequenzen
sind nicht nur ein technischer Augenschmaus, sie geben der Zwischenmenschlichen
Ebene Raum zum Atmen. Die Schauspieler dürfen hier wirklich spielen, die
Emotionen ausarbeiten, kein Schnick-Schnack, es geht nur um diesen Moment. Wie
ein choreographierter Tanz geht die Sequenz von statten. Die emotional
dramaturgische Wirkung ist nicht ganz da, wo sie sein sollte, man könnte hier das
Wort melodramatisch verwenden. Der Film will Aufmerksamkeit auf sich ziehen,
tut dies über zugespitzte Emotionen und dynamische Kameraarbeit die miteinander
nicht ganz harmonieren, jedoch ist die Arbeit letztlich absolut gelungen, denn
hier geht es um junge 20- jährige Filmemacher, die zeigen was junges Kino kann,
wenn man es nur richtig fördert. Film ist eine teure Kunst, die finanzielle
Dimension ist bei allen Projekten nicht auszuschließen. Gerade wenn man mit
solch einer audiovisuellen Präsentation auftrumpfen kann, ist es umso erstaunlicher,
dass junges Kino auf dem Level nicht noch mehr im Rampenlicht steht.
Auch die Filmakademie darf bei
der Diagonale, und bei all den anderen österreichischen Festivals, nicht
fehlen. Man kann über die Hochschule sagen was man möchte, die filmische Messlatte,
die sie mit ihren Projekten setzten, ist sehr hoch. Intellektuell als auch formalästhetisch
merkt man bei Hurenkind und Schusterjunge
von Niklas Pollmann, und bei Topfpalmen
von Rosa Friedrich, dass eine Welle an jungen Filmemachern voranschreitet,
die sich der Auteur-Betitelung alle Ehre machen wollen. Die Filme ziehen durch
ihre eigene Stimme die Aufmerksamkeit auf sich: Bei Pollmanns Film ist es der
Hang zur poetischen Struktur mit der Bildsprache aus der Nouvelle-Vague. Durch
Guerilla-Stil Momentaufnahmen nimmt uns der Film auf eine parallel-montierte
Reise durch London, bei der zwei unterschiedliche Lebensrealitäten
aufeinanderstoßen. Das Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten wird durch
das Element des kinematografischen Auges zwischen dem Publikum und dem
Regisseur geheim gehalten. Die beiden Figuren bleiben sich jedoch in ihrer
perfekt konstruierten Diegese fremd. Kluges und elegantes Filmemachen.
Doch es ist Topfpalmen von Rosa Friedrich, der einen nach wie vor zum
Nachdenken bringt. Wie kann es sein, dass in Österreich diese junge Regisseurin
nicht schon die ganze Aufmerksamkeit der Filmindustrie auf sich gezogen hat?
Spätestens mit „Topfpalmen“ sollte ihr dies gelingen, denn auf nationaler Ebene
sieht man selten solch einen Hang zum schrillen, kunterbunten, Retro-Look, der
gleichzeitig wie die Faust aufs Auge zur narrativen Evolution des Filmes passt.
Hier wird regelrecht jeder Bildausschnitt zum Platzen gebracht, sei es durch die
knallig, schrullige Mise-en-Scene, oder die Inszenierung der Komparsen, die
sich nach und nach ins Bild schleusen und somit die gesamte Dynamik des Filmes
in einen rigorosen Bann ziehen- es wird bis auf das kleinste Detail geachtet.
Im Mittelpunkt steht die hochschwangere Betty, die die Hochzeit ihrer Tante
besucht. Jedoch entpuppt sich nach und nach, dass es bei dieser wichtigen Nacht
nicht mit rechten Dingen zugeht. Mehr muss man zu Friedrichs Werk auch nicht
wissen, da der Reiz nicht an der dramaturgischen Entwicklung liegt, sondern an
der Experimentierfreudigkeit mit der Textur und Form des Inhalts. Film nicht
als narratives Medium, sondern als Medium der puren Erfahrung, als Erlebnis, wo
die Sinne des Sehens und Hörens bis auf den maximalen Grad beansprucht werden.
Abseits der Kurzfilme sah man
etliche Filme, die sich diese Form des Filmemachens verschrieben. Filme, die
Mut haben neues zu versuchen, nicht dem didaktischen Ton des Narrativen Kinos
verfallen, aber narrativ genug sind um nicht als Experimentalfilm betitelt zu werden.
Filme die vielleicht gerade wegen ihrer komplizierten und unorthodoxen Art
keinen Anschluss finden konnten. Liegt es vielleicht doch mehr an dem Publikum
selbst, den Mut zu haben diese Art von Film zu Begrüßen? Das Publikum muss
offen dafür sein auf Filme einzugehen, die auf einer fast schon spirituellen
Metaebene navigieren. Erst durch Akzeptanz für die Evolution des Films als
eigenständige Kunstform kann man sein Filmverständnis erweitern, und auf neue
künstlerische Perspektiven eingehen.
Eine solche Perspektive auf wie
ein innovativer österreichischer Spielfilm aussehen könnte, gibt uns Frederike
Pezolds Canale Grande. Ein
paradigmatisches Konzept der Post-Modernen Kunstgattung aus den 1980ern,
welches durch eine wertende Position auf die Mediale Wirkungsebenen des
Fernsehens, mit all seinen verschiedenen Facetten, eine kritische, jedoch gleichzeitig
verspielte, surreal filmische Dimension zur Schau stellt. In diesen vergessen Filmjuwel,
wird das Medien-Mammut Fernsehen zum Nahsehen verwandelt. Die Leute sollen gefälligst
aufhören, sich von Öffentlichen oder Privaten Sendern mit „Scheiße“ berieseln
zu lassen, heißt es in Pezolds frechen Statement. Stattdessen wird für ein
individuelles Programmieren plädiert, eines wo jegliche Fernsehfreundliche
Normen aus dem Fenster geworfen werden und stattdessen durch kunterbunter
Ideenvielfalt dekonstruiert werden.
Pezolds Film vermittelt nicht
nur eine bodenständige Sozialkritik, die sich vor allem auf kontemporäre
Medienentwicklungen übertragen lassen, er präsentiert auch eine äußerst ausgeprägte
Low-Budget Ästhetik, die den Freigeist der Inszenierung und der Hauptakteurin komplimentiert.
In der Diegese vermischt sich einerseits die Abstrusität der Wirklichkeit mit der
DIY-Mise-en-Scene Petzolds, die hier viele Details in der Ausstattung selbst
zustande gebracht hat. Diese avantgardistischen Töne könnten für das eine oder
andere Gemüt als „überinszeniert“, „prätentiös“ oder „elitär“ interpretiert
werden, ein Argument, dass man im Zusammenhang mit Art-House Produktionen immer
wieder aufschnappt. Tatsächlich wendet hier Petzold diese bourgeoisen
Konationen mit Witz und Selbstreflektionen um, und verwirklicht dabei eine
einzigartige Seherfahrung, die der Öffentlichkeit für lange Zeit verwehrt
blieb. Wenn Filme wie Canale Grande in
Vergessenheit geraten, keine Plattform zum (Wieder)Sehen gewährt wird, dann
leidet vor allem unser kollektives Gedächtnis darunter, und Festivals wie die
Diagonale leisten einen kunsthistorischen Beitrag, um diese Gedächtnislücken zu
minimieren. Wer am Screening teilnahm, wurde Zeuge einer österreichischen
Kulturlücke. Der einzige Beweis, dass dieser Film existiert, wird ihre Erinnerung
sein, eine Erinnerung, die im Zeitalter des konstanten Flusses des sogenannten „Contents“,
fast schon überflüssig zu sein scheint, und trotzdem in diesem Kontext den allerhöchsten
Stellenwert verdient.
Es gab noch eine weitere
Vorführung während des Festivals, die vielleicht eine ähnliche historische
Bedeutung hatte, vielleicht nicht in der gleichen Dimension wie „Canale
Grande“, jedoch mit einem minderen Effekt auf Körper und Seele. Give Me Liberty zog die gesamte Aufmerksamkeit
auf sich, und versetzte das Publikum in seinen Bann. Die Stille, sobald das Licht
anging, sagte alles, was es zu sagen gab. Nach einer ausführlichen Einführung
durch Alexander Horvath wuchs die Neugier, was dieser unbekannte Film wohl sein
könnte. Was folgte, war eine hypertransfixierende Odyssee durch die Augen eines
jungen Krankenwagenfahrers, dessen Job es ist, Menschen aus dem
Behindertenspektrum von einem Ort zum anderen zu bringen – Stichwort:
Pünktlichkeit.
Give Me Liberty ist ein Film, wie es ihn nur selten gibt. Einer,
bei dem die Filmsprache so formenreich genutzt wird, um eine Vision zu
ermöglichen, die sonst keine andere Kunstform bieten kann. Mikhanovskys Film
besitzt Spuren und die DNA eines Dokumentarfilms, vor allem durch die Besetzung
mit Laiendarsteller, fördert jedoch gleichzeitig eine lebendige, dynamische und
desorientierende Erzählung durch die formale Herangehensweise des Regisseurs.
Die Montage des Films gleicht einem Musikvideo, hier wird nicht aufgrund intellektueller
Kontinuität geschnitten, sondern um eine Emotion zu artikulieren- Gefühle werden
durch die audiovisuelle Erfahrung spürbar gemacht, denn der Film gibt uns keine
Zeit, Handlungen zu hinterfragen, da die Charaktere ständig in Sprinttempo voranschreiten-
Zeit wird relativiert, der springende Punkt ist, dass Mikhanovsky den Zuschauer:innen
keine Luft zum Atmen geben möchte, damit man sich allzeit in der
transzendentalen Energie des Films verliert.
Mit Give Me Liberty, Canale
Grande und den Kurzfilmen aus dem ersten Block, sah man Werke, die zwar
noch keinen öffentlichen Bekanntheitsgrad erreicht haben, aber dennoch in ihrem
relativ kleinen Maßstab Innovation und große visionäre Präzision zeigen
konnten. Aber eine große Frage bleibt immer noch offen: Was können wir als
kollektive Zuschauer:innen tun, um die Existenzen dieser Filme nicht zu
vergessen? Werden diese Werke nach einem Festival wie der Diagonale jemals
wieder das Licht der Welt erblicken, oder werden sie von der großen Wolke des
Vergessens verschlungen? Das Hindernis ist so groß wie eh und je, mit dem goldenen
Zeitalter des Streaming ist die Diagonale eine der Erinnerungen daran, dass
Filme über das Monopol von Hollywood hinausgehen – die Zukunft des Kinos liegt
in den Händen derer, die einzigartige Erfahrungen wollen, die dafür kämpfen
wollen, dass das Kinoerlebnis lebendig bleibt.
Regie: Georg Tiller, Maéva Ranaïvojaona Buch: Georg Tiller, Maéva Ranaïvojaona, Raharimanana
Produzent*innen: Georg Tiller, Thomas Lambert, Maéva Ranaïvojaona Produktion: Subobscura Films Koproduktion: Tomsa Films (FR) Katrafay Films (MG)
Diagonale Schwerpunkt: Wettbewerb Dokumentarfilm
Spurensuche in Madagaskar
Esther Kreiner
Im Rahmen der
Diagonale 2021 wurde der poetische Essayfilm „Zaho Zay“ von Maeva Ranaivojaona und Georg Tiller gezeigt. Die
Regisseurin begab sich für diesen Film auf eine Spurensuche nach ihren eigenen
Wurzeln. Aufgewachsen in Frankreich als Tochter eines Madagassen, beschäftigt
sie sich in diesem Film mit Lebensmöglichkeiten, die sie in Madagaskar erwartet
hätten, wäre sie dort groß geworden. Sie verweist dabei ganz klar auf die
Perspektivlosigkeit der dortigen Gesellschaft, die viele in die Kriminalität treibt.
Madagaskar gilt bis heute als eines der ärmsten Länder der Welt. Das von 1896
bis 1960 von Frankreich kolonialisierte Land erholte sich nur schwer von der
einstigen Unterdrückung und Ausbeutung und kämpft bis heute mit Misswirtschaft
und einer ungeeigneten politischen Vertretung.
Im Zentrum
des Films steht eine junge madagassische Frau, die als Gefängniswärterin arbeitet
und bei jeder Ankunft neuer Häftlinge versucht, ihren kriminellen Vater unter ihnen
ausfindig zu machen. Es handelt sich also um ein Vater-Tochter-Drama mit
starken dokumentarischen Zügen. Per Voice-Over begleitet uns die Stimme der
Tochter, der Erzählerin, den gesamten Film über und spricht in poetischer Weise
zu uns über ihre Vorstellungen, Sehnsüchte und auch ihre Wut auf ihren Vater
und das Land Madagaskar. Geschrieben wurde der gesprochene Text von einem
bekannten madagassischen Poeten, Jean-Luc Raharimanana, der sich selbst mit der
Lebensrealität der Hauptfigur identifizieren kann. Die Vaterfigur – verkörpert
vom Onkel der Regisseurin – wird dabei als wandelnder Mythos inszeniert, der
mit drei über Leben oder Tod entscheidenden Würfeln umherzieht.
Des Weiteren
gewährt der Film authentische Einblicke in das Leben auf Madagaskar. Staunend
bewundern wir madagassische Naturspektakel wie die riesigen Affenbrotbäume
(Baobabbäume) und einen endlosen Wasserfall, der sich durch eine Felsschlucht
zieht. Weitere Eindrücke vermittelt der Film auf dokumentarische Weise in den
Szenen im Bergdorf, bei den Seidenweberinnen oder bei der Katrafay-Öl Gewinnung.
Besonders die Szene der belebten und aufgeweckten Begräbniszeremonie mit Tanz
und Musik lässt einen unsere westlichen, distanzierten Umgangsformen in Frage
stellen.
Der
Hauptschauplatz des Films ist jedoch das Gefängnis, zum Großteil ein madagassisches
Vorzeigegefängnis für Männer, mit kurzem Exkurs in den von Frauen belegten
Teil. Wir beobachten die dortigen routinierten Abläufe wie die Aufzählung der Gefangenen
mit den titelgebenden „Zaho Zay“ („Das bin ich“) Rufen zur Bestätigung ihrer
Anwesenheit. Außerdem werden die Essensausgabe und die primitive Kopfrasur mit
Rasierklinge gezeigt. Es stellt sich die Frage, ob es dort tatsächlich so
friedlich zu geht. Fragwürdig scheint auch der Moment als im Frauentrakt bei
der abendlichen Routine Kinder zu sehen sind. Wo kommen sie her? Wurden sie
dort geboren? Wie wachsen sie dort auf?
„Zaho Zay“ gelingt es durch seinen
persönlichen und intimen Zugang, Madagaskar dem Publikum näher zu bringen und
trotzdem stetig Fragen aufzuwerfen. Es bleibt offen, inwiefern wir Europäer mit
dem Leid der Madagassen in Verbindung stehen.
Regie: David Clay Diaz Buch: David Clay Diaz, Senad Halilbašić
Produzent*innen: Bruno Wagner, Antonin Svoboda, Barbara Albert Produktion: coop99 filmproduktion
Diagonale Schwerpunkt: Wettbewerb Spielfilm
Ein Wurf ins kalte Wasser
Alexander Brandl
Der Film Me, We des ursprünglich in Paraguay geborenen Regisseurs
David Clay Diaz, feierte seine Premiere bei der Diagonale 2021 in Graz und ist
nach dem Drama Agonie, welcher
2016 erschien, der zweite Spielfilm von Diaz. Der Filmtitel leitet sich von dem
selbsternannten kürzesten Gedicht der Welt von dem Boxer Muhammad Ali ab.
Gemeint ist damit, nicht egozentrisch zu denken, sondern vielmehr als Gemeinschaft
zu agieren. Dieser Grundgedanke des Miteinanders, des einander Helfens, wird in
Diazs Film in Frage gestellt.
In Me, We lässt
der Regisseur diesmal sein Publikum episodenartig an vier verschiedenen
Perspektiven teilhaben, welche allesamt im Bezug zum Thema der Migration
stehen. Die erste Person die wir im Film kennenlernen ist Marie, gespielt von
der Österreicherin Verena Altenberger, welche sich nach Lesbos begibt um dort ankommenden
Flüchtlingsbooten Hilfe zu leisten. Die zweite Geschichte handelt von dem
Jugendlichen Marcel (Alexander Srtschin), welcher ebenfalls einen starken Helferinstinkt besitzt, sein
Umfeld aber auf Grund von zunehmender Zuwanderung als gefährdet sieht. Der
dritte Handlungsstrang erzählt von der in der Filmbranche tätigen Petra
(Barbara Romaner), welche einen syrischen Flüchtling bei sich aufnimmt. Die letzte
Episode beschäftigt sich mit Gerald (Lukas Miko), welcher in einem Asylheim arbeitet
und mit einem Bewohner in mehrere Konflikte gerät.
Was alle Charaktere
miteinander verbindet ist die Tendenz zum Helfersyndrom. Dieser Rettungszwang
ist gleichzeitig der Stolperstein der Figuren, welcher sich bei manchen auch in
Form von Egoismus ausdrückt. Petra nutzt so den vermeintlich syrischen und
minderjährigen Flüchtling Mohammed (Mehdi Meskar) aus, um damit vor ihren Tanzkollegen zu prahlen,
was für ein Gutmensch sie sei. Macht und Autoritätsausübung zeigt sich
ebenfalls bei der Geschichte von Gerald, welcher seine Position gegenüber den
Asylanten verdeutlicht und diese auch durch zunehmende Hilflosigkeit ausnutzt.
Der Film präsentiert gegensätzliche Strömungen, welche den Zuschauer, zwischen
Gelächter und tiefgründigen Gedanken in der Luft hängen lässt. Dabei verzichtet
er auf Wertungen gegenüber den Charakteren, sondern gibt seinem Publikum die
Möglichkeit selbst zu entscheiden. Der Film unternimmt indessen eine Gratwanderung
zwischen Komödie, Satire und Drama, verknüpft mit dokumentarischen Inhalten aus
Fernsehberichten bezüglich der Flüchtlingsthematik
Alexander Brandl und der Fußball EM. Diese Mischung aus schwarzem
Humor mit Sozialkritik wird in vielen Szenen erfahrbar, so kommt Mohammeds
Taufe in der Donau dem Ertrinken gleich, im Museum wird der Künstler Egon
Schiele als Perverser abgestempelt und Marie, welche Flüchtlingen helfen will,
muss schlussendlich selbst gerettet werden. Diese Ambivalenz zieht sich
fortwährend durch den gesamten Film.
In puncto Musikinszenierung, wird größtenteils auf
außerdiegetische Musik verzichtet und stattdessen auf dem Filmuniversum
immanente Töne gesetzt. Das Vater Unser wird somit innerhalb der filmischen
Diegese gesungen und begleitet dabei den Taufprozess. Einprägend ist auch eine
Szene, welche mit der Carmina Burana von Carl Orff musikalisch untermalt wird.
Anfangs noch von Marcels Handy abgespielt, wird sie schrittweise immer lauter,
wodurch ein bedrohliches Gefühl des bevorstehenden Scheiterns der Figuren
evoziert wird und hierbei den Blick auf das Ausschwärmen der Schutzengel AG,
sowie die Rettungsfahrt von Marie wirft. Aus dem schauspielerischen Blickwinkel
betrachtet, leisten die Darsteller eine großartige Performance. Die Charakter
wirken wie aus dem Alltag gegriffen und zeigen Seiten der Sympathie, aber auch
der Antipathie. Zwar entsprechen die Protagonisten anfänglich stereotypen
Mustern, diese werden jedoch im Laufe des Films nach und nach aufgelöst und
eine Charakterentwicklung ist deutlich wahrnehmbar, welche auch auf die
Leistungen der Schauspieler zurückzuführen ist.
Prägend ist auch das Ende
des Films, welches durch den Schleier eines EM-Fußball Moderators, das
Flüchtlingsthema erneut aufreißt und dies dem Publikum nochmals vor Augen hält.
„Viele Menschen versuchen so schnell wie möglich durch die Sicherheitskontrollen
in das Stadion zu kommen.“ Der Film lässt den Zuschauer aber nicht in einem
komplett dystopischen Zustand in den Kinosesseln sitzen, er hinterlässt auch
einen zukünftigen Hoffnungsschimmer, eine „Wall of Hope“.