Canale Grande

AT 1983
Farbe, 88 min. OmeU

Regie: Friederike Pezold

Produzent*innen: Friederike Pezold

Diagonale Schwerpunkt: Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung

„Ich liebe sie, Frau Fantasie“ und wir lieben sie, Frau Pezold

Natalie Pruckner

Mit ihrem filmischen Kunstwerk Canale Grande erschafft Friederike Pezold eine Gegenwelt zu jener, mit der sie nicht mitziehen möchte. Unter dem Namen RFU (Radio Freies Utopia) gestaltet sie ein alternatives Fernsehformat für „Freunde, Bekannte und Unbekannte“. Dieses thematisiert sie in ihrem 1983 erschienenen Film, der sich ironischerweise wahrscheinlich ebenfalls an „Freunde, Bekannte und Unbekannte“ richtet. In diesem nimmt sie Zuschauer*innen mit auf eine originell-amüsante und ständig aufs Neue überraschende Reise durch Fantasiewelten.

Der Film, in dem Pezold selbst als charmante und progressive Protagonistin glänzt, startet in einer Wohnung. Die Hauptdarstellerin wird dabei alternierend mit der Aussicht aus dem Fenster beziehungsweise Fernsehbildschirm geschnitten. Zunächst lässt sich der Zusammenhang nicht herauslesen und es macht sich eine Spannung breit, welchen Weg der hochgelobte Film einschlägt. Die Protagonistin übermalt sowohl ihre Fensterscheibe als auch den Monitor mit schwarzer Farbe. An dieser Stelle fällt, ohne weitere sprachliche Hinweise auf – sie sieht schwarz. Eine großartige Visualisierung der bekannten Metapher, die direkt auf die kritische Orientierung des Films schließen lässt.

Fern von Fernseher und Fenster macht sie sich auf die Suche nach einer eigenen Kamera und eigenem Equipment. Dabei lässt sie keine Absurditäten aus. Als einfache Bürgerin, der die Utensilien mehr Nutzen bringen würde, stattet sie mit ihrer verrückt-humoristischen Art den Wiener Linien, Videotheken und sogar der Polizei einen Besuch ab. Mit ernstem Ton und kindlichen Fragestellungen schafft es Pezold ihre Gegenüber aus der Fassung zu bringen und das Publikum zum Nachdenken zu animieren. Sie spielt auf subtile und kritische Weise die ungerechte Umverteilung an. Wieso sollten die Wiener U-Bahnen zwanzig Monitore haben, während sie selbst keinen hat? Wenn hier alle überwacht werden, wieso sollte ihr das nicht auch ermöglicht werden?

Unter dem Motto „Überwacht alle, die euch überwachen“ startet sie sowohl ihren eigenen Fernsehsender als auch Denkanstöße im Publikum. Als Revolutionärin will sie sich nicht in die vorhandene Medienwelt eingliedern und bezeichnet ihren Kanal als einen Nahsehsender, eine „Gegenwelt, die nicht da ist, solange man sie nicht selber macht“. Mit ihrer innovativen Erfindung zeigt sie Fluchtversuche aus der Realität und Entwürfe verschiedener Utopien. Getrieben von Imaginationskraft en Masse verwandelt Pezold ihre Wohnung dafür in jeden erdenklichen Ort. Für eine Reise in den Süden finden sich Luftmatratzen, Sonnencreme, Schirme und alles, was zu einem Meerurlaub dazugehört, bei ihr zuhause. So zeigt sie auch einen Kreissaal, Italien, ein Restaurant und viele weitere Orte. Ein Leben ohne Grenzen, eine vielgelebte Traumvorstellung, die Pezold in Canale Grande Wirklichkeit werden lässt.

Obwohl der Film schon fast 20 Jahre zurückdatiert, sind ihre Kritikpunkte nicht aus der Mode gekommen. Pezold fokussiert vor allem vorherrschende Geschlechterrollen. Zumeist schafft sie es mit naiven Fragestellungen à la „Wieso muss das so sein, das verstehe ich nicht“, dem Vorhandenen und Etablierten einen Schleier der Skepsis überzustülpen. Um ihren Ausführungen folgen zu können bedarf es keiner jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Thema. Was sie anspricht und kritisiert, ist vorwiegend das Offensichtliche, mit dem sich die Welt bereits abgefunden hat. Sie kritisiert es, ohne anstößig zu werden, auf eine Art und Weise, die kunstvoll und einzigartig ist. Häufig sind lange Einstellungen zu sehen, in denen zunächst nichts passiert. Sie werden mit einer Komik aufgeladen, die rational eigentlich nicht zu erklären ist. Das humoristische Potential des Films wirkt beinahe ungewollt. Zusätzlich ermöglicht Pezold hiermit ein kognitives Erfassen der Situation. In einer Gesellschaft, die von Reizüberflutung geprägt ist, wirken statische, ruhige Einstellungen zunächst fehlplatziert und skurril. Die Regisseurin hat die Herzen der Zuseher*innen mit ihrer beinahe kindlichen Ehrlichkeit allerdings schon längst für sich beansprucht und jeder weitere Frame wird mit Freude angenommen.

Die Assoziation zum Schwarzsehen wird im Verlauf des Films glücklicherweise erneut aufgegriffen. Pezold lädt all jene dazu ein, bei ihrem Sender zu partizipieren, „die rotsehen“. Ein spannendes Wiederaufgreifen, das vor allem die Fluchtmöglichkeit aus der anfänglich angedeuteten depressiven Verstimmung bezüglich des Weltgeschehens verdeutlicht. RFU ermöglicht der Protagonistin das Erreichen der nächsten Etappe – eine Etappe, in der sie statt Schwarz- Rotsieht.

Abschließend imponiert Canale Grande mit seiner Schlussszene. Pezold, als rotsehende Protagonistin findet sich mit ihrem treuen Hund und Nahsehkanal auf der Spitze eines schneebedeckten Berges. Nostalgisch, aber zufrieden blickt sie aus der Bildmitte auf die Berge. Ihre weiße Umgebung lässt sie farbenfroh im Zentrum des Bildes strahlen. Nicht nur aufgrund der großartigen Anordnung wirft die Einstellung Parallelen zur berühmten Rückenfigur der Romantik auf, sondern sie fungiert zusätzlich als Identifikationsmöglichkeit der Zusehenden mit Pezold selbst, sowie ihrer kritischen Haltung und Sehnsucht nach einer besseren Zukunft. Die Einstellung scheint die längste im ganzen Film gewesen zu sein und doch ist sie jede Sekunde wert. Sie als gekonnten Abschluss zu bezeichnen wäre untertrieben, denn sie schließt den Film nicht ab, sondern verleitet dazu, den Film weiterzudenken.