Frankfurt Kaiserstraße

BRD 1981, Farbe, 87 min., OmeU

Regie: Roger Fritz
Buch: Georg Ensor
Produzent*innen: Fred Zenker, Lisa Film

Die Unteren halten zusammen 

Victor Strauch

In einem Doppelpack zeigt die diesjährige Diagonale die Filme Prince of Peace und  Frankfurt Kaiserstraße. Letzterer bietet deutsches Achtziger-Jahre Actionkino mit  Coming of Age Elementen und einer sozialkritischen Note, die heute vielleicht  aktueller ist als damals. Eine Entdeckung. 

“Scheiß Freiheit!” ruft der Vater seiner Tochter Susanne als letztes hinterher, als diese sich in die  Großstadt aufmacht um der kleinbürgerlichen Enge auf dem Land zu entfliehen. Für ihren Drang  nach Freiheit hat er ebenso wenig Verständnis wie für ihre Beziehung mit Rolf. Wie könnte er auch?  Als Patriarch mit Haus und Geschäft hat er es sich im heimatlichen Dorfleben, mit allen  dazugehörigen Zwängen gut eingerichtet. Den Wunsch seiner Tochter nach Freiheit zu verstehen  hieße sein eigenes Dasein unter diesen Zwängen zu hinterfragen. Die wenigen Szenen in denen wir  ihn am Anfang des Films erleben, hinterlassen einen bleibenden Eindruck, doch gerade deshalb tut  der Film gut daran, seinen Charakter im weiteren Verlauf links liegen zu lassen. Denn Frankfurt  Kaiserstraße ist in erster Linie ein Film über die Großstadt, ihre Verführungen, Gefahren und die  Möglichkeiten, die sich dort bieten. Ein Film über wahlweise den Duft oder den Gestank der  Metropole. Hat man diesen einmal gerochen, will der Film uns sagen, gibt es kein Zurück mehr. Das  Landleben ist von nun an passé. 

Der 1981 von der traditionsreichen Produktionsgesellschaft Lisa-Film gedrehte Streifen wendet sich  mit seinen exploitativen Momenten von den klassischen Erzählmustern ab, die noch in den 60er und  70er Jahren bei der von Paul Löwinger gegründeten Filmgesellschaft üblich waren. Die Suche nach  einem Leben in der Großstadt, frei von familiärer und gesellschaftlicher Unterdrückung, ist das  bestimmende Thema des Films. Mit der schwungvollen Musik und der Freizügigkeit der 70er Jahre  präsentiert uns Regisseur Roger Fritz hier einen Lobgesang auf die naive Suche nach Selbsterfüllung  und Selbstverwirklichung in einer Welt, die auf der einen Seite von roher Gewalt und Kriminalität,  auf der anderen von gesellschaftlichen Zwängen geprägt ist. Und die Zwänge sind groß: Susanne  (Michaela Karger) sieht sich nach ihrem Schulabschluss gefangen zwischen ihrem autoritären Vater  mit seiner neuen Frau und der Kleingeistigkeit auf dem Land. Susannes Freund Rolf (Dave Balko)  hingegen muss seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr leisten und wird in die Kaserne in Frankfurt  einberufen. Um während dieser Zeit bei ihm sein zu können zieht Susanne zu ihrem schwulen Onkel  Ossi (Kurt Raab), der auf der Frankfurter Kaiserstraße einen Blumenladen betreibt. Auf dieser  sündigen Meile, die den Hauptbahnhof mit dem Stadtzentrum verbindet tummeln sich die wildesten  Gestalten angeführt vom Wiener Zuhälter Johnny Klewer (Hanno Pöschl). Er liegt im Clinch mit dem  Nachtclubbesitzer Aldo (Michael Lewy), mit dem er sich gleich zu Beginn des Films ein Scharmützel  liefert. Die Fehde zwischen den beiden Unterwelt-Bossen wird später im Film noch wichtig werden.  Susanne jedoch scheint fürs erste glücklich in ihrem neuen Zuhause bei ihrem Onkel, doch sehr  schnell wird sie auch die Schattenseiten der neu gewonnenen Freiheit kennenlernen. 

Regisseur Roger Fritz legt den Fokus eindeutig auf die Charaktere des Films. Neben Susanne und Rolf  entfaltet sich ein ganzes Panorama an Figuren, von denen uns nicht wenige im Verlauf des Films ans  Herz wachsen. Da ist einmal der schon erwähnte Onkel Ossi, der sich vorzugsweise als Frau  verkleidet. Mit einer angemessenen Portion Humor aber niemals lächerlich, verkörpert der an  Fassbinder geschulte Kurt Raab den schwulen Blumenladenbesitzer. Sein Geschäft, das er  gemeinsam mit seinem amerikanischen Freund Tonino (gespielt vom späteren Star-Choreografen  Gene Reed) betreibt, bildet eine wahre Oase der Unschuld inmitten der Bars und Nachtclubs auf der  Kaiserstraße. Anders als Susannes Vater scheint Ossi am Glück seiner Nichte ein echtes Interesse zu 

haben und versorgt sie entsprechend auch gleich mit einem Job als Blumenmädchen. Als sie  während einem grandiosen Chanson-Auftritt ihres Onkels von einigen Männern belästigt wird, stürzt  er sich unverdrossen von der Bühne in die Menge um für seine Nichte einzutreten. Diese Momente  verleihen seiner Figur eine Würde, die sonst nur Wenige im Film besitzen, und das obwohl es ob  seiner tuntigen Possierlichkeit ein Leichtes gewesen wäre die Figur der Lächerlichkeit preiszugeben.  Ebenso glänzt Ute Zielinski als kecke Barkeeperin in Aldos Nachtclub. Sie kellnert zufällig auch in der  Kantine der Kaserne, in der Rolf untergebracht ist, wo sie ihm schöne Augen macht. Mit ihrer  abgeklärten Art und ihrem Motorrad sorgt sie für ein paar denkwürdige Auftritte. Das absolute  Highlight des Films ist allerdings Hanno Pöschl in der Paraderolle des Zuhälters Johnny Klewer. Mit  seiner wienerischen Art zu sprechen und seinem Schmäh hebt er sich besonders von den anderen  Figuren ab. Hanno Pöschl vermag es der Figur eine Bedrohlichkeit zu verleihen, die beängstigend  und faszinierend zugleich ist. Gleich zu Beginn wird klar, dass mit diesem Zeitgenossen nicht zu  spaßen ist, wenn ein von ihm geplanter Anschlag auf Aldos Club nur knapp sein Ziel verfehlt.  Gegenüber seinen Feinden aber auch gegenüber seinen Prostituierten kennt er keine Skrupel. Das  wird besonders deutlich, wenn er einer von ihnen in einer Szene mit einem Stück Würfelzucker ins  Gesicht schneidet. Während des gesamten Films gehen von ihm nur Gewalt und Intrigen aus. Damit  bildet er mit seinen Schergen auch den Gegenpol zu Ossi und seinem Blumenladen. Durch einen  Zufall kommt Susanne in Berührung mit Johnny. Der wittert sofort das große Geld als er ihre  Schönheit und Naivität bemerkt und plant daraufhin, sie zur teuersten Edelnutte von Frankfurt zu  machen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis der Figuren. Es sind diese Begegnungsmomente der  Charaktere untereinander die, auch wenn sie manchmal etwas konstruiert daherkommen, dem Film  seinen Charme verleihen. Denn hier werden grobe Gegensätze einander gegenübergestellt und die  verschiedenen Gestalten innerhalb einer Großstadt zueinander in Beziehung gesetzt. Freilich fehlt es  der Story an Originalität, der Film driftet gottseidank aber nie ins Kitschige ab, sondern bleibt seinen  Figuren treu, die zwar manchmal wie Schablonen wirken, damit aber auch als Repräsentanten ihrer  sozialen Gruppe gesehen werden können. Interessanterweise verzichtet der Film bei einer ganz  bestimmten Gruppe völlig auf eine Charakterisierung. Denn man fragt sich bisweilen wer in dieser  Stadt eigentlich wirklich das sagen hat und der Film gibt darauf eine klare Antwort. Johnny Klewer,  soviel Macht er auch über andere besitzt, hat selbst jemanden über sich und zwar im Wahrsten  Sinne. In den höchsten Stockwerken der Wolkenkratzer Frankfurts treffen und feiern sich mächtige  Geschäftsleute, die nicht nur über sein Schicksal entscheiden ohne sich dabei je selbst die Hände  schmutzig zu machen. Der Film veranschaulicht den krassen Gegensatz zwischen den Oberen und  den Unteren indem die Oberen ausschließlich als gesichtslose Anzugträger in Erscheinung treten.  Von einer breiten Charakterisierung, wie wir es bei den “Unteren” zu tun haben kann keine Rede  sein. Damit zeigt der Film: Es handelt sich bei ihnen nicht um Charaktere, sondern nur um  Funktionsträger und in ihrer Funktion sind sie ebenso ersetzbar wie Johnny Klewer. Es gibt demnach  keinen Bösewicht an der Spitze den es zu beseitigen gilt und dann ist alles gut. Wir haben es  vielmehr mit einem System zu tun, das es Figuren wie Klewer erst ermöglicht andere auszubeuten  und sich selbst zu bereichern. Diese leise Kapitalismuskritik ist nicht von der Hand zu weisen auch  wenn der Film auf persönlicher Ebene für einen radikalen Individualismus plädiert. Ein Stück weit  wird dadurch das unvermeidliche Happy End relativiert.  

An dieser Stelle können wir uns fragen welche gesellschaftlichen Bedürfnisse aber auch welche  ideologischen Dogmen mit einer Propagierung des Narrativs von der Selbstverwirklichung in der  Großstadt frei von bürgerlichen Moralvorstellungen bedient werden? Anfang der 80er Jahre, als der  Film erschien, gab es vonseiten der Proponenten der Finanzialisierung der Wirtschaft und der  Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ein Interesse an einer kulturell-ideologischen Wende weg von  der Vorstellung einer Solidargemeinschaft hin zu einer Gesellschaft, die nur noch Individuen kennt, 

frei nach dem berühmten Satz von Margaret Thatcher: “There is no society”. Diese Vorstellung passt  natürlich sehr gut zusammen mit der zunehmenden Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen  und den zahlreichen Befreiungsbewegungen, die wir seit den 70er Jahren erleben. So ist es auch kein  Wunder, dass wir es seit dieser Zeit auch im Kino mit einer Verschiebung zu tun haben, wo vermehrt  Einzelschicksale und vor allem das Innenleben der Figuren im Sinne einer Psychologisierung der  Charaktere, sowie deren Durchsetzungsvermögen gegen widrigste gesellschaftliche Umstände aus  eigener Kraft thematisiert werden. Die Ausblendung der ökonomischen Verhältnisse, die damit oft  einhergeht stellt Machtstrukturen nicht infrage, sondern erklärt im Gegenteil die herrschenden  Verhältnisse für unantastbar. Frankfurt Kaiserstraße unterläuft diese Verknüpfung von individueller  Freiheit und den Ansprüchen einer Ellenbogengesellschaft auf zwar nicht unbedingt subtile aber  nichtsdestotrotz kluge Art und Weise, indem anhand von Susannes Geschichte gezeigt wird, dass die  persönliche Freiheit um den Preis der Existenz von Sünde und Ausbeutung erkauft wird. Und auch  wenn sich die Figuren untereinander nicht immer riechen können, demonstriert der Film auf  berührende Weise den Zusammenhalt der kleinen Leute, wenn es darauf ankommt. 

Frankfurt Kaiserstraße gelingt es mit Allgemeinplätzen von einer Wirklichkeit zu erzählen, in der die  Figuren aber auch das damalige Publikum noch nicht so richtig angekommen zu sein scheinen. Ohne  nachzudenken stürzen sie sich ins Blaue und das macht die Figuren so sympathisch. Der Film erhebt  

sich nicht über sie, sondern steht auf ihrer Seite, auf der Seite der Freiheitssuchenden und der  Naivlinge. Ein wilder Trip durch das Leben der Großstadt und eine echte Entdeckung.