Die Flucht aus der sozialen Einsamkeit

Von Johannes Gerber

Erwachsen werden ist kein leichter Prozess, besonders wenn man sich neu entdeckt. Jessica Hausners Werk Flora (1997) portraitiert genau diesen Prozess. Die siebzehnjährige Flora versucht sich zurechtzufinden, sei es in der Tanzschule, in der Familie oder in der Liebe. Hausner zeigt in einfachen Zügen das, was viele Menschen in jungen Jahren durchmachen.

Flora durchlebt die Pubertät wie so viele andere auch. Sie besitzt wegen ihres Körpers Komplexe, wirkt introvertiert und still, sehnt sie sich doch nach Aufmerksamkeit. In der Tanzschule sitzt sie meist alleingelassen im Raum, ohne einen Tanzpartner an ihrer Seite. Daheim jedoch erwartet ihre Mutter, dass sie jemanden kennengelernt hat. Um Flora baut sich ein Druck gesellschaftlicher und familiärer Normen auf und sie wirkt dabei verloren. Ein Gesicht, welches nur wenig Ausdruck zeigt und doch so viel sagt. Flora muss nicht viel sagen, sie muss auch nicht viel darstellen, denn Flora ist Flora. Hausner spielt mit der visuellen Ebene, indem sie starke Gesichter ganz ohne verbale Kommunikation portraitiert. Am Anfang gibt der Film eine Vorschau auf eine junge Frau, die mit sich selbst im Konflikt steht: Flora zieht sich einen BH an und erschreckt sich vor lachenden Jugendlichen, die nicht real sind und vielleicht Floras innere Scham darstellen könnten. Der Film setzt auf reduzierte Dialoge und dafür vermehrt auf Ausdruckskraft durch Mimik. Bei der doch kurzen Filmdauer von 25 Minuten schafft es Hausner den anderen Figuren eigene Momente abseits von Flora zu geben. Neben dem Konflikt mit ihrem Vater zeigt Hausner auch einen Konflikt zwischen ihrer Mutter und dem Vater. Die Mutter muss nicht viel sagen, dennoch erkennt man ihr Leid. Hausner strikt dabei ein Netz bestehend aus den verschiedenen Charakteren und ihre persönlichen Probleme. Es wirkt so, als wolle Hausner hinter jeder Person eine eigene Geschichte andeuten. Doch Floras Gedankenwelt bleibt stark, denn aus ihrer Sehnsucht, aber auch durch den Druck bringt sie sich in einen neuen Konflikt: Begehrt von jemandem, den sie nicht möchte und begehrt selbst jemanden, der sich nicht sonderlich für sie interessiert. Sie interessiert sich für Attila, der sie nicht wahrnimmt, zeitgleich bekommt sie kühle Annoncen von Jakob. Doch er erkennt nicht ihre anfänglich freundschaftliche Absicht und erhofft sich mehr. Hausner erzählt hier viele kleine Geschichten, ohne die Aufmerksamkeit von Flora wegzulenken. Sei es etwa die Mutter, Jakob oder Attila. Dabei wirken Requisiten und Elemente bewusst und gut durchdacht platziert.

Dies ist nur eines von vielen Elementen von Hausners Regiestil: Eine weibliche Hauptfigur, welche in einem oder mehreren inneren Konflikten steht; schwierige Verhältnisse zu weiteren nahestehenden Personen und eine gewisse Verlorensein-Attitüde. Ebenso formt sich schon ihr technischer Stil, der in den nachfolgenden Filmen regelmäßig wiedererkennbar ist. Beispielsweise die Kamera, die auf ein schweigendes Gesicht zoomt oder auffallend laute, teils nicht passende Hintergrundgeräusche. So fällt es nicht schwer auch in ihren späteren Werken Verweise auf Flora und die Protagonistin selbst zu finden. Sei es das schwierige Verhältnis zu den Eltern bei Rita, die introvertierte und stille Irene mit den unnatürlichen Hintergrundgeräuschen, die nicht ganz so in die Situation passende Christine, die nachdenkliche Henriette oder die im Konflikt stehende Alice. Gerade der innere Konflikt erscheint als das wichtigste inhaltliche Element der Werke Hausners. So befreit sich auch Flora aus ihrem Druck und bricht aus. Sie steigt in das Auto und fährt weg. Ein offenes Ende, bei dem das Publikum nicht weiß, wie es mit Flora weitergeht. Flora ist weg und geht ihren eigenen Weg. Hausner verbindet Inhalt und Technik, so schafft sie einen besonders spannenden Aspekt der visuellen Erzählstrategie. Als Flora aus dem Lift steigt und den Gang durchquert, hört man ein vorbeifliegendes Flugzeug, welches für diese Einstellung unpassend ist. Dieser Stil wiederholt sich in allen Filmen und so betont Hausner Entscheidungen, Taten und Gedanken ihrer Hauptfiguren. Sie betont Elemente, die man sonst nur wenn überhaupt als Randnotiz wahrnehmen würde und leitet auf diese Art das Publikum durch ihre filmische Welt. In Flora spürt man davon sehr viel, denn Hausner setzt auf Detailstärke, die auch Floras Gedanken und Entscheidungen, innere Konflikte und Dispute mit ihrer Außenwelt sichtbarer machen.
Hausners nüchterne Inszenierungsform in ihrem studentischen Werk besticht nicht nur durch die Hervorhebung Floras innerer Welt, auch die Schicksale anderer Figuren werden erzählt. Die Laienschauspieler_innen überzeugen nicht immer mit ihren gespielten Emotionen, was aber der Handlung nicht unbedingt schadet. Floras Wandlung, besonders durch die erneute Abwendung von Jakob und die Initiative den eigenen Weg zu gehen, zeigt die Stärke der Hauptfigur. Die weiblichen Hauptfiguren wachsen und altern auch mit Hausners Karriere, so steht Flora für die Anfänge von Hausners Erzähl- und Inszenierungsstil. Im Film finden sich technische, als auch inhaltliche Elemente, die in ihren späteren Filmen wiederkehren.