Hotel

AT/DE 2004
Farbe, 74 min., dOF

Regie, Buch: Jessica Hausner

Produzent*innen: Antonin Svoboda, Martin Gschlacht, Philippe Bober, Susanne Marian
Produktion: coop99 filmproduktion
Koproduktion: Essential Filmproduktion (DE)

Diagonale Schwerpunkt: Jessica Hausner

Ein Horror ohne Ende

Manon-Margaux Haller

Das beklemmende Gefühl, das Hausner durch anschauliche Ästhetik, Horrorfilm Verweise und genretypische Stilmittel transportiert, lässt einen auch nach Ende des Films nicht los. Denn Hotel liefert keine Katharsis, die Erlösung bietet. 

Hotel ist ein 74-minütiger Thriller mit Horror-Elementen, von der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner. Er wurde 2004 bei den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt. Der Plot ist kurz erklärt: Die Hauptfigur, von der man den ganzen Film über kaum Persönliches erfährt, tritt ihre Stelle als Rezeptionistin eines angesehenen Berghotels an. Vergeblich versucht sie ihren Platz in der sozialen Ordnung der Hotelhierarchie zu finden. Doch trotz ihres unsicheren Auftretens scheint sie einen eigenen Willen zu haben, der bei der alteingesessenen Belegschaft nicht so gut ankommt. Langsam bemerkt sie eine Diskrepanz, aber dennoch verneint sie, ganz horrorfilm-typisch, ihre Intuition. Obwohl sie einen Zusammenhang zwischen dem eigentümlichen Verschwinden ihrer Vorgängerin und ihrer eigenen Lage erahnt… So verstrickt sie sich Stück für Stück in eine Geschichte, aus der sie nicht mehr herauskommt. 

Von Anfang an beherrscht den Film eine beklemmende Stimmung. Dies wird nicht zuletzt durch gehäuften Nahbildaufnahmen, schwere geschlossene Vorhänge in so gut wie jedem Zimmer, lange Korridore, die in Dunkelheit enden sowie einer Tonkulisse, die vorrangig auf Ambience-Sound fokussiert ist, vermittelt. Genauso wie die subtile Tonkulisse durch ihre wiederkehrenden Alltagsgeräusche allgegenwärtige Stille und Abgeschiedenheit in den Mittelpunkt rückt, zeugen die einsilbigen Dialoge von Distanz und Unverständnis. Unverständnis einer Gesellschaft die nach ihren eigenen, unausgesprochenen Regeln fungiert. So weiß man bis zuletzt nicht, ob die verschwundene Vorgängerin der sagenumwobenen Waldhexe oder einem Komplott zum Opfer gefallen ist. Man merkt jedoch, dass Fragen unerwünscht sind. Birgit Minichmayr besticht hier als eifersüchtige, ausschweifende Arbeitskollegin, die bei einem Polizeibesuch anmerkt „Jetzt haben sie sie.“, und auf die Frage „Die Leiche?“ lediglich stumm mit den Schultern zuckt. 

Durch die Kameraeinstellungen wird dieses Gefühl der Ungewissheit im Rezipienten noch verstärkt. Hausner verwendet in Hotel vorrangig Nah- und Detailbildaufnahmen sowie Halbtotalen. Damit wird das Gefühl des Raumes untergraben und somit eine unangenehme Stimmung ausgelöst. So wie die Protagonistin weiß man als Zuseher*in nicht was sich hinter den Vorhängen, am Ende der nicht beleuchteten Gänge oder zwischen dem Dickicht der Bäume verbirgt. Oder auch direkt neben den Figuren, da wo der Filmausschnitt endet und der Raum noch lange weitergehen muss. Wie sie, wissen wir nicht so recht was im Hotel nicht stimmt, aber wir schnappen die eigenartigen Blicke und die ungemütliche Stille auf. Eingefangen von der Kamera und zwischen knappen, einzeiligen Dialogen, die so wirken als wären sie nur dazu da, um die Distanziertheit und die Leere sichtbar zu machen. Eine Leere, so wie die Hauptfigur eine bloße Leerstelle ist. Hier muss man Franziska Weisz als Hauptdarstellerin für diese ungewöhnliche Schauspielarbeit loben. Den ganzen Film über bleibt die Figur für die Zuseher*innen nicht zu fassen, denn eine Wärme oder eine psychologische Disposition fehlt. Die Distanz bleibt also nicht nur zwischen den einzelnen Figuren, sondern auch zwischen Publikum und Figuren sowie nicht zuletzt zwischen Publikum und Film. Denn ohne Identifikationsfigur ist es einem auch nicht möglich sich in die diegetische Welt des Films hineinzuversetzen. 

Zusätzlich ist zu beachten, dass Hotel aufgrund dieser einzigartigen Distanziertheit ein Film ist, der auf das Kinodispositiv angewiesen ist. Zuhause im eignen Wohnzimmer wäre es durch eben diese Befremdlichkeit schwierig die Aufmerksamkeit zu halten, und nicht doch auf einen anderen Sender zu wechseln. 

Anzumerken ist zudem Hausners Talent eigenartige Situationen sichtbar zu machen, und das ganz ohne Worte. Indem sie sich auf Kameraeinstellungen wie Tiefenschärfe sowie präzises Schauspiel fokussiert. Dies macht den Film ebenso aus, wie die imposanten, stilisierten Bilder sowie die unzähligen Horrorfilmverweise. Hervorzuheben sind hier: Stanley Kubricks Shinning mit indirekter Beleuchtung, Hotelthema und der verschwundenen Vorgängerin; Psycho mitsamt der bekannten Duschszene; Blair Witch Project, auf das die „Waldfrau“ sowie die häufigen Waldaufnehmen, mit kargen, die Protagonistin umzingelnden Bäume, erinnern; und The Ring mit dem charakteristischen weißen Nachtkleid sowie der sich wiederholenden albtraumhaften Szenen. 

Diese Verweise schaffen, eingebettet in das kollektive Gedächtnis, eine Erwartungshaltung im Publikum, die bei Hotel kaum erfüllt wird. Zwar löst sich das Unbehagen am Ende des Films nicht auf, da keine prägnanten Szenen gezeigt werden. Aber dennoch handelt es sich bei Hotel um einen weiteren (Horror-)Film, der eine fantasielose Storyline wiedergibt. Und dennoch wird die Geschichte einer jungen religiösen Frau erzählt, die kurz nach sexueller Bekanntschaft und wiederholtem Missachten ihrer Intuition auf gewaltsame Weise ihr Leben verliert. 

Hier ist jedoch festzuhalten, dass die erwähnten Verweise und die genretypische Erzählstruktur stilisierte Eibettungen sind, um die Erwartungshaltung des Publikums zu schüren. Doch der Fakt, dass die Katharsis am Ende nicht auflöst wird; dass die Hauptfigur eine nicht zu fassende Leerstelle ohne Psyche ist; dadurch, dass Hausner dennoch mit bestimmten Techniken des Horrorfilm-Ein-Mal-Eins, wie der Zurschaustellung expliziter Sexualität und brutaler Gewalt bricht; ist ein klarer Hinweis auf die Metastruktur die Hausner mit Hotel ansprechen möchte. Sie stellt dadurch den Aufbau des klassischen Horrorfilms in Frage und damit auch die Rolle der Weiblichkeit. Eine feministische Genrekritik also. 

Wobei jedoch fraglich bleibt, ob diese implizite Kritik die Reproduktion antifeministischer Narrative rechtfertig. Man könnte argumentieren, dass die Thematik von einer weiblichen Regisseurin im Jahr 2004 innovativer hätte gelöst werden können, als nur die Katharsis zu verweigern. Dennoch muss man Hausners Kreativität herausstreichen, die durchaus origineller ist, als lediglich das Opfer zum Täter zu machen. Wenngleich diese Variante einen nicht zu verachtenden Machtzugewinn, auf gesellschaftlicher Ebene bedeuten würde. Ein vehementes Ablehnen der weiblichen Opferrolle, dessen soziologischer  Wert nicht zu unterschätzen ist. 

Die Auflösung in weniger binäre Geschlechterrollen, die ebenfalls von soziopolitischer Bedeutung wäre, ist logischerweise erst möglich, wenn nicht die gesamte Storyline auf  Dichotomien wie Gut/Böse, Weiblich/Männlich, Religion/Teufel bzw. Hexe oder Jungfräulichkeit/Sexualität beruhen. 

Abschließend ist zu sagen, dass Hotel auf ästhetischer und stilistischer Ebene für sich spricht und hier durchaus internationale Anerkennung bekam. Kameraführung und schauspielerische Leistung sind ebenfalls hervorzuheben. Eine Empfehlung an ein Publikum lässt sich jedoch genauso wenig aussprechen, wie sich der Film fassen lässt. Horror- und Psychothriller-Fans werden aufgrund der Auslassung von prägnanten Szenen vermutlich nicht erfreut sein. Die Identifizierung mit einer der Figuren ist ebenso wenig möglich, wie die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen. Hier bleibt der Film jedoch seiner Linie treu. Schreibt er doch mit der Weigerung einer auflösenden Katharsis das beklemmende Gefühl, das einen den gesamten Film über begleitet, ins reale Leben ein.

Frankfurt Kaiserstraße

BRD 1981
Farbe, 87 min., OmeU

Regie: Roger Fritz
Buch: Georg Ensor

Produzent*innen: Fred Zenker

Diagonale Schwerpunkt: Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung

Ist die Medaille der Stadt auch auf der Kehrseite gold?

Anke Gross

„Was sollen denn die anderen denken?“ ist ein Satz, den Susanne in ihrem Heimatdorf oft zu hören bekommt. Ihren Vater, Besitzer einer Fleischhauerei, interessiert es herzlich wenig, dass die 17-jährige ein selbstbestimmtes Leben führen möchte. Daher flieht sie in die nahegelegene Großstadt Frankfurt am Main, um das öde, stehengebliebene Dorfleben hinter sich lassen zu können. In ihrer neu gewonnenen Freiheit zieht sie zu ihrem Onkel Ossi ins Rotlichtviertel, wo sie allerlei Höhen und Tiefen erlebt: die Untreue ihres Freundes, das aufregende Nachtleben in den Discos, oder die gefährlichen Spiele des Zuhälters Johnny.

Dass Großstadt nicht gleich endlose Freiheit, Glück und Sorglosigkeit bedeutet, wird im Film Frankfurt Kaiserstraße, von Roger Fritz aus 1981, eindeutig sichtbar. Der Film erweckt den Eindruck, dass für diese Unabhängigkeit auch ein Preis gezahlt werden muss. Er legt kein eindeutiges Urteil nahe, doch diese allgemeine Ambivalenz, so wie es im Film dargestellt ist, wäre in der Provinz niemals anzutreffen. Ob das gut oder schlecht ist, müssen die Zuschauer*innen selbst entscheiden.

Die Atmosphäre des Films ist relativ heiter. Hier und da redet eine Person stark hessisch, wodurch die Handlung etwas an Seriosität verliert. Auch ist die Tonspur teilweise neu synchronisiert worden, sodass der Film samt den teilweise monoton vorgetragenen Textzeilen der Schauspieler*innen eine lockere, gar witzige Seherfahrung bereitet.

Nackte Körper und Sexualität spielen in Fritz‘ Werk ebenfalls eine große Rolle. So fängt der Film diese Stimmung des Rotlichtviertels mit seiner Prostitution und seinen Bordells gut ein. Wie wahrheitsgetreu der Film die dortige Stimmung der 1980er Jahre einfängt, kann heute schwer erahnt werden – doch trägt die eventuell übertriebene Darstellung der zwielichtigen Geschehnisse dazu bei, dass Frankfurt Kaiserstraße nie langweilig wird.

Heutzutage ist das Gefühl, neues kennen lernen zu wollen vielleicht präsenter denn je. Nach dem Schulabschluss reisen viele Jugendliche erst einmal ins Ausland, je weiter desto besser, um aus dem altbekannten Alltagstrott des Dorfes oder der Kleinstadt entkommen zu können. Auch zum Studieren, Fortbilden oder Arbeit suchen wird oft in eine große Stadt gezogen. Was reizt junge Generationen für Generationen am oftmals chaotischen, stressigen, reizüberfüllten Leben der Stadt? Vielleicht gerade dieser Kontrast – von einer Flut an besseren und schlechteren Möglichkeiten bis hin zu einem Spektrum an seltsam interessanten Menschen mit unterschiedlichsten Lebensformen. Im Film rutscht die Hauptfigur Susanne durch ihren schwulen Onkel als Kontaktperson von Beginn an in eine bestimmte Umgebung rein. Dies prägt ihren gesamten Aufenthalt. Ähnlich verläuft es auch häufig im wahren Leben, denn alles steht und fällt mit den Personen, die man um sich hat. Wenn auch in einer übertriebenen Art und Weise, fängt Frankfurt Kaiserstraße diese Suche nach neuen Erfahrungen, die oft in jungen Menschen brodelt, gut ein.

Von einem filmfeministischen Standpunkt aus betrachtet, präsentiert sich der Film ambivalent. Die gesellschaftlichen Konventionen der 1980er waren noch sehr patriarchal, heutzutage trifft man glücklicherweise auf Verschiebungen in vielen Bereichen. Im Film gibt zwei zentrale Frauenfiguren, alles andere sind Männer. Die restlichen Frauen sind vor allem Prostituierte und anderweitig unterdrückte Personen, wie Johnnys Sekretärin, die letztendlich von genau diesem umgebracht wird. Doch Susanne und Kris, eine Barfrau die gleichzeitig in der Kaserne als Kantinenaushilfe arbeitet, lassen sich nicht alles sagen. Auch wenn sie unter anderem durch die Kamera oftmals sexuell objektiviert werden, scheinen sie doch eine selbstbestimmte Art zu haben, durch die sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, egal was die Männer um sie herum behaupten mögen.

Des Weiteren behandelt der Film Sexualität vergleichsweise fortschrittlich. Zwar gehen Ossi und sein Freund im versteckten unter eine Brücke, um nach intimen Begegnungen mit anderen Männern zu suchen, doch ansonsten wird die sexuelle Orientierung zu keinem negativ konnotierten Thema gemacht. Ossi kleidet sich weiblich und erwähnt offenkundig, dass er sich fühlt, als wäre er Susannes Mutter.

Alles in allem lohnt sich Frankfurt Kaiserstraße, wenn man auf der Suche nach leichter Kost ist. Trotz der teils dramatischen Handlung behält der Film eine Leichtigkeit – vermutlich, weil er sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Dass es keine komplett realitätsnahe Dokumentation des Frankfurter Lebens der 80er ist, wird schnell deutlich, dennoch spiegelt er adäquat die Träume, Verzweiflung und Verlorenheit junger Menschen wider.

Die Flucht vor der Realität – „Flora“ und „Lovely Rita“

Wanja Lang

Lovely Rita (Polyfilm)


Dysfunktionale Familiengefüge, stoische Mimik oder monotone Sprachmuster. Die Parallelen zwischen Flora und Rita scheinen schier unendlich. In Jessica Hausners früher Filmographie lassen sich stilistische sowie thematische Tendenzen erkennen, die sie bis heute noch begleiten. Doch von welchen Motiven ist hier genau die Rede?
Ein zentrales Element beider Filme stellt ein distinkter Schauspielstil dar. Hausner greift hier jeweils auf Laienschauspieler zurück, wodurch die emotionsneutrale und stellenweise verfängliche Stimmung mancher Szenen plausibel wird. Dies soll jedoch nicht als negativer Kritikpunkt verstanden werden. Gerade durch diese wortkarge Neutralität erzeugt Hausner zwei Filme die sich auf die Kamera, als zentrales Ausdrucksmittel, berufen. Ganz im Stil eines Robert Bresson Streifen, verpflichtet sie sich mit dieser Entscheidung den transzendenten Filmstil und verzichtet vollkommen auf überflüssige Dramatisierung oder langwierige Emotionsausbrüche. Vielmehr entwickelt sie Figuren wie Flora und Rita, deren instabile Seins-Zustände implizit ans Publikum übertragen werden. Andere Charaktere sind hiervon nicht ausgenommen. So weisen auch Ritas Eltern oder Floras Mutter die gleichen zurückhaltenden Tendenzen auf. All diese Faktoren tragen zu einer naturalistischen Gesamtwirkung bei, oder anders gesagt: Hausner stellt Präsenz über Repräsentation.
Dies führt mich zum nächsten Punkt: die inhaltlichen Rahmenbedingungen. Im Mittelpunkt beider Filme steht ein orientierungsloses Mädchen, das von ihren Lebensbegleitern ignoriert sowie schikaniert wird. Hausner behandelt mit diesen Figuren typische Sujets von pubertären Unabhängigkeitssehnsüchten. So lassen sich Flora und Rita auf zum Scheitern verurteilte Beziehungen ein, widersetzen sich den Regeln und geraten in ersten Kontakt mit Rauschmittel. All diese rebellierenden Tätigkeiten stammen von einer grundlegenden Unzufriedenheit ihres familiären sowie sozialen Lebens. Hausner bietet mit diesen zwei Filmen einen pointierten Einblick in die Tristesse der bürgerlichen Eintönigkeit, in der das Schließen von Klodeckel oder der Besitz von Reizunterwäsche zu häuslichen Streitthemen avancieren.
Anzumerken ist jedoch, dass beide Charaktere drastisch unterschiedliche Methoden wählen, wie sie dieser Monotonie entkommen. Während Flora ihr Glück an einem anderen Ort zu finden versucht, entschließt sich Rita in einer willkürlichen Aktion ihren Vater und anschließend ihre Mutter zu erschießen. Anders gesagt ermöglicht sich Flora eine neue Zukunft und Rita verweigert sich eine, weswegen sie als radikalere Ausprägung, derselben narrativen

Thematiken beschrieben werden kann. Trotz dies tragischen Ereignisses, verliert sie ihre Gleichgültigkeit nicht und scheint sogar vollkommen unberührt zu sein. Eine Beantwortung von Fragen bezüglich ihrer Motive und Anliegen erhalten wir nicht. Vielmehr wird man ein Teil dieses Ereignis und kommt so in den Genuss einer weitaus tiefgründigeren, filterlosen Rezeptionserfahrung.
Jessica Hausner zählt zu den bedeutendsten österreichischen Filmemacherinnen der Gegenwart. Ihre ersten zwei Filme deuteten schon auf ein enormes Talent hin, welches sie im Laufe ihrer Karriere nur weiterentwickelte. Inhaltliche Schwerpunkte blieben ihr über die Jahre jedoch erhalten. So lassen sich in Filmen wie „Hotel“ und „Lourdes“ ähnliche in sich gekehrte Hauptprotagonistinnen erkennen oder bei „Amour Fou“ und „Little Joe“, die gleichen Sehnsüchte nach einer besseren Realität. In Anbetracht dieser Umstände sind Hausners frühe Werke mehr als nur erste Versuche eines stilistischen Findungsprozesses. „Flora“ und „Lovely Rita“ sind als wesentliche Bausteine ihrer individuellen Filmsprache zu verstehen, auf die sie 20 Jahre später immer noch zurückgreift und in neue aufregende Kontexte setzt.

Die Beruhigung der Bilder in Zeiten rastloser Selbstoptimierung – Methode und Filmästhetik im Jessica Hausners TOAST (2006)

von Sabine Prinsloo

TOAST (Kunsthaus Graz)

Malen heißt für den belgischen Maler Luc Tuymans verschleiern, um zu entschleiern.

In seinen Bildern aus den 2000er Jahren verwendet Luc Tuymans die ästhetische Methode der Überdeckung, des Unsichtbarmachens, in diesem Fall von historischer Schuld, um ganz das Gegenteil zu bewirken, nämlich Aufmerksamkeit für altes Unrecht – aktualisiert in neuem Unrecht – freizusetzen. Tuymans artikuliert und visualisiert die seiner Meinung nach kolonialistische Unrechtsherrschaft des belgischen Königshauses in Belgisch-Kongo[1] hinter einer seine Gemälde überdeckenden weißlichen Firnis des Vergessens, des Verdrängens, des Eradierens, des Unsichtbarmachens. Er versteckt die brutalen menschenverachtenden Problematiken weißer Herrschaft in Afrika und bringt sie doch gleichzeitig zur Kenntnis, weil er Anteile von aktiven Passivitäten[2], die er bei seinem Kunstpublikums in Bezug auf das Recht- bzw. Unrechts-Bewusstsein für koloniale Geschichte vermutet, zu generieren und zu verstärken versucht.

Das Bild „Mwana Kitoko/Schöner weißer Mann“, entstanden im Jahre 2000, zeigt den 24jährigen König Baudouin I. von Belgien in Lebensgröße und in weißer Paradeuniform, die Augen verborgen hinter einer dunklen Sonnenbrille beim unsicher-ungeschickten Verlassen/Aussteigen aus seiner Regierungsmaschine. Er betritt im Jahre 1955 zum ersten Mal afrikanischen Boden, den westlich-zivilisierten Asphalt der Landebahn auf dem Flughafen der damaligen Hauptstadt Leopoldville[3]. Unter dem kalkig-ablöschenden weißen Auftrag dieses gemalten Ent-/Täuschungsversuchs zum Zwecke der Ent/-Verschleierung der Fakten und der Widerrede bzw. des Schönredens weißer Supremacy nimmt der Künstler dem jungen belgischen Herrscher von Gottes Gnaden maltechnisch und stilistisch den beanspruchten Glanz seines repräsentativen und unhinterfragten Herrschaftsanspruchs. Baudouin I. wird sich auf eine großangelegte Inspektionsreise der von westlichen Konzernen ausgebeuteten Kolonie begeben. Ziel dieser aufwendig geplanten Reise durch das belgische Untertanengebiet in Afrika ist die (erneute) Verstetigung der belgisch dominierten und kontrollierten Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnisse in der einstigen Privatkolonie seines Großvaters Leopold II.

Anlässlich der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten zur Gründung der Republik Kongo, die am 30. Juni 1960 stattfanden, begab sich Baudouin erneut nach Leopoldville und zwar wieder herrschaftlich-anachronistisch hochdekoriert und in eine makellos weiße Paradeuniform gekleidet. Qua Geburt personifiziert er dergestalt die weiße Herrschaftsanmaßung/-inszenierung und interpretiert in seiner Festrede die Zeiten der einseitigen Ausbeutung des Landes und die Unterdrückung der Ureinwohner als „zivilisatorische Verdienste“ der belgischen Kolonialbehörden. Als Baudouin gerade in offener Limousine durch die Straßen von Leopoldville zum kongolesischen Parlament chauffiert wird, gelingt es einem Kongolesen, ihm den Säbel, das Symbol der brutalen, profitorientierten, hypokratisch-suprematistisch  argumentierenden Kolonialmacht, zu entreißen.

Das Portrait des Repräsentanten des Kongo, der den politischen Gegenentwurf zu Baudouin I. verkörpert, der afrikanischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba[4] – in westdeutschen Zeitungskarikaturen der 1950iger und 1960iger gerne als Negerpremier oder in belgischen Blättern als Satan verhöhnt – verhüllt Tuycmans gleichfalls unter einem milchigen Überstrich, um ihn als Mann einer modernen und gebildeten (évolués), einer in Europa vielfach nicht erstgenommenen afrikanischen Intellektuellen-Elite, einzusortieren. Am 30. Juni 1960 zum ersten Premierminister des unabhängigen Kongos gewählt und somit personifizierter Mythos des antiimperialistischen Kampfes in Afrika, wurde Lumumba knappe sechs Monate nach den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten von den katangischen Soldaten seines Gegenspielers Moise Tschombé, die unter belgischem Kommando agierten, brutal ermordet. Sein Körper wurde zunächst in Einzelteile zerlegt und dann in Batteriesäure aufgelöst, welche von einer belgischen Minengesellschaft zur Verfügung gestellt worden waren. Um zu garantieren, das westliche international agierende Konzerne, wie z. B. die Bergbaugesellschaft Union Mi-nière du Haut-Katanga, Godiva Chocolatier u. a., weiterhin die Kontrolle über den Abbau von Uran[5], Kupfer, Gold, Cobalt, Diamanten, Mangan und Zink und den Anbau von Kautschuk, Kaffee, Kakao und Palmöl behielten und entsprechend Profit generieren konnten, hatten die belgische und die amerikanische Regierung[6] frühzeitig begonnen, Lumumbas innenpolitische Gegner logistisch, finanziell und militärisch zu unterstützen, denn Lumumba hatte seinerseits die Sowjetunion um militärische Unterstützung gegen die belgischen Truppen und Konzerne im Land gebeten.

Das Sichtbarmachen der „world of naked truth“ durch das „perfectible eye“ der Kamera heißt für Dziga Vertov, den russischen Avantgarde-Film als „state of trust“ zur Umsetzung der Utopien des Sowjetkommunismus einzusetzen.

Der russische Avantgarde-Filmemacher Dziga Vertov wollte mit einer eigenen Ästhetik der Filmkunst völlig neue, den Möglichkeiten des menschlichen Auges unsichtbar bleibende semantische Felder erschließen. Die üblichen literarisch-narrativen Vorgaben für den theatralen Unterhaltungsfilm lehnte er kategorisch ab. In seinen Filmen wollte er „a world perceived without a mask, as a world of naked truth (that cannot be hidden)“ zeigen.[7] Vertov definierte das Kino folgerichtig als das Medium, das “as >the feel of the world< through the substitution of the camera, that >perfectible eye<, for the human eye, that >imperfectible one< einzufangen und festzuhalten habe. He relocates the frontier between mimesis and >the feel of the world<, recalling to us Shklovsky`s command: We live as if coated with rubber; we must recover the world,” wie es die Filmwissenschaftlerin Annette Michelson 1972 in einem Essay für das Magazin Artforum formulierte.[8]

Vertov war der Überzeugung, durch seine theoretisch-praktischen Grundlagen einer neuen avantgardistischen Filmtheorie und einer neuen Praxis des Films die politischen und propagandistischen Ansprüche an das noch neue Medium Film als Bildungsinstrument für die groß-städtische Massen zur erfolgreichen Umsetzung der Utopien des Sowjetkommunismus in den 1920iger Jahren ge/erfunden zu haben. Durch den gezielten Einsatz bestimmter filmästhetischer Aufnahme- und Montagetechniken, so Annette Michelson, versuche er sein „disdain of the mimetic“[9] zu überwinden. Sein “concern with technique and process, with extensions and revelation, stamp him as a member of the Constructivist generation. The shared ideological concern with the role of his art as the agent of human perfectibility, of social transformation which issues transformation of consciousness is the most complete and intimate sense, the certainty of accession to ´the world of the truth`, are grounded in the acceptance, the affirmation, of the radically synthetic quality in the stylistics of montage.”[10]

In diesem Sinne sind für Vertovs Kino-Eye-Technologie vier Parameter maßgeblich: 1. sei “Kino-Eye (is) a victory against time. It is the visual link between phenomena separated from one another in time. Kino-Eye gives a condensation of time, and also its decomposition”; 2. verfüge Kino-Eye über “all the current means of recording ultra-rapid motion, micro-cinematography, reverse motion, multiple exposure, foreshortening, etc … and does not consider these tricks, but as normal of which wide use must be made”; 3. benutze Kino-Eye “all resources of montage, drawing together and linking the various points of the universe in a chronological or anachronistic order as one wills, be breaking, if necessary, with the laws of customs of the construction of cine-thing”; 4. würde Kino-Eye “in introducing itself into the apparent chaos of life” versuchen, “to find in life an answer to the question it poses; to find the correct and necessary line among the millions of phenomena which relate to the theme.”[11]

Jay Leyda präzisiert Vertovs Konzept des sowjetischen Avantgarde-Films: “The apparent pur-pose of the film was to show the breadth and precision of the camera`s recording ability … the cameraman is made a heroic participant in the currents of Soviet life. He and his methods are treated by Vertov in his most fluid montage style, establishing large patterns of sequences … the audience, the working day, marriage-birth-death, recreation – each with a whirling galloping climax … performed by a cameraman … and a film cutter armed with the boldness of Vertov and Svilova.” Das Ergebnis sei “an avant-garde film … a state of trust”.[12]

Die Vertreterin des Neuen österreichischen Films, die Filmautorin und Filmemacherin Jessica Hausner verschleiert – wie Luc Tuymans – absichtlich ihre/die Sicht auf die Dinge in ihrem Kurzfilm TOAST aus dem Jahre 2006 durch eine optisch operierende artifizielle Pastell-Ästhetik in einer durch das Mise-en-Scène gerahmten „painterly-composition“[13]. Sie schafft ästhetische Umgebungen in radikaler Unbestimmtheit und stellt damit Dziga Vertovs Konzept von Film als „state of trust“ in Frage.

Hausner verweigert unter Verwendung eines pseudo-dokumentarischen, sezierenden Filmstils scheinbar jede ideologische Agenda.[14] In Wirklichkeit jedoch entdeckt die pseudo-unbeteiligte Kamera den Zuschauer*innen scheinbar anti-narrative Geschichten der unterschiedlichsten Problematiken des Frauseins in einer weiterhin männerdominierten Welt.[15] Männer halten auch in TOAST die Leerstelle in der femininen Film-Ästhetik[16] – unsichtbar nicht anwesend – besetzt. Die Sogwirkung des Materials, das ohne Montagecuts auskommt, entsteht dadurch, dass die Erwartungshaltung der Zuschauer*innen auf einen Plot, eine Narration mit Anfang und Ende oder einer Eskalation des Geschehens in der Wiederholung maximal-minimalst erfüllt wird, indem die eigentliche Spannung in die aktive Passivität[17], die Erwartungshaltung des Publikums ausgelagert wird. Insofern erwirkt deren Aktivität auch den eigentlichen Suspense. Es ist also nicht das tatsächlich Gezeigte bzw. dessen geringstfügig eskalierende Variationen, die den Sog erzeugen, sondern das Nicht-Gezeigte aber unspezifisch Erwartete.

In ihrem konzeptuellen 40minütigen dialog-/monologlosen Installationsloop TOAST setzt Hausner ihre junge blonde, einem It-Girl nicht unähnliche Protagonistin bei der Benutzung eines billigen hellblau-weißen Allerwelts-Toasters mit dem Markennamen „FIRST AUSTRIA“ in Szene. Viermal wird die unspektakuläre Zubereitung dieser ungewöhnlich zusammengesetzten Mahlzeiten – als Hitchcocks MacGuffin funktionierend – absurd-repetitiv und surreal anmutende Szene dokumentiert. “In nudging audiences into a zone of radical uncertainty“[18], fokussiere Hausners Kamera – zwecks Infragestellens – bestimmte überkommene soziale Konstrukte und Konventionen und zeige deren Folgen wie z. B. destruktive Selbsttäuschungs- und Übersprunghandlungen, so die Filmjournalistin Carmen Gray.[19]

Gut 80 Jahre nach Vertovs Revolution des Films und fast gleichzeitig mit Tuymans Bildern entscheidet sich Hausner gegen die narrativ-suggestive Aufbereitung von Bildmaterialien. Stattdessen stellt sie in ihrem Filmessay das Versprechen auf eine freie, gleichberechtigende und sozialmarktwirtschaftlich, demokratisch organisierte (österreichisch/westeuropäisch) Nachkriegsutopie in Frage, die ihrer Meinung nach inzwischen bereits wieder unter den Rädern der globalen Dystopien des patriarchalisch-neoliberalen Zeitalters der Postmoderne zermalmt zu seien scheint.[20] Die Träume von einem allgemeinen, sozialmarktwirtschaftlichen und selbstbestimmten Wohlstand haben sich in der standardisierten, ergonomischen, klinisch sauberen Einbauküche aus billigster mit glänzendem Resopal beschichteten und somit pflegeleichten Spanplatte pseudomaterialisiert. Eine undurchdringlich kalkige Firnis aus unhinterfragten gesellschaftlichen Konventionen überlagert bzw. beherrscht in Hausners TOAST die uneingelösten Versprechen und reduziert die politischen Angebote optisch auf das vermeintlich alltäglich Notwendige oder Praktische, auf ein preislich erschwingliches, aus der modernen amerikanischen Traumfremde stammendes Konsumgut: die Scheibe Weizen-Toast[21], die schnell zubereitet und kaloriengesättigt angeblich die tägliche Reproduktion der Arbeitskraft garantieren kann. Als weitere Kompensation für die unerledigte soziale Utopie materialisiert sich in TOAST die pastellige, weißlich-hellblaue Küchenzeile mit vorgelagerter Kochinsel, bestehend aus einer Reihung von vier schwarzen Unterbau-Standschränken (die selten in den reduzierten Bildausschnitt geraten) im gängigen Normmaß plus Sockel und weißer Arbeitsplatte, einem eingelassenen hochglänzenden Nirosta-Spülbecken mit praktischer Abtropffläche und integriertem Abfalleimer, vier farblich passenden Hängeschränken, errechnet nach den Maßen des Goldenen Schnitts (Durchschnittskörpergröße des Mannes bei ausgestrecktem Arm: 226 Zentimetern), in großen Stückzahlen hergestellt in den ins Ausland verlagerten Profit-Optimierungs-Werkstätten der einheimischen Küchenhersteller*innen. Die Österreicherin Margarete Schütte-Lihotzky hatte im Jahre 1926 den Urtyp der standardisierten Einbauküche, der sogenannten Frankfurter Küche von nur 6,5 Quadratmetern Größe (Taylorsystem) ersonnen, um durch eine Beschleunigung der Arbeitsprozesse in der Küche die Mehrfachfunktionen der berufstätigen Ehefrau und Mutter zu ermöglichen. Später wurde diese erste Variante von (vielen männlichen) Designer-Koryphäen zwecks eines maximal gewinnträchtigen Verkaufs kopiert, verbessert, standardisiert und ist heutzutage ein preiswertes Massenprodukt, erschwinglich mit Montage bei XXXLutz, DAN Küchen oder Möbelix als kund*innenfreundliches Gesamtpaket, das gerne auch durch die hausinternen Banken zwischenfinanziert werden kann.

In ihrer Rezension auf der Seite des British Film National Archives verdichtet die Filmkritikerin Carmen Gray das sichtbare Geschehen in TOAST mit folgenden Worten: „In a kitchen of cloying pastels, a blonde woman in an embossy tracksuit prepares and eats toast, over and over, with an array of toppings. She sporadically leaves the room (to vomit?). With each repetition, this simple domestic act becomes more compulsive, even as any projection of interiority is deflected. Her face blank, she fills herself up, but gives nothing away to the camera. This is Hausner´s realm of the absurd, contextless uncertainty, as the security of everyday acts is punctured by the arrival – psychic haunting even – of transgressive anomaly.”[22]

Hausners Kameramann hält in TOAST konstant die zentralperspektivische Point of View Position ein und filmt leicht von unten kommentarlos-dokumentarisch vier Sequenzen von je knapp zehn Minuten in vier kaum unterscheidbaren Varianten diese Welt von Pastelltönen ab. Die Kamera/das Aufnahmegerät der Influenzerin (die vergessen hat, dass die Kamera noch immer oder schon läuft) rührt sich nicht von der Stelle, bleibt in der einmal/einmalig eingenommenen „planimetric position“. Schwenks in Richtung Kühlschrank, Toaster und Vorratsschrank über der Spüle sowie Zooms auf die essende Protagonistin (ein unverhoffter, ungeduldiger Reißschwenk macht den Zuseher*innen Hoffnung auf Einsichten des Verstehens) werden in großer Ruhe ausgeführt. Die Kamera scheint das Prozedere, dieses Ritual der Verköstigung zu kennen. Den „shooting style“ des “straight-on shoots” als charakteristisches “cinematic staging”, so der amerikanischen Filmwissenschaftler David Bordwell, verwände Hausner später auch in Lourdes und sie hat ihn meiner Meinung nach bereits in TOAST benutzt„to eschew depth or diagonals, refusing the spectator entrance into the image and holding her instead at a deliberate distance. Den Zuschauer*innen würde – wie in allen Hausner Filmen – eine Geschichte mit (logischen) Erklärungen zum Geschehen und zur (intendierten) Message bewusst vorenthalten. Hausner ziele darauf ab, in Brechtscher Manier[23] „to rupture illusionism and to bring about an active spectator“[24], um (Mikro-)Irritationen zu kreieren. Die Erwartungshaltung des Publikums werde bei ihr zugunsten der Freiheit des individuellen Erkenntnisprozesses in größter gegenseitiger „aktiver Passivität“ zwischen der Kamerapositionierung – die gleichzeitig die Zuschauer*innenposition ist – auf der einen Seite und der Performance der Schauspielerin auf der anderen/der gegenüberliegenden Seite zur Disposition gestellt. Die sichtbaren Handlungen werden dementsprechend in scheinbar größtmöglicher informatorischer Ungerichtetheit und minimal mimischer Anwesenheit kreiert und erschaffen in dieser Abhängigkeit das (vielfältige) „meaning“. Was da genau gemeint ist, entscheiden die Zuschauer*innen – auf der Grundlage der wohlkalkulierten Vorentscheidungen des Filmteams für oder gegen bestimmte ästhetische Aspekte der Inszenierung/des Mise-en-Scène.

Das sich auf dem schmalen Streifen hinter der Kochinsel abspielende Spiel der Schauspielerin findet ausschließlich auf der parallel-planimetrischen ausgerichteten Laufstrecke statt: 1. zwischen der nicht im Blickfeld liegenden Küchentür (rechts); 2. dem Kühlschrank (links als zweitwichtigster der vier statisch anwesenden Handlungsträger); vor 3. der Einbauküchenwand (mit Vorratsschrank, Spüle und Abfalleiner); 4. hinter der Kochinsel mit Arbeitsfläche. Das Filmen des Geschehens wird in fünf Einstellgrößen unspektakulär abgewickelt: medium long shot/Halbtotale (kaum), medium long shot/Amerikanische (meistens), medium close-up/halbnahe Einstellung (selten), close shot/Großaufnahme (selten) und close-up der zubereitenden Hände und des Gesichts/Mundes beim Essensvorgang. Die Undurchdringbarkeit der planimetrischen Setzung[25] wird durch die reduzierte Verwendung naher Einstellungsgrößen nur scheinbar in Frage gestellt. Im Verlauf des Films, des Installationsloops, verstärkt sich der Eindruck, die Szene spiele sich hinter einer Plexiglasscheibe ab, eingebaut als weiteres Hindernis für den Erkenntnisprozess der Rezipient*innen. Obwohl das Publikum das unorthodoxe Essverhalten der Protagonistin – die zunehmend ausgehungerter erscheint und ihre in der ersten Sequenz etablierten Essensregeln – wenn auch geringstfügig immer hemmungsloser verletzt – antizipiert, wird dessen genuine Erwartungshaltung gegenüber dem filmischen Geschehen in dieser speziellen Inszenierung von Essenszubereitung und Essensentzug beständig unempathischer. Trotz der zum Ende hin gelegentlich zu Gehör gebrachten Schmatz- und Schleckgeräusche der Schauspielerin, die „authentic emotions“[26] behaupten, wird das Penetrieren der Oberflächen zwecks der Verortung der Prognosen und Interpretationen für das Publikum nicht möglich gemacht. Es wird unterbunden und verhindert. Die Erkenntnis, dass eine Identifikation mit der Rollenträgerin ausbleibt, die Identifikation mit der Schauspielerin durch  eine Missachtung oder ein Ignorieren des Publikums filmästhetisch bewusst verhindert wird, ist die eigentliche Überraschung und ein später Schock für die Zuschauer*innen und meiner Meinung nach der Schlüssel zu Hausners Botschaften: „Meaning is self-actualization.“[27]


[1] Wikipedia: ab 1877 belgisch kolonialisiert; ab dem 23.04.1885 Kongo-Freistaat – als Ergebnis der internationalen Kongo-Konferenz von 1884 – ist die Association Internationale du Congo Eigentümerin des Kongo-Freistaats und somit das ganze Gebiet im Privatbesitz von Leopold II. von Belgien; ab 1908 Belgisch-Kongo; 1960 Freie Republik Kongo; 1961 Bundesrepublik Kongo; 1964 Volksrepublik Kongo; 1964 Demokratische Republik Kongo/Kongo Léopoldville; 1966 Demokratische Republik Kongo/Kongo Kinshasa; 1971 Republik Zaire; 1991/92 Kongo-Zaire; seit 1997 Demokratische Republik Kongo.

[2] Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt: S. Fischer 2014, S. 240-265.

[3] Seit 1884 benannt nach dem belgischen König Leopold II.

[4] 1958 gründete Lumumba für die Unabhängigkeit des Kongo eintretenden Partei Mouvement National Congress.

[5] Das Uran für das Manhattan-Projekt der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki kam aus den belgischen Minen im Kongo. https://belgien.net-belgiens-kolonialpolitik.

[6] Am 18.08.1960 wies der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower die CIA an, Lumumba zu töten. Allen Dulles schrieb am 28.08.1960 an einen amerikanischen Agenten vor Ort:“ Wir haben beschlossen, dass die Beseitigung Lumumbas unser wichtigstes Ziel ist und dass dieses Ziel unter den gegebenen Umständen innerhalb unserer geheimen Aktion Priorität genießt.“

[7] Michelson, Annette, “From Magician to Epistemologist: Vertov´s The Man with the Cam-era”, Artforum 10, no. March 1972, S. 116.

[8] Ebd. S. 113-132.

[9] Ebd. S. 119.

[10] Ebd. S. 120.

[11] Ebd. S. 120.

[12] Ebd. S. 117.

[13] Wheatley, Catherine, „Present Your Bodies”: Film Style and Unknowability in Jessia Hausner`s Lourdes and Dietrich Brüggemann´s Stations of the Cross, S. 1.

[14] Dassonowsky, Robert von, Women Screenwriter: Austria, University of Colorado Springs 2015, S. 234.

[15] https://www.bfi.org.uk/news-opinion/news-bfi/features/where-begin-jessica-hausner, 10.06.2020.

[16] Ebd.

[17] Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt: S. Fischer 2014, S. 240-265.

[18] http://www.bfi.org.uk, 07.06.2020.

[19] Ebd.

[20] https://www.vulture.com/2019/12/jessica-hausner-little-joe-interview.html., 01.06.2020.

[21] https://www.ovb-online.de, 09.06.2020: Eine Scheibe Weizentoast wiegt 25 Gramm und verspricht verlässlich 68 Kilokalorien.

[22] Gray, Carmen, bfi.org.uk, 10.05.2020.

[23] Wheatley, Catherine, S. 63.

[24] Ebd. S. 63.

[25] Ebd. S. 62.

[26] https://.com/2019/12jessica-hausner-little-joe-interview.html, 10.05.2020.

[27] Ebd.

Fabrikschiff für Frostfisch

Von Paulina Buda

Gerhard Friedls zweiter Langfilm Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? (2004) lief auf der Diagonale. Eine Komödie erwartete man nicht bei dem reißerischen Titel. Reißerischer Titel, weil Otto Wolff von Amerongen erst ab der 52. Minute namentlich erwähnt wird. Bei einem namensgebenden Protagonisten und einer Filmlänge von 73 Minuten reichlich spät. Der Konkursdelikt wird auch nicht ausgiebig beschrieben, wie man es sonst bei einer Kriminaldokumentation gewöhnt ist. Gerhard Friedl hat leider nur wenige Filme hinterlassen. Ein weiterer Film der gleichen Machart ist Knittelfeld – Stadt Ohne Geschichte (1997). Des Weiteren hat er Kunstfilme und unfertige Projekte hinterlassen.

Friedl widmet sich im essayistischen Stil einiger Ereignisse der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte. Es kommen vor: Friedrich Flick, Familie Quandt, Otto Wolff von Amerongen, Arndt Oetker, Familie Thyssen, Franz Josef Strauß, Otto Wiesheu, Karlheinz Schreiber, Walther Leisler Kiep, Leonhard Lutz und viele mehr.

Der Film besteht aus einer Tonspur aus dem Off, auf der Geschehnisse ohne Wertung geschildert werden. Das heißt, die männliche Stimme bleibt konstant eintönig, es gibt keine Veränderung der Tonlage oder andere Sensationen der Stimmbänder, die eine Wertung vermuten lassen würde. Kurz, es ist eine trockene dennoch angenehm erzählende Stimme. Auf der Bildebene dominieren Straßenszenen und Autofahrten durch Frankfurt, Wien, Köln, Berlin, Nizza, Lausanne et al. Zu dem sind zu sehen: Fabrikszenen, Laufbänder, Maschinendetails, Arbeitende, Bürogebäude und Industriegelände. Die Szenen wirken zufällig und es gibt selten einzelne Personen zu sehen, schon gar nicht zeitgleich die Personen, die auf der Tonebene erwähnt werden.

Ton und Bild sind hier also prinzipiell unabhängig voneinander, wobei sie thematische Überschneidungen haben. Die Bilder der Fabriken und Arbeiter bleiben beim zentralen Topos des wirtschaftshistorischen Films. Bilder des Himmels sind zu sehen, wenn es um Abstürze von Privatflugzeugen der Marke Beechcraft King Air 90 geht.

Durch das lediglich Streifen von tragischen Ereignissen auf der semantischen Ebene wie Flugzeugabstürze, Firmenzusammenbrüche und -aufstiege, Suizide, Korruptionsfälle und Rennautounfälle (BMW) bekommt der Film eine unerwartete Leichtigkeit. Alles erhält die gleiche kurze Sendezeit. Interessant sind hier besonders die Straßenszenen, die genau auf die Tonebene passen und andere Szenen in denen der Bild- und Toninhalt auf eine Weise divergieren, wodurch Komik entsteht. Das Schöne an diesem Filmerlebnis ist, dass auf viele verschiedene Arten gelacht wird: traurig, schadenfroh, bösartig, glücklich oder weil man nicht weiß, wie man sonst reagieren soll – es ist ein Lachen über die tragische menschliche Komödie.

Die Komik liegt auch in der sehr genau ausgewählten Wiedergabe von pointierten und abstrusen Anekdoten wie zum Beispiel: „Lüttich sagte vor Gericht aus: Kiep hätte ihm im Hotel unter der Bettdecke eine Millionen Mark gezeigt.“ Der Witz entsteht hier zum einen, durch die Vorstellung der beiden bekannten Männer in einem Hotelzimmer, die sich unter der Decke Geld statt Körperteile zeigen, wie man es kurz davor zu hören erwartete.

Und mit „Er zeigte mir im Hotel unter der Bettdecke …“ fängt eigentlich eine Vergewaltigungsklage an. Somit lacht man über Lüttich, weil er das Gericht mit dieser Formulierung womöglich davon überzeugen wollte, das er von dem unter der Bettdecke gezeigten Geld vergewaltigt wurde. Ein persönlicher Höhepunkt des Films ist die Alliteration auf der Tonspur „Es entstehen Fabrikschiffe für Frostfisch“, und dem zeitgleich im Bild zu sehenden kleine Privatflugzeug. Der Film nimmt das zeitlose Thema der Mächtigen und ihrer Machenschaften in unserer Gesellschaft, in einer Art und Weise auf, die überraschend Mitleid und Mitgefühl mit den Schicksalen der Betroffenen vermittelt. Er verschafft gleichzeitig dem Publikum eine erleichternde zynische Distanz zu unseren banalen Werten des Kapitalismus. Mit einer einprägsamen Filmsprache, die Friedl schon in Knittelfeld anwendet, aber hier perfektioniert hat, vermittelt er eine warme Menschlichkeit inmitten der auf zahlen basierenden Unmenschlichkeit der globalen Wirtschaftswelt.

I love Vienna

Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein!

von Lucia Bräu

Mit ähnlichen Hoffnungen macht sich der Protagonist des Filmes I love Vienna (1991) von Houchang Allahyari auf den Weg aus dem Iran nach Wien. Der Film beschäftigt sich mit Themen, die auch heute noch äußerst relevant sind. Ein Mann ist auf der Suche nach einem besseren Leben in einer Stadt, die er nur aus den romantischen Sissi-Filmen kennt. Als er ankommt, ist der Kulturschock etwas größer als gedacht. Wien ist nicht nur die romantische Stadt aus den Filmen, sondern auch ein Knotenpunkt für Personen aus unterschiedlichsten Lebenslagen und verschiedensten Lebenseinstellungen, die nicht unbedingt denen des Protagonisten entsprechen.

Die Hauptfigur Ali Mohammed ist Deutschlehrer und gläubiger Muslim. Er kommt nach Wien in der Hoffnung dort ein neues Leben zu beginnen und einen Platz für sein restliches Leben zu finden. Aber es stellt sich heraus: Das ist leichter gesagt als getan. Er ist auf der Suche nach Anschluss, hat aber gleichzeitig Schwierigkeiten sich an die Lebensweise seiner neuen Bekanntschaften zu gewöhnen. Während seine Schwester und sein Sohn sich immer mehr an den neuen Wohnort anpassen, fällt es dem gläubigen Muslim sehr schwer dies zu akzeptieren. Als er sich in die Österreicherin Frau Svoboda verliebt, droht ihre Beziehung an den kulturellen Differenzen zu zerbrechen.

Der Film greift Motive auf, wie die Suche nach Anschluss und Liebe. Das Hotel, in dem sich die Figuren die meiste Zeit des Filmes aufhalten, fungiert als Miniaturversion von Wien. Zwei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs finden sich dort viele Menschen, die aus dem Osten nach Wien gekommen sind, um dort ihr Glück zu versuchen. Von der eigentlichen Stadt sieht man wenig, lediglich auf einem kurzen Trip nach Schönbrunn kommen die Figuren wirklich hinaus. Das Hotel ist in einer unscheinbaren Seitenstraße gegenüber von einem Bordell gelegen. Es wirkt wie das komplette Gegenteil von Alis Vorstellungen von Wien. Diese Umgebung beengt die Charaktere und verstärkt die bedrängende Wirkung der vielen Menschen, die sich dort aufhalten, während Schönbrunn im Gegensatz dazu groß und offen ist.

Trotz der fast 30 Jahre, die seit dem Erscheinen des Filmes vergangen sind, lassen sich die Konflikte, auf welche die Charaktere treffen, auch heute immer noch wiederfinden. Die Zuwanderung aus dem Osten in den damaligen Jahren lässt sich zum Beispiel leicht mit den Zuwanderungen aus Kriegsgebieten wie Syrien in den letzten Jahren vergleichen. Herr und Frau Svoboda könnte man auch als die Verkörperung der zwei Einstellungen sehen, mit denen Zugewanderte in Wien konfrontiert werden: Herr Svoboda ist skeptisch und unfreundlich zu seinen Gästen, während Frau Svoboda sie mit Freude empfängt und versucht ihnen zu helfen.

Es handelt sich um eine Gesellschaftskomödie, die tragischen Momenten mit einem gewissen Maß an Humor begegnet. Dieser entsteht vor allem aus den Unterschieden zwischen den Kulturen und Lebenseinstellungen, die gleichzeitig aber auch der Ursprung für die Konflikte und die Tragik sind. Alis Probleme scheinen sich zu häufen und ihn zunehmend von seiner Familie zu isolieren. Nachdem seine Schwester ihm verlautbart, dass sie mit ihrem rumänischen Freund ohne Ehe zusammenleben will und er seinen Sohn von der Polizeistation abholen muss, erleidet er schließlich noch eine Blinddarmentzündung. Der Krankenhausaufenthalt zwingt ihn für einen Moment zur Ruhe zu kommen und ermöglicht ihm auch einen eventuellen Neustart mit Frau Svoboda. Zum Schluss des Filmes bleibt es unklar, ob Ali seine Reise nach Amerika weiterführt, oder ob er Wien, das nicht ganz der Stadt seiner Träume entspricht, noch eine weitere Chance gibt.

Von der Suche nach Glück, Schnee im Sommer und anderen Utopien

Von Lilli Wermuth

Leni Gruber liefert uns mit Schneemann (2018) eine Momentaufnahme des Sommers einer jungen Erwachsenen. Antonia wohnt in einer Wiener WG, wühlt sich durch den Kleiderschrank ihrer Mitbewohnerin Julia, probiert sich aus im Jemand-Anderes-Sein. Sie prokrastiniert, schaut YouTube-Videos mit den Titeln „Erfolgreich glücklich sein“ und „Macht Reichtum glücklich?“ und scheint auf der Suche nach dem Großen Ganzen. Nach einem Sinn. Nach dem Puzzleteil, das ihr Leben in Fahrt bringt und alles stimmig zaubert.

In der Liebe findet sie keine Antwort, auch ihr derzeitiger Lover ist ein enormer Idiot, der ihre mutige Frage nach einer festen Beziehung abweist und anschließend trotzdem mit ihr schläft, als hätte sie sich zuvor nur nach dem Wetter erkundigt. Auch ihre Familie, repräsentiert durch ihren Vater, bildet kaum eine Stütze. Als Bildhauer verbringt er sein Leben außerhalb der Stadt. Und ist vor allem damit beschäftigt, eine Frau für sich zu finden. Man(n) wird ja auch nicht jünger. Lediglich eine schwere Holzfigur gibt er seiner Tochter mit auf den Weg, die sie selbst darstellt. Etwas ziellos schleppt sie das Alter Ego durch ein vor Hitze glühendes Wien. Zwar stellt sich die Frage, warum Antonia sich die Mühe macht, die Skulptur mit zu ihrem Liebhaber zu schleppen – steil nach oben in den höchsten Stock eines schmalen Wiener Stiegenhauses ohne Lift. Doch wird zumindest dem Publikum schnell klar, mit welcher symbolischen Kraft dieses besondere Stück Holz ausgestattet ist. Antonia selbst steht nicht fest im Leben, erhält durch ihr hölzernes Alter Ego jedoch genau die Stütze, nach der sie sich so verzweifelt umschaut: Sich selbst.

Der Einsatz einer Steadycam in Zusammenspiel mit der Einstellungsgröße, meist eine Großaufnahme von Antonias Gesicht, bringt uns die besondere Nähe zur Protagonistin, die ein ganz eigenes Gefühl von Empathie entfacht. Auf die anderen Charaktere blicken wir durch das Auge der Kamera mit einem Sicherheitsabstand, der gut die Distanz symbolisiert, die Antonia wohl zu ihren Mitmenschen fühlt. Es braucht keine großen Worte, denn die Schauspielerin Katharina Farnleitner kommentiert durch ihre Mimik genauestens, was sich im Inneren ihrer Figur abspielt.

Der Kurzfilm Schneemann schafft es mit wenig Text und einfachen Szenen innerhalb von nur 20 Minuten eine Stimmung zu transportieren, wie es manche Spielfilme von großen Filmemacher*innen nicht vermögen. 

Die Flucht aus der sozialen Einsamkeit

Von Johannes Gerber

Erwachsen werden ist kein leichter Prozess, besonders wenn man sich neu entdeckt. Jessica Hausners Werk Flora (1997) portraitiert genau diesen Prozess. Die siebzehnjährige Flora versucht sich zurechtzufinden, sei es in der Tanzschule, in der Familie oder in der Liebe. Hausner zeigt in einfachen Zügen das, was viele Menschen in jungen Jahren durchmachen.

Flora durchlebt die Pubertät wie so viele andere auch. Sie besitzt wegen ihres Körpers Komplexe, wirkt introvertiert und still, sehnt sie sich doch nach Aufmerksamkeit. In der Tanzschule sitzt sie meist alleingelassen im Raum, ohne einen Tanzpartner an ihrer Seite. Daheim jedoch erwartet ihre Mutter, dass sie jemanden kennengelernt hat. Um Flora baut sich ein Druck gesellschaftlicher und familiärer Normen auf und sie wirkt dabei verloren. Ein Gesicht, welches nur wenig Ausdruck zeigt und doch so viel sagt. Flora muss nicht viel sagen, sie muss auch nicht viel darstellen, denn Flora ist Flora. Hausner spielt mit der visuellen Ebene, indem sie starke Gesichter ganz ohne verbale Kommunikation portraitiert. Am Anfang gibt der Film eine Vorschau auf eine junge Frau, die mit sich selbst im Konflikt steht: Flora zieht sich einen BH an und erschreckt sich vor lachenden Jugendlichen, die nicht real sind und vielleicht Floras innere Scham darstellen könnten. Der Film setzt auf reduzierte Dialoge und dafür vermehrt auf Ausdruckskraft durch Mimik. Bei der doch kurzen Filmdauer von 25 Minuten schafft es Hausner den anderen Figuren eigene Momente abseits von Flora zu geben. Neben dem Konflikt mit ihrem Vater zeigt Hausner auch einen Konflikt zwischen ihrer Mutter und dem Vater. Die Mutter muss nicht viel sagen, dennoch erkennt man ihr Leid. Hausner strikt dabei ein Netz bestehend aus den verschiedenen Charakteren und ihre persönlichen Probleme. Es wirkt so, als wolle Hausner hinter jeder Person eine eigene Geschichte andeuten. Doch Floras Gedankenwelt bleibt stark, denn aus ihrer Sehnsucht, aber auch durch den Druck bringt sie sich in einen neuen Konflikt: Begehrt von jemandem, den sie nicht möchte und begehrt selbst jemanden, der sich nicht sonderlich für sie interessiert. Sie interessiert sich für Attila, der sie nicht wahrnimmt, zeitgleich bekommt sie kühle Annoncen von Jakob. Doch er erkennt nicht ihre anfänglich freundschaftliche Absicht und erhofft sich mehr. Hausner erzählt hier viele kleine Geschichten, ohne die Aufmerksamkeit von Flora wegzulenken. Sei es etwa die Mutter, Jakob oder Attila. Dabei wirken Requisiten und Elemente bewusst und gut durchdacht platziert.

Dies ist nur eines von vielen Elementen von Hausners Regiestil: Eine weibliche Hauptfigur, welche in einem oder mehreren inneren Konflikten steht; schwierige Verhältnisse zu weiteren nahestehenden Personen und eine gewisse Verlorensein-Attitüde. Ebenso formt sich schon ihr technischer Stil, der in den nachfolgenden Filmen regelmäßig wiedererkennbar ist. Beispielsweise die Kamera, die auf ein schweigendes Gesicht zoomt oder auffallend laute, teils nicht passende Hintergrundgeräusche. So fällt es nicht schwer auch in ihren späteren Werken Verweise auf Flora und die Protagonistin selbst zu finden. Sei es das schwierige Verhältnis zu den Eltern bei Rita, die introvertierte und stille Irene mit den unnatürlichen Hintergrundgeräuschen, die nicht ganz so in die Situation passende Christine, die nachdenkliche Henriette oder die im Konflikt stehende Alice. Gerade der innere Konflikt erscheint als das wichtigste inhaltliche Element der Werke Hausners. So befreit sich auch Flora aus ihrem Druck und bricht aus. Sie steigt in das Auto und fährt weg. Ein offenes Ende, bei dem das Publikum nicht weiß, wie es mit Flora weitergeht. Flora ist weg und geht ihren eigenen Weg. Hausner verbindet Inhalt und Technik, so schafft sie einen besonders spannenden Aspekt der visuellen Erzählstrategie. Als Flora aus dem Lift steigt und den Gang durchquert, hört man ein vorbeifliegendes Flugzeug, welches für diese Einstellung unpassend ist. Dieser Stil wiederholt sich in allen Filmen und so betont Hausner Entscheidungen, Taten und Gedanken ihrer Hauptfiguren. Sie betont Elemente, die man sonst nur wenn überhaupt als Randnotiz wahrnehmen würde und leitet auf diese Art das Publikum durch ihre filmische Welt. In Flora spürt man davon sehr viel, denn Hausner setzt auf Detailstärke, die auch Floras Gedanken und Entscheidungen, innere Konflikte und Dispute mit ihrer Außenwelt sichtbarer machen.
Hausners nüchterne Inszenierungsform in ihrem studentischen Werk besticht nicht nur durch die Hervorhebung Floras innerer Welt, auch die Schicksale anderer Figuren werden erzählt. Die Laienschauspieler_innen überzeugen nicht immer mit ihren gespielten Emotionen, was aber der Handlung nicht unbedingt schadet. Floras Wandlung, besonders durch die erneute Abwendung von Jakob und die Initiative den eigenen Weg zu gehen, zeigt die Stärke der Hauptfigur. Die weiblichen Hauptfiguren wachsen und altern auch mit Hausners Karriere, so steht Flora für die Anfänge von Hausners Erzähl- und Inszenierungsstil. Im Film finden sich technische, als auch inhaltliche Elemente, die in ihren späteren Filmen wiederkehren.

Tod und Magie

Ene mene (2019) thematisiert zwei unterschiedliche Arten im Umgang mit Trauer und Verlust.

Von Coura Tall

Ein Unfall oder doch Schicksal? Es ist der Geburtstag Paulas kürzlich an Krebs verstorbenen Schwester Anna. Die Mutter steht angespannt in der Küche und knetet zwanghaft bunte Zuckerbällchen, um den Geburtstagskuchen vom letzten Jahr zu rekonstruieren. Paula versucht währenddessen verbotenerweise den Hamster ihrer Schwester zu füttern. Das Unglück scheint vorprogrammiert. Tatsächlich rutscht ihr der Schemel unter den Füßen weg und sie stößt den Hamsterkäfig aus dem offenen Fenster. Wie geht ein Kind, dass vermutlich den Tod seiner Schwester noch nicht richtig verarbeiten konnte, jetzt mit einem erneuten plötzlichen Verlust um? Was bedeutet der Tod des Hamsters für den Trauerprozess der Mutter, die sich so krampfhaft an den alten Erinnerungen festzuhalten versucht?

Anstatt ihre Trauer zu teilen, bewegen sich Mutter und Tochter in scheinbar getrennten Welten. Die einzige Verbindung stellt die dritte Protagonistin, eine Freundin der Mutter, dar. Spirituell angehaucht, bewegt sie sich nicht nur auf der Ebene der Mutter, die längst ihren Glauben an das Gute im Universum aufgegeben hat, sondern kann sich auch in Paula einfühlen, die den Unfall einfach nur rückgängig machen will. Hier kommt Magie ins Spiel. Aus Kinderaugen eine allmächtige Instanz. Hexenwasser und Zaubersprüche sollen Franky (den Hamster) wieder lebendig machen. Für die Mutter ist der Tod des Hamsters nicht nur eine schmerzliche Erinnerung an den Verlust der Tochter, er spiegelt auch ihre Machtlosigkeit im Kampf ihrer Tochter gegen den Krebs. Denn selbst Magie kommt nicht gegen den Tod an. Das muss auch Paula einsehen, als ihre Wiederbelebungsversuche fehlschlagen. Am Ende bleibt ihnen nichts anderes übrig, als eine Feuerbestattung. In Paulas Augen eine Hexenfeier, bei der sich der Hamster in glühende Funken verwandelt, die in den Nachthimmel aufsteigen und die für die Mutter wenigstens eine Art Abschluss darstellt. Zwar ist sie noch weit entfernt von einem Neuanfang, doch auch sie sieht ein, dass Dinge geschehen über die man keine Kontrolle hat, sei es Zufall oder Schicksal.

In Schmidts Film geht es nicht darum eine richtige Art für den Umgang mit Verlusten zu finden, die Trauermechanismen der Figuren werden auch nicht bewertet, sondern die Zuschauer_innen werden zu stummen Beobachter_innen. Lange Kameraeinstellungen auf die Gesichter der Figuren und ein diegetisches Sounddesign tragen zu der sehr naturalistischen Wirkung des Filmes bei. Das Farbschema wird in blassen, hellen blau und weiß Tönen gehalten. Oft filmt die Kamera in den Übergängen der kurzen Szenen durch Vorhänge, Wasser oder Glas. Damit werden die Zuschauer_innen einerseits von der Handlung distanziert, andererseits erscheint die verschwommene Wahrnehmung wie die Blase, in der sich die trauernden Charaktere befinden.

Die zwischenmenschlichen Interaktionen der Figuren wecken Assoziationen zu den Filmen von Jessica Hausner, einer renommierten österreichischen Regisseurin. Vor allem in ihren Filmen Lourdes (2010) und Amour Fou (2014), die beide auch den Umgang mit verschiedenen physischen und psychischen Krankheiten thematisieren, finden sich interessante Parallelen. Im Vordergrund stehen bei Hausner meist leidende Protagonistinnen, die sich in der Hoffnung aus ihrem bisherigen Leben ausbrechen zu können, auf unkonventionelle Wege begeben. In Amour Fou bedeutet das für Henriette Vogel den Selbstmord an der Seite von Heinrich Kleist, bei Lourdes unterwirft sich Christine dem mühsamen Prozess der Wunderheilung. In beiden Filmen scheint mehr über die Protagonistinnen bestimmt zu werden, als das ihnen selbst Handlungsspielraum gelassen wird. Wie auch in Ene mene fehlt eine emotionale Aussprache unter den Figuren. Die Protagonistinnen werden mit ihren Leiden alleine gelassen. Von außen erhalten sie im besten Fall gut gemeinte Ratschläge, meistens jedoch wenig Verständnis.In allen drei Filmen werden die Dialoge kurzgehalten. Der innerliche Schmerz der Protagonistinnen wird in den Gesprächen umgangen. Sie erscheinen insgesamt eher unemotional und es kommt zu keinen größeren Gefühlsausbrüchen. Genau darin liegt jedoch die Stärke dieser Filme. Anstelle von affektierten Gefühlen, wird man mit unterdrückten Emotionen konfrontiert. Die unterschwellige Spannung, die dabei entsteht, begleitet einen durch den ganzen Film und darüber hinaus, denn ein offenes Ende verhindert jegliche Auflösung. Ene mene ist dementsprechend direkt, wie unnahbar und zeigt doch ein erstaunliches Feingefühl. Die Figuren sind aus dem Leben gegriffen und die Thematisierungen von Tod und Verlust geschehen auf eine sehr ruhige und kinderfreundliche Weise.

Auf den Spuren filmischer Legenden

Von Dennis Ritter

2004 konnte Jessica Hausner mit ihrem Psychothriller Hotel bei den Filmfestspielen in Cannes begeistern. Sie erzählt eine Geschichte, die sich von anderen Genre-Vertretern inspirieren lässt, mit vielen bekannten Konventionen bricht und im Finale alles daransetzt, die eigene Geschichte zu dekonstruieren.

Hausner erzählt von der jungen Irene (Franziska Weisz), die als Rezeptionistin ihren neuen Job in einem abgelegenen Waldhotel beginnt. Dort kümmert sie sich um die Gäste und muss nachts im verlassenen Hotel eine Runde durch den Keller drehen. Zunehmend bekommt Irene das beklemmende Gefühl, dass irgendetwas mit diesem Ort nicht stimmt – etwas, das mit dem tragischen Schicksal ihrer Vorgängerin zusammenzuhängen scheint. Zur selben Zeit erfährt sie von Erik (Christopher Schärf), den sie in einer nahegelegenen Diskothek kennenlernt, von der Sage einer in einer Grotte lebenden Waldhexe. Diese Handlung ist in vielen Aspekten von anderen filmischen Werken mit einer ähnlichen Grundidee inspiriert: Zuerst einmal drängt sich das sehr ähnliche Setting aus Stanley Kubricks Meisterwerk The Shining (1980) auf. Aus Kubricks gewaltigen, verlassenen Berghotel macht Hausner ein kleineres, verlassen wirkendes Waldhotel. Auch die Stimmung fühlt sich in beiden Filmen sehr ähnlich an: Zu Beginn scheint alles lange Zeit sehr ruhig zu sein, doch die Bedrohung und die anbahnende Katastrophe erzeugen ein Gefühl der Beklemmung. Hausner folgt allerdings nicht blind den Spuren von Kubrick, sondern lässt andere Impressionen einfließen: Die Legende der Waldhexe aus dem Found-Footage Horrorfilm The Blair Witch Project (1999) scheint hier eine passende Ergänzung zu sein. Die Bedrohung beschränkt sich dadurch nicht auf das Hotel, sondern hüllt ebenfalls das Umland in einen Nebel des Schreckens. Wenn Irene in der scheinbar friedlichen Natur den Fängen des Hotels entkommt, bringt das keine Entspannung mit sich, sondern stößt einen in die nächste Bedrohung. Es ist schwierig auszumachen, welcher Ort die größere Bedrohung für Irene darstellt und Hausner bemüht sich, jeden Schauplatz gleichermaßen schauderhaft zu gestalten.

Die größte Inspiration holt sich Hausner dann allerdings in dem dänischen Thriller Nightwatch (1994). Der dortige Protagonist Martin (Nikolaj Coster-Waldau) beginnt seinen neuen Job als Nachtwächter in der Pathologie eines Krankenhauses. Jede Nacht wandert er mehrmals durch die Gänge des verlassenen Gebäudes und prüft, ob alles in Ordnung ist. Doch mit jedem Mal entsteht bei ihm der Eindruck, dass irgendetwas Schreckliches vor sich geht. Sowohl Martin als auch Irene werden beide ahnungslos in eine neue Situation geworfen und zunehmend psychisch an den Rand ihres Verstands gedrängt. Wo anfangs Freude über den neuen Arbeitsplatz vorherrscht, entsteht schnell ein Misstrauen gegenüber allen anderen, bevor am Ende nichts anderes mehr übrig zu sein scheint als Paranoia.

Hausner beschreitet in Hotel viele bereits betretene Pfade, was ein großes Problem mit sich bringt: Die Zuschauer_innen vermögen früh, das Rätsel des Films zu entschlüsseln. Denn entlang dieser Pfade wurde sich schon mehrmals bewegt und so wirken viele Elemente des Films altbekannt. Es ist wie eine Ausstellung von verschiedensten Szenarien, die uns in Filme zurückversetzen, in denen wir vor Angst kaum hinzuschauen vermochten, während dieser Film scheinbar nur von der Angst aus anderen Filmen lebt. Die Spannung verliert sich zunehmend; zu bekannt ist all das, was von statten geht. Und dennoch schafft es Hausner am Ende die Erwartungen zu unterwandern: Eigentlich verlangen die Genre-Konventionen, dass die dramaturgische Spannungskurve am Ende ihren Höhepunkt erreicht. Der Klimax erlöst die Zuschauer_innen und zeigt das, was den gesamten Film über angedeutet wurde – egal wie schrecklich der Ausgang ist, es entsteht ein Gefühl der Befreiung. Hausner gewährt den Zuschauer_innen dieses Gefühl nicht. Im Finale, dem Moment größter Spannung, nimmt sie das Tempo heraus und lässt den Film unspektakulär und bedächtig zu Ende gehen. Das hinterlässt ein unbefriedigendes Gefühl, zeigt aber auch, wie trotz vieler Inspiration etwas Eigenes entstehen kann. Damit all das funktioniert, braucht ein solcher Film eine Projektionsfläche für die Zuschauer_innen, auf die die eigene Persönlichkeit gespiegelt und durch deren Augen die Geschichte gesehen werden kann. In Hotel ist das Irene, die von Hauptdarstellerin Franziska Weisz verkörpert wird. Diese spielt die Rolle der jungen Rezeptionistin dermaßen unspektakulär, dass der Gedanke der „filmischen Realität“ immer wieder in den Hintergrund gerät. Wären da nicht die übernatürlichen Momente, könnte diese Geschichte im Hotel um die Ecke stattfinden. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass ihre Figur durch diese Schlichtheit sehr eindimensional bleibt. Sie bekommt keine weiteren Facetten, keine spannende Vorgeschichte, führt keine interessanten Beziehungen und darf kaum Gespräche führen. Es ist ein minimalistisches Bild einer Figur, beschränkt auf das Wesentliche: einer jungen Frau, die in einer neuen beruflichen Situation chancenlos wirkt und unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuert – all das in den Fußstapfen ihrer Vorgängerin und unter den wachsamen Augen des erfahrenen Personals.

Hausner ist bekannt für ihre weiblichen Hauptrollen, die immer wieder charakterliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Es sind introvertierte Figuren, mit zwischenmenschlichen Problemen, die an der Gesellschaft anecken. In Flora (1995) geht es um ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen Eltern und eine illusionistische Vorstellung von Liebe. In Lovely Rita (2001) sind diese beiden Gedanken ins Extreme weitergedacht. Mit Hotel verändert sich der Fokus etwas. Statt dem direkten Konflikt mit anderen, blickt Hausner hier vielmehr auf die Figur selbst und der Selbstwahrnehmung der jungen Frau. Eins haben jedoch all ihre Figuren gemeinsam: Es wirkt stets so, als würde Hausner Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit in ihre Figuren schreiben und so wirkt es auch bei Irene: Eine junge Frau, die in einem Beruf erfolgreich sein will, der von bestehenden „Größen“ dominiert wird, lebt mit der alltäglichen Angst, in den Fußspuren ihrer (weiblichen) Kolleginnen in Vergessenheit zu geraten.

Das unabwendbare Ende der filmischen Welt wirkt wie eine Warnung, die es zu verstehen gilt und der wir in der echten Welt entkommen müssen. So ist Hausners Film auch 16 Jahre später immer noch aktuell und kann als Aufruf gesehen werden, auszubrechen – raus aus den immer gleichen Mustern. Nur so kann der stets präsenten Tragik entgangen werden und wir sollten es wie Hausner machen: Auf den Spuren der Vergangenheit wandeln, aus gemachten Fehlern lernen und mutig neue Wege gehen.