Film als Ausnahmezustand: Zwischen Liebeserklärungen und Nilpferden auf der 74. Berlinale

Anna Sacher

Eineinhalb Wochen Berlinale sind ein gewisser Ausnahmezustand. Ja, natürlich wegen der (Welt-)Stars, mit denen zusammen man in den Premieren ihrer Filme sitzt. Ja, auch mehr Filme in einer Woche zu schauen als sonst in einem Monat ist außergewöhnlich. Aber zum Ausnahme-Zustand verhilft letzten Endes der tägliche Wecker um 7:00 Uhr für’s digitale Anstehen zum Ticketkauf. Dass auch mit größter Pünktlichkeit ab der Hälfte des Festivals keine Tickets mehr zu bekommen waren, scheint geteiltes ‚Leid‘ zu sein und birgt wohl oder übel die spontane Filmwahl, die ebenfalls ihre Vorteile hat. Auch scheint sich diese morgendliche Uhrzeit symbiotisch zu Tanz-Partys und nächtlichen Filmkritiken an Kneipentischen zu verhalten; Schlaf wird zur Nebensache. Böse Zungen würden behaupten, dieser könne dann während weniger begeisternden Kinobesuchen nachgeholt werden…

Und allein der Besuch im Kino-Gebäude ist bei der Berlinale nennenswert. Gezeigt werden die Festival-Filme in einer Mischung aus stilechten, teilweise historisch bedeutenden Kinos und auf der anderen Seite Mehrzweck-Veranstaltungszentren, wie das stilvolle HKW oder die weniger stilvolle Verti Music Hall. Der Berlinale Palast als Herzstück des Festivals steuert mit den zahlreichen Weltpremieren und anwesenden Filmteams den gewissen Glamour-Faktor bei. Während bei den für den Wettbewerb nominierten Filmen, das Filmteam nur für ein Winken und kurzes „Danke“ auf die Bühne kommt, werden andere Premieren von nachfolgenden Q&As begleitet. Auffällig scheint mir, dass diese Nachgespräche durchweg einen erhellenden, inspirierenden Charakter haben, sogar einen anderen Blick auf den Film ermöglichen (etwas, das sonst nicht selten zu kurz kommt oder sogar Gegenteiliges bewirkt).
Im Nachgespräch zu Tú me abrasas fügt sich das Team bestens in die Festival Sparte Encounters und tritt mit dem Publikum in einen Austausch über die mise-en-scène des Films. Der Essayfilm, der ein Kapitel aus Cesare Paveses Dialoghi con Leucò (1947) adaptiert und sich an lyrischen Fragmenten von Sappho entlang tastet, inszeniert dabei eine filmische Form des Lesens. Der Regisseur Matías Piñeiro erläutert, inwiefern die Montage von sich wiederholenden Filmsequenzen, die dem Medium sonst untypische Möglichkeit bietet, einzelne Passagen mehrmals anzuschauen und bereits während des Films über sie zu reflektieren. Die Repetition gleicht einem Auswendig-Lernen und kreiert in Tú me abrasas ein filmisches Gedicht: Filmsequenzen, die zu Beginn spezifischen Worten zugeordnet sind, hallen auch ohne die auditive Ebene als Sapphos Gedichte in den Köpfen des Publikums wider.
Im Publikumsgespräch zur Premiere von Shahid wird die Konzeption und selbstreflexive Ebene des Films nachbesprochen. In der biografisch inspirierten Erzählung der Regisseurin Narges Kalhor über ihr Vorhaben, ihren ersten Nachnamen „Shahid“ abzulegen, vermischt sich die Auseinandersetzung mit deutscher Bürokratie und die Bezugnahme zu iranischer Geschichte um Religion und weiblichen Widerstand. Während der Begrüßung des gesamten Filmteams auf der Bühne wird klar, dass die scheinbar realen Figuren im Film (Kalhor selbst, der Kameramann, die Ausstatterin, etc.) mit Schauspieler*innen besetzt wurden, die diese doubeln. Erst im Verlauf des Films trat Kalhor auch selbst vor die Kamera, um ihre eigne Position als nach Deutschland emigrierte, iranische Filmemacherin mit der von weniger privilegierten Migrant*innen in Kontext zu setzen.

Die Auseinandersetzung mit dem Material des Films und seinen Produktionsumständen und -verfahren ist bei den für den Wettbewerb nominierten Filmen weniger präsent (vorausgesetzt, dass auch mein Blick hierauf beschränkt ist, da ich erwartbarer Weise nicht alle 20 nominierten Filme gesehen habe).
In Pepe von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der für seine Regie mit dem Silbernen Bären prämiert wurde, ist eine experimentelle, filmische Position durchaus stark vertreten. Aus der Perspektive eines Nilpferds wird über eine Voice-Over-Stimme, Nilpferd-Aufnahmen und Einblicke in das Leben von Dorfbewohner*innen, die losziehen, um das Nilpferd zu töten, koloniale Vergangenheit und Gegenwart verhandelt. Pepe, das Nilpferd, stammt aus Afrika und wurde nach Kolumbien gebracht, um dort im Privatzoo eines Drogenbosses gehalten zu werden; es ist das erste und einzige Nilpferd, das auf dem amerikanischen Kontinent erschossen wurde. Das Nilpferd als Erzähler der Geschichte nimmt eine spannende Position ein, lässt den Film möglicherweise als magischen Realismus verorten, doch wird die Distanz zwischen den Bildern von Nilpferden und der sonoren Off-Stimme nie ganz aufgelöst. Vielleicht hätte eine etwas prägnantere Länge des Films sein Konzept noch überzeugender vermitteln können.
Vielen andere, im Wettbewerb nominierte Filme, folgen deutlich herkömmlicheren Erzählstrukturen- und perspektiven. In Small Things Like These von Tim Mielants basierend auf der Romanvorlage von Claire Keegan (2021) wird ein Teil irischer Vergangenheit erzählt und über die sogenannten Magdalen laundries, die über 150 Jahre als brutale Besserungsanstalten für Mädchen und junge Frauen von der katholischen Kirche betrieben wurden, aufgeklärt. Das Thema selbst scheint allerdings leider mehr als Angelpunkt der Handlung zu dienen, neben nachgereichten Texttafeln am Ende des Films, zeigt dieser hauptsächlich einen leidenden Cillian Murphy, der von seiner eigenen traumatischen Kindheit eingeholt, sich dem Elend einer selbstbezogenen Gesellschaft gegenübersieht. Dass dieser Film über die schreckliche Geschichte so vieler Frauen und Mädchen jegliche weibliche Perspektive außen vorlässt und am Ende die von Murphy dargestellte Hauptfigur sich allen Frauen aus seinem Umfeld zum Trotz als männlicher Held ausleben muss, sei hier nur einmal dahingestellt und bedarf einer weiterführenden Analyse.
Ein weiterer Wettbewerbs-nominierter Film, Vogter von Gustav Möller, bedient sich ebenfalls einer sehr klassischen Erzählstruktur, schafft es aber sein inhaltliches Dilemma bestechend scharf und ausdifferenziert auf die Leinwand zu bringen. Der Titel zu Deutsch „Wärter“, englisch umbenannt in Sons, gibt in der englischen Variante deutlich mehr preis. In einem dänischen Gefängnis besteht eine außergewöhnliche Verbindung zwischen einer Gefängniswärterin und einem neuen Insassen, der in den Hochsicherheitstrakt eingeliefert wird. Fast nie das Setting des Gefängnisses verlassend, geht es um Mütter und Söhne, um Rache und Vergebung, um Hilfe und vertane Hilfe. Vielleicht auch um Reue, vielleicht darum aber auch nicht. Der letzte Satz des Films, „Manche Menschen kann man nicht retten“, wird universell.

Spannend an der Berlinale Sparte der für den Wettbewerb nominierten Film ist, dass allein durch ihre schiere Anzahl eine solche Bandbreite hergestellt wird, die im Gegensatz zu anderen Sparten einen kuratorischen roten Faden weniger sichtbar werden lässt. Ein Miteinander in Kontext setzen, womöglich ein Vergleich der Filme, passiert ganz intuitiv, so verschieden die Filme auch sein mögen. Diese Kontextualisierung, die einer jeden Kuration inhärent ist, scheint mir während des Festivals oder auch in der Vergabe der Preise wenig reflektiert. Nicht, dass die Preise selbst an andere Filme vergeben werden sollten – aber der Prozess, die Standpunkte und Perspektiven der verschiedenen Jurys wären doch gerade für den Austausch und eigene Sichtweisen der Filme spannend, weiterführend und für einen kuratorischen Bogen des Festivals elementar.
Der Gewinner des diesjährigen Teddy Awards, dem queeren Filmpreis der Berlinale, All Shall Be Well von Ray Yeung, zeigt, inwiefern die Grenzen von Berlinale-nominierten und nicht nominierten Filme fließend sind, wurde dieser in der „Panorama“-Sparte gezeigt. Das Filmteam von All Shall Be Well macht bei seiner Danksagung deutlich, inwiefern dieser Preis ein wichtiges Zeichen sendet. Regisseur Ray Yeung, beschreibt, wie dem Team während der Akquirierung von Fördermitteln immer wieder entgegengestellt wurde, niemand würde einen Film über lesbische Frauen über 60 sehen wollen.
To wrap it up – was haben wir gelernt, neben der opaken Kuration eines Festivalprogramms, der brisanten Stimmung zwischen Festivalleitung und kommunaler, sowie Welt-Politik und unabhängig davon begeisternden und enttäuschenden Filmen; auf den Rücken des frierenden Crushes zu pusten ist das neue, queere Ich liebe dich, siehe Langue Étrangère und Young Hearts.

Festival der Stadt: Berlinale

Derya Satir

Festival der Stadt: Berlinale

Nach einer schlaflosen achtstündigen Busfahrt war ich endlich da. Im Dunkel der Stadt Berlin – um sechs Uhr früh. Ich war zuletzt im Sommer als 18-Jährige da, während Interrail mit meiner besten Freundin aus der Schule. Ich wusste, dass ich dieses Mal – anders als bei unserem kürzeren Aufenthalt – diese Stadt besser kennenlernen würde; denn diesmal war ich für die Berlinale da.

Als ich am Potsdamer Platz ankam, um meine Akkreditierung zu holen, war schon zu bemerken, wie dieses Festival den Charakter der Stadt beeinflusste und sich darin integrierte. Im Vergleich zu den zwei anderen Filmfestivals in den Großstädten, in denen ich gelebt habe – Istanbul und Wien – fand dieses Festival nicht nur in ausgewählten Kinos statt, sondern hatte seinen eigenen Platz mitten in der Stadt. Nach einem längeren Fußweg über den Boulevard mit Berlinale-Plakaten war ich an dem Ort, der als Herz des Festivals gilt: der Berlinale Palast, das namhafte Theater am Potsdamer Platz. Wie schon erwähnt, es waren ungefähr sechs Jahre vergangen, seitdem ich zum ersten Mal in Berlin war. Und ich muss gestehen, ich hatte bis jetzt keine bemerkenswerte Beziehung mit dieser Stadt. Berlin war für mich aber immer schon mit seinem großen Filmfestival verbunden; was sich nach diesem Besuch auch bestätigt hat. Die Berlinale war das Festival der Stadt, und die Stadt war die Berlinale.

Während meines viertägigen Aufenthalts habe ich insgesamt elf Filme gesehen, Shortfilmprogramme sind hier als einzelne Filme gezählt. Es war leider nicht all zu viel, aber ich musste auch manchmal raus aus dem Kino und die Stadt mit meinen Freund*innen genießen.

Nach einer langen schlaflosen Fahrt hatte ich den ganzen Tag vor mir. Gegen meine Müdigkeit war es eine perfekte Idee, mich direkt in die gemütlichen Stühle der Kinosäle zu begeben. Erste Station war The Crossing von Levan Akın, den ich durch seinen großartigen Film And Then We Danced aus dem Jahr 2019 vom Istanbul Filmfestival kannte. Die Lieder im Film klangen wie die Playlist eines Heimweh habenden Istanbuler. Alle Lieder waren mir und anderen Freund*innen aus der Türkei bekannt und versetzten uns wieder zurück in die Schulzeit. Das Thema war sehr berührend, aber ich frage mich, welche Rolle die Musik für die Thematik des Films spielt. Denn nach meinem Leben für 19 Jahre in Istanbul, erinnere ich mich nicht an solch eine musikalische Utopie, eher an ein düsteres Chaos.

Keine Angst, ich werde nicht jeden Film, den ich an der Berlinale gesehen habe, im Detail erzählen. Small Thins Like These von Tim Mielants, der zweite Film, den ich am ersten Tag gesehen habe, war eine große Enttäuschung. Wir, meine Freundesgruppe und ich, waren alle sehr gespannt darauf, Cillian Murphy – nach Oppenheimer – dieses Mal auf der großen Leinwand auf der Berlinale zu sehen. Es war ein Film mit großartigen und erfolgreichen Schauspieler*innen; unter der Produktion stehen Namen wie Matt Damon und wieder Cillian Murphy, die auch bei der Eröffnung in Berlin waren. Vielleicht sollte ich den Film noch einmal ansehen, wenn ich weniger schlaflos bin.

Den zweiten Tag habe ich verschiedenen Kurzfilm-Programmen gewidmet, wobei ich immer noch nicht sicher bin, ob dies eine gescheite Entscheidung war. Die Programm der Berlinale hatte für mich bisher keine begeisternden Filme bereitgehalten. Gerade die Kurzfilmwahl hatte mir keine große Freude bereitet; vor allem wenn ich diese mit meiner Erfahrung bei dem Kurzfilmprogramm der Viennale vergleiche. Deshalb hatte ich höhere Erwartung an die drei Filmen, die ich am nächsten Tag sehen wollte.

Favoriten von Ruth Beckermann hat den nächsten Tag eröffnet. Dank Beckermanns neuem Dokumentarfilm habe ich jede Sekunde im Kinosaal ohne Zweifel genossen. Der Film ist sehr sehenswert und ich bin sehr froh, dass ich diesen Film so früh sehen konnte, sogar noch vor seiner Premiere in Österreich. Der nächste Stopp war Ellbogen von Aslı Özarslan. Ein Film, bei dem ich mich erneut gefragt habe, ob das dargestellte Istanbul wirklich die Stadt ist, in der ich geboren wurde und jahrelang gelebt habe. In einem hyperromantisch und utopisch dargestellten Istanbul versucht die Hauptfigur, mit dem Tod des deutschen Jungen zurechtzukommen und ihre eigene Identität zu finden. Obwohl ich von diesem halb-türkischen Film nicht sehr begeistert war, sollte ich erwähnen, dass er eine Romanadaptation ist und der Debutfilm von einer jungen Regisseurin, auf deren neue Projekte ich mich freue. Immerhin hatte der Oscar-nominierte Regisseur Ilker Çatak vor seinem Meisterwerk Das Lehrerzimmer auch ähnliche Jugendfilme gedreht. Die allerletzte Station des Tages war Gokogu no Neko (The Cats of Gokogu Shrine) von Kazuhiro Soda. Nach dem Lesen der Zusammenfassung und Anschauen des Trailers hatte ich eine andere Beziehung zwischen den Katzen und Anwohner*innen der japanischen Stadt Ushimado erwartet. Es sah so aus, als ob Menschen und Katzen im Dorf ein fröhliches Zusammenleben erreicht hätten, obwohl der Film das ‚Katzenproblem‘ thematisierte, mit dem die Anwohner*innen unweigerlich umgehen mussten. Der Film stellte aber ein gutes Beispiel für ‚Observational Cinema‘ dar, mit dem ich mich im Rahmen der Vorlesung ‚Visual Anthropology‘ öfters beschäftigt habe.

Ich habe den letzten Tag mit Wo Tu (Above the Dust) von Wang Xiaoshuai begonnen. Den Film haben wir aber leider nicht bis zum Ende schauen können, da die Stimme der deutschen Einsprache sich mit den Popcorn-Stimmen von Schulkindern im Kinosaal vermischt haben. Es war leider nicht möglich, den Film in seiner Originalsprache zu sehen, ein Umstand, dessen Grund mir immer noch unklar ist. Was dagegen sprach, den Film zu mindestens ohne deutsche Einsprache zu zeigen, habe ich leider nicht rausfinden können. Dann habe ich einem weiteren Kurzfilmprogramm eine Chance gegeben, das aber leider die Eindrücke von Vorgestern nicht ändern konnte. Ich bin immer noch verwirrt von der Kurzfilm-Auswahl der Berlinale und fühle mich schlecht wegen der vielen nicht nominierten Kurzfilme, die einen Platz auf den Berlinale-Leinwänden verdient hätten.

Isabelle Huppert auf dem roten Teppich bei der Weltpremiere von
„Les gens d’à côté“ während der Berlinale am 19.02.2024.

Das größte Highlight des ganzen Besuchs war für mich die Anwesenheit von Isabelle Huppert bei der Premiere von André Téchinés neuem Film Les gens d’à côté (My New Friends) im Zoo Palast. Ich war sehr froh, sie auf dem roten Teppich zu sehen und vor allem im gleichen Saal mit ihr ihren neun Film anzuschauen. Téchinés Film hat uns von der Berlinale und Berlin mit einem sehr positiven letzten Eindruck verabschiedet, wofür ich sehr dankbar war.

Meine Freund*innen aus Wien und ich, die dachten, es wäre eine gute Pose, am 16.02.2024.
Von links nach rechts: Asena Koçan, Ege Yolsal, Sarp Olcay, Derya Satir, Deniz Alacakaptan, Samuel Helgert

Die Berlinale hat nicht nur mein Herz mit unvergesslichen filmischen Erlebnissen gefüllt, sondern auch einen Einblick in die Filmfestivalindustrie gegeben, wo keine Wahl ohne Grund getroffen wird. Nach dieser Erfahrung habe ich verstanden, dass ein Filmfestival eine breite Auswahl repräsentiert, die Menschen aus verschiedenen Hintergründen anspricht. Deshalb wäre es nicht richtig, in den Filmen eine andere Darstellung als ‚die orientalische Stadt der Musik – Istanbul‘ zu erwarten oder Kurzfilme zu erwarten, die ausschließlich mein persönliches Interesse treffen. Diese Reise war mehr als nur eine Ansammlung von Kinobesuchen. Es war eine Reise durch die Vielfalt menschlicher Emotionen und Perspektiven, erzählt durch die universelle Sprache des Kinos, eingebettet in das Herz einer Stadt, die mit ihrem Festival lebt und atmet.

Filmemachen im Anthropozän: Eine kritische Betrachtung der Berlinale 2024

Natascha Kline

Meine Reise zur Berlinale beginnt im Nachtzug von der Steiermark nach Berlin. In Wien steigen drei Frauen zu, wobei nur eine von ihnen dasselbe Reiseziel wie ich hat. Am darauffolgenden Morgen wird sie mir in ca. 45 Minuten und während des Zugfrühstücks ihr Leben im Schnelldurchlauf erzählen. Ich erfahre vieles. Unter anderem über ihre Tätigkeit als Schauspielerin und dass sie auch in einem der Wettbewerbsfilme zu sehen ist. Ich freue mich über die Begegnung. Wir werden uns wiedersehen.

Als ich im Hotel angekommen bin, lese ich vom Tod Alexei Nawalnys. Ich höre kreisende Hubschrauber. Ein Geräusch, das mich bis in die Abendstunden begleiten wird. Ich erfahre über den Staatsbesuch Volodymyr Zelenskyjs. Trotzdem vertraue ich zur Abholung der Akkreditierung der Fußweg Option von Google Maps. Schon fünf Minuten nach Start muss ich die vom Gerät vorgeschlagene Route aufgrund einer dem Gerät unbekannten Polizeisperre ändern. Es ist die erste von vielen folgenden, weswegen das Gerät meine veranschlagte Ankunftszeit immer weiter in die Zukunft korrigiert. Auskunft über die Dauer der Sperre kann oder darf nicht erteilt werden. Trotzdem versuche ich in regelmäßigen Abständen die Einschätzung der umherstehenden PolizistInnen zu erfahren. Ein junger Kollege, hörbar aus dem Umland, bleibt mir dabei ganz besonders in Erinnerung. Mit rotem Gesicht und erregtem Unterton blufft er mich an, dass sie schon in den Morgenstunden hierher gebracht worden seien und selbst überhaupt nichts wissen würden. Basierend auf der äußeren Erscheinung, male ich im weitergehen ein inneres Bild des aufgebrachten Mannes inklusive seines Wahlverhaltens. Heute frage ich mich, ob ich ihm damit eher Recht oder eher Unrecht getan habe. Die Abholung der Akkreditierung verlängert sich wegen der erfolgten Absperrungen jedenfalls um ein vielfaches und als ich endlich ins Hotel zurückkomme, habe ich neben Blasen an den Füßen auch die Gewissheit, dass ich den ersten Kinotermin nicht mehr schaffen werde.

Meine filmischen Begegnungen werden also etwas verspätet beginnen. Spielort ist wie so oft und so auch bei meinem letzten Berlinale-Film der Delphi-Filmpalast. Während meines Aufenthalts werde ich 16 Filme mit insgesamt 1888 Minuten Laufzeit sehen. Ich werde in acht verschiedenen Kinos.

sein, etliche Male einschlafen und am Ende trotzdem das Gefühl haben, die Welt nun ein klein wenig besser zu verstehen. Das Hauptkriterium für die Auswahl der Filme beruht an erster Stelle auf der Verfügbarkeit von Tickets, danach auf Interesse. Während der Sichtungen versuche ich immer wieder die Filme miteinander in Bezug zu setzen bzw. vor dem Hintergrund des Anthropozäns als Status quo zu sehen. Nachfolgend meine sehr persönliche Einordnung der Beobachtungen:

Der erste Film ist Redaktsiya, The Editorial Office, Roman Bondarchuk (Ukraine / Deutschland / Slowakei / Tschechien 2024, 126 min) und einer von insgesamt drei Filmen mit direktem Bezug zur Ukraine wobei zwei davon sich dokumentarisch mit dem Kriegsgeschehen auseinandersetzen: Intercepted, Oksana Karpovych (Kanada / Frankreich / Ukraine 2024) und Turn in the Wound, Abel Ferrara (Vereinigtes Königreich / Deutschland / Italien / USA 2024) folgen am nächsten Tag. Die Filme unterscheiden sich sowohl in ihrer Machart wie auch inhaltlich stark voneinander. Spannend finde ich den Ausgangspunkt von Redaktsiya welcher die Suche nach einer vom aussterben bedrohten Art ist. Das Thema aussterben wird mir am nächsten Tag in The Outrun, Nora Fingscheidt (Vereinigtes Königreich / Deutschland 2024) in Form des von ebendiesem bedrohten Wachtelkönigs wieder begegnen, wobei sich sowohl die Vogelart wie auch die alkoholkranke Hauptdarstellerin in einer bedrohlichen Situation wiederfinden. Der geregelte Ablauf, den die Suche nach verbliebenen Exemplaren mit sich bringt, unterstützt die Protagonistin auf dem Weg aus der Abhängigkeit. Der Film endet mit einem Schrei des Wachtelkönigs, gleichzeitig das erste filmische Lebenszeichen des Tieres. In Pepe (Nelson Carlos De Los Santos Arias, Dominikanische Republik / Namibia / Deutschland / Frankreich 2024) werde ich mit dem Nilpferd wieder einer bedrohten Tierart begegnen. Die Bedrohung bezieht sich allerdings auf die Population in ihrem ursprünglichen Habitat in Afrika. Die filmischen Nilpferde leben nun aber in Südamerika und stellen die einzig freilebende Population außerhalb Afrikas dar. Im Jahre Schnee und als Insignien der Macht auf Befehl von Pablo Escobar ins Land geschmuggelt, im Laufe der Zeit mehr als weniger sich selbst überlassen, hat sich die ursprüngliche Herde mittlerweile durch unkontrollierte Vermehrung vervielfacht und stellt nun ihrerseits eine Bedrohung für das hiesige Ökosystem dar. Auch in Gokogu no Neko (The Cats of Gokogu Shrine, Kazuhiro Soda, Japan 2024) ist die unkontrollierte Fortpflanzung der titelgebenden Katzen bzw. die Kontrolle ebendieserdurch die menschlichen ProtagonstInnen Thema. Die Katzen selbst werden hier jedoch weniger als Bedrohung inszeniert, sondern es dient die schwindende Katzenpopulation vielmehr als Metapher für menschliche Kontroll- und Regulierungswut. Während man die Katzen “fixed”, also kastriert und sterilisiert, werden bestehende Pflanzen gehegt bzw. nach persönlichen Vorlieben neu gepflanzt. Nicht ohne nebenbei vermeintliches Unkraut auszuzupfen. Die meisten der porträtierten Katzen sind am Ende der Dreharbeiten bereits verstorben. Das Aussterben als Unterart des Sterbens sowie das Sterben oder gestorben sein wird in insgesamt 15 von 16 Filmen verhandelt. Das Sterben in all seinen Ausprägungen bzw. als Konsequenz menschlichen Handelns ist im Anthropozän quasi omnipräsent. Insofern empfinde ich die mehrmalige filmische Einbettung des Themas als innere Logik des Films als Spiegel äußerer Verhältnisse. Das Aussterben als letzte Konsequenz wurde jedoch ausschließlich über nicht-menschliche Entitäten verhandelt. In Techqua Ikachi, Land – Mein Leben, Anka Schmid, Agnes Barmettler, James Danaqyumptewa (Bundesrepublik Deutschland / Schweiz 1989) wird allerdings auch die Bedrängung menschlichen Lebens verdeutlicht. Es geht dabei um die kulturelle Bedrohung der indigenen Gemeinschaft der HOPI. Hervorzuheben gilt, dass in allen Fällen die Bedrohung ausschließlich von menschlichen Entitäten ausgeht. Der Film stellt dabei ein unschätzbares Dokument über Verdrängung, Missachtung, vermeintlichen Fortschritt und das damit einhergehende Leid dar. Ich möchte an dieser Stelle die entschieden ablehnende Haltung eines Protagonisten zum als Fortschritt in Aussicht gestellten Straßenbau festhalten. In Henry Fonda for President, Alexander Horwath (Österreich / Deutschland 2024) findet die Straße erneut Erwähnung. Die Frage des Baus ist längst keine mehr und ihre Rolle als Handlanger des Kapitalismus und der damit einhergehenden Zerstörung offenbart sich langsam aber beständig. Auf die Frage “Do you think Big Business is out of control in this country?” lautet Henry Fondas gleichsam analytische wie lapidare Antwort “No, I don´t think they’re out of control. I think they´re gettin´ more and more in control (..)”. Die Bemerkung über seine zweite Ehefrau Frances Ford Seymour Fonda erscheint angesichts ihres geburtstäglichen Suizids hingegen ein wenig zu analytisch, findet aber beim nächsten Film sofort zurück ins Gedächtnis: “Es ist nicht einfach, mit jemanden zu leben, dem es nicht immer gut geht.” (Henry Fonda) So ähnlich könnte der Ehemann Wolf von seiner frisch angetrauten Ehefrau Agnes in Des Teufels Bad, Veronika Franz, Severin Fiala (Österreich / Deutschland 2024) gedacht haben. Auch hier endet die Verzweiflung der Protagonistin, wenn auch über Umwege, im Suizid. Dazwischen wird ein Huhn (als Belustigung) und Karpfen (für den Lebensunterhalt) erschlagen, eine Ziege geschächtet (!?) und tote Insekten gesammelt. Ein andermal nimmt die Hauptdarstellerin einen Schmetterling in den Mund. Diese sonderbare Szene sowie das Huhn werden mir im letzten Film des Abends wieder begegnen: Sasquatch Sunset, David & Nathan Zellner (USA 2024). Auch hier versucht ein Sasquatch (die kanadische Version des Bigfoot) einen Schmetterling erst zu küssen und dann in den Mund zu nehmen. In einer anderen Szene wird versucht, mit einer Schmuckschildkröte zu telefonieren. Sie beißt zu und wird daraufhin ins Gebüsch geworfen. Das Publikum lacht und meine Gefühle bewegen sich in ein weites Tal aus Resignation und Verzweiflung. Die nordamerikanische Schmuckschildkröte wird übrigens auch hierzulande gerne ins Gebüsch geworfen. Ausschlaggebendes Moment ist hier allerdings der Wunsch nach Ent-sorgung, Folge ist eine weitere, menschlich induzierte Bedrängung bestehender Ökosysteme. In einer anderen Szene wird die Vergewaltigung eines Pumas durch einen sichtlich (!) erregten Sasquatch angedeutet. Dass der Sasquatch sein Vorhaben mit dem eigenen Leben bezahlen wird, kann das Gesehene nicht ungesehen machen. Das wiederkehrende Huhn dient in dem Fall als Testobjekt für eine Eisenfalle. Wider aller Erwartung kommt es in dieser Szene jedoch nicht zum Äußersten. Ich lehne filmische Gewaltdarstellungen nicht kategorisch ab, doch war und bin ich noch immer über die wiederholt gezeigte, für den Plot unnötige und explizite Gewaltausübung sowie die Vorführung schutzbedürftiger Lebewesen erschüttert.2 Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch festgehalten werden, dass die Wahrnehmung der Straße als Achse des Bösen sozusagen auch in diesem Film thematisiert wird: Hier entscheiden sich die aufgebrachten Sasquatches nach der ersten Sichtung jedoch erst einmal ausgiebig auf diese zu sch***.

Die unaufhörliche Umwandlung natürlicher Stoffe in Asphalt und Beton fungiert im Anthropozän gleichermaßen als Denk-und Mahnmal menschlicher Aneignung. Ein besonders eindrückliches Beispiel menschlichen Gestaltungswillen lerne ich ganz nebenbei in Il cassetto segreto, Costanza Quatriglio (Italien / Schweiz 2024) kennen. 1968 führt ein Erdbeben zur vollständigen Zerstörung menschlicher Bauten von Gibellina (Sizilien). Die anschließend aus Absicht künstlerischer Auseinandersetzung von Alberto Burri erfolgte Versiegelung einer Fläche von annähernd 100 000 qm mit weißen Beton erscheint aus heutigen Blick nur mehr als gleißende Doppelung der ursprünglichen Zerstörung. Abschließen möchte ich diese Betrachtung mit Architecton, Victor Kossakovsky (Deutschland / Frankreich / USA 2024), in dem der anfänglich verhandelte und latent immer präsente Ukraine-Krieg insofern wieder aufgenommen wird, als dass der mit Zerstörung und Wiederaufbau einhergehende Ressourcenverbrauch thematisiert wird. Im Zwiegespräch von Regisseur und titelgebenden Architekt wird über die Notwendigkeit natürlicher, nach ihrer Nutzung wieder der Natur zuführbaren Baustoffe als Ersatz von Beton sinniert. Nun…solche Baustoffe gibt es bereits und im Angesicht des Abgrunds wäre ein kleiner Hinweis auf das in wenigen U-Bahn Stationen zu erreichende Futurium3 nicht nur naheliegend, sondern auch gefordert.

Nichts desto trotz freue ich mich, Teil der 74. Berlinale gewesen zu sein und ich bin dankbar für die vielfältigen Eindrücke und neuen Perspektiven.

Die zahlreichen einseitigen Solidaritätsbekundungen während der Berlinale Preisverleihung am 24.02.2024 waren nur schwer zu ertragen und haben ein beängstigendes Bild gezeichnet, das ich in dieser Form, von diesen Menschen, in diesem Umfeld noch vor wenigen Monaten, Wochen und sogar Tagen für unmöglich gehalten hätte.

TOP 3 Filme

Gokogu no Neko / www.berlinale.de/de/2024/programm/202401305.html
Yoake no subute / www.berlinale.de/de/2024/programm/202403438.html
Turn in the Wound / www.berlinale.de/en/2024/programme/202415631.html

TOP 3 Fremdschämmomente

Sasquatch Sunset: der gesamte Film / www.berlinale.de/de/2024/programm/202400954.html
The Outrun: Die Trommelmusik im Hintergrund, als der Freund der Protagonistin das erste Mal auf der Leinwand zu sehen ist / www.berlinale.de/de/2024/programm/202400987.html
Architecton: Habitus und Darstellung des Architekten, die völlig unreflektiert dem Schema alte, weiße Männer machen einen Film folgen / www.berlinale.de/de/2024/programm/202402846.html

Dauernd(es) Kino und Entdeckungen in der Retrospektive

Hans Bonhage

Ende Februar konnte ich mit einer Studierendenakkreditierung über die TFM im Gepäck nach Berlin reisen, um dort eine Woche lang (fast) nichts anderes tun als Filme zu schauen. Es war nicht mein erster Besuch bei der Berlinale: Ich war bereits im letzten Jahr dort, sodass der Umfang, die Größe und das Ausmaß des Festivals mir diesmal etwas weniger überwältigend vorkamen. Dennoch komme ich, wann immer ich in Berlin bin, nicht umhin, über die Vielzahl an schönen Kinos mit großen Sälen und Leinwänden zu staunen, die man anscheinend in einer Stadt versammeln kann. Wer die Filmfestivals in Wien oder Graz kennt, auf denen man schließlich ähnlich viele sehenswerte Filme entdecken kann, wird von der Weitläufigkeit und der Menge an (internationalen) Besucher*innen in Berlin sicherlich überrascht werden. Man muss sich hier schon ziemlich genau überlegen, welche Vorstellungen man in sein Programm aufnimmt, bevor man überrascht feststellen muss, dass die Verti Music Hall nicht in wenigen Minuten fußläufig vom Zoopalast erreicht werden kann. Wo wir schon bei den Spielstätten sind: Neben bemerkenswerten alten Kinosälen wie dem Kino International finde ich es auch eine besondere Freude, kleine Produktionen, Kunstfilme oder Restaurationen von Retrospektive-Titeln, die nach dem Festival größtenteils nie wieder in deutschen Kinos zu sehen sein werden, in riesigen, ausverkauften Multiplex-Sälen im Cubix (ein CineStar-Kino am Alexanderplatz, das für mich in diesem Jahr zu einem Festivalmittelpunkt geworden ist) oder im CinemaxX am Potsdamer Platz (dort finden ausschließlich Market- und Pressescreenings statt, zu denen man mit Studierendenakkreditierung aber zumindest teilweise Zugang hat) zu schauen.
Schon lange vor Beginn des Festivals war klar, dass diese Ausgabe von Veränderungen geprägt sein würde. Noch bevor es große öffentliche Debatten über die Anwesenheit von AfD-Abgeordneten bei der Eröffnungsgala oder Solidaritätsbekundungen während der Preisverleihung gab, wurde im vergangenen Jahr zunächst angekündigt, dass die Berlinale-Leitung nach der diesjährigen Ausgabe wechseln würde. Nachdem Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek bekanntgegeben hatte, ihren auslaufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen, gab im Herbst auch der künstlerische Leiter Carlo Chatrian – etwas weniger freiwillig, sondern von der politisch gewünschten veränderten Leitungsstruktur motiviert – seinen Rücktritt bekannt. Die Berlinale 2024 war somit die letzte, für die Chatrian und das aktuelle Programmteam unter Leitung von Mark Peranson – 2019 gemeinsam mit Chatrian aus Locarno gekommen – programmverantwortlich sein sollten. Neben diesen personellen Veränderungen (als neue Intendantin ab 2025 wurde Ende letzten Jahres übrigens Tricia Tuttle vorgestellt) waren es vor allem Sparmaßen, die für Veränderungen im diesjährigen Programm verantwortlich waren. Ein im Vergleich zum Vorjahr gekürztes Budget sorgte dafür, dass einige Sektionen (namentlich die Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series) ganz aus dem Programm gestrichen wurden und zudem in fast allen anderen Sektionen deutlich weniger Filme gezeigt werden konnten. Gerüchteweise stand auch die von der Deutschen Kinemathek organisierte Retrospektive vor dem Aus, konnte letzten Endes aber doch stattfinden. Wie das Retrospektive-Programm mit dem Titel „Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek“ von diesen Überlegungen beeinflusst wurde, bleibt Spekulation, aber es ist sicherlich keine allzu abwegige Vermutung, dass es ein kostengünstiger und weniger zeitintensiver Kompromiss sein könnte, ausschließlich Filme aus dem eigenen Archiv zu zeigen.


Um nun endlich zu den Filmen zu kommen, kann ich sagen, dass dieser Kompromiss – sollte es einer gewesen sein – definitiv gelungen ist. Im letzten Jahr hatte ich sie noch sträflich vernachlässigt, aber dieses Jahr konnte ich glücklicherweise immer wieder einzelne Filme dieser Retrospektive in meinem Zeitplan unterbringen (eine kleine Empfehlung nebenbei: im Gegensatz zu einigen Filmen aus den Hauptsektionen, für die es mir schier unmöglich war, Tickets zu ergattern, sind für die Retrospektive und andere Nebensektionen oft auch kurzfristig noch Tickets verfügbar). Mit dem Programm sollte dieses Jahr einen Überblick über unabhängige und unkonventionelle deutsche Filme zwischen 1960 und 2000 geben, die Auswahl bestand zum Teil zwar aus einigermaßen kanonisierten Filmen (wie etwa Roland Klicks Supermarkt (DE 1974)), der weitaus größere Teil der Selektion gab mir die Gelegenheit, wenig bekannte und wirklich sehenswerte deutsche Filme zu entdecken. Da wäre vor allem Ingemo Engströms Dark Spring (DE 1970), der einzige Film der Retrospektive, den zu sehen ich mir wirklich fest vorgenommen hatte. Bevor Engström jeweils in Zusammenarbeit zuerst mit Harun Farocki und dann mit Gerhard Theuring die zumindest etwas bekannteren Essayfilme Erzählen (DE 1975) und Fluchtweg nach Marseille (DE 1978) realisierte, schloss sie ihr Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München mit diesem Abschlussfilm ab. Ein Film, der zumindest mich formal an Filme Godards oder Straub/Huillet zur gleichen Zeit erinnert hat, diesen in nichts nachsteht und dabei klar feministische Positionen diskutiert. Zwischen Handlungsfragmenten und Naturaufnahmen stehen im Zentrum Gespräche mit einigen Frauen, die aus meist marxistisch-feministischen Perspektiven über ihre Vorstellungen von (Geschlechter-)Beziehungen, Gesellschaft und Zusammenleben nachdenken. Dass solche Perspektiven nötig sind, wird spätestens bei einem Blick auf die weiteren Filme der Retrospektive (und ihre Regisseurinnen) deutlich. Nachdem ich im weiteren Verlauf des Festivals noch Eva Hillers klarsichtigen Essayfilm Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen (DE 1991) und Bettina Flitners satirischen Kurzfilm Ich (DE 1988) sehe konnte, musste ich feststellen, dass ich damit fast schon das Gesamtwerk dieser Regisseurinnen kennengelernt hatte. Es ist erschreckend, dass die wenigen Frauen, die wie Engström, Hiller und Flitner an Filmschulen studieren oder auf anderem Wege erste (zumal so spannende) Filme drehen konnten, im Anschluss noch seltener die Gelegenheit bekommen, weiterzumachen. Schön, dass sie es immerhin in das Archiv der Kinemathek geschafft haben, um so wiederentdeckt zu werden. Bevor der Eindruck entsteht, die Retrospektive sei in diesem Jahr ein feministisches Manifest gewesen (eine Eingrenzung, die sicherlich auch möglich gewesen wäre): auch an Ulrich Schamonis Chapeau Claque (DE 1974) und vor allem Hellmuth Costards Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film (DE 1978) hatte ich große Freude, nicht nur, aber auch als Zeitdokument.Insgesamt 29 Filme konnte ich in meinen sieben Berlinale-Tagen unterbringen, zwei davon habe ich mir je zweimal angeschaut, und es war nur wenig dabei, was ich misslungen, langweilig oder auf andere Weise uninteressant fand. Daher schließe ich lieber mit einigen meiner persönlichen Favoriten, die ich vor allem in den Sektionen Encounters und Forum gesehen habe. Die meisten von ihnen sind mindestens so unabhängig und vor allem unkonventionell wie die Filme der Retrospektive und zu meinem Erstaunen und meiner Freude wurden erstaunlich viele von ihnen bei der Preisverleihung ausgezeichnet, die ich im Zug zurück nach Wien im Stream verfolgt habe. In Encounters war ich u.a. begeistert vom fast vierstündigen Direct Action (FR/DE 2024) von Ben Russell und Guillaume Cailleau, der in wenigen, langen Einstellungen das Leben einer Gemeinschaft von Aktivist*innen in Frankreich zeigt und dabei vor allem die alltägliche Lebens- und Arbeitsroutinen und weniger die Konfrontationen mit der Polizei in den Blick nimmt. In Ruth Beckermanns Favoriten (AT 2024), Nele Wohlatz‘ Dormir de olhos abertos (AR/BR/DE/TW 2024), Hong Sang-Soos Yeohaengjaui pilyo (KR 2024), Faraz Fesharakis Was hast du gestern geträumt, Parajanov? (DE 2024) und Matias Pineiros Tú me abrasas (AR/ES 2024) bin ich in ganz unterschiedlichen Formen Fragen nach Zusammenhängen zwischen Sprache und Zugehörigkeit, Sprache und Gefühlen, Kultur, Übersetzung und vielem mehr begegnet, die ich sehr inspirierend fand. Ähnlich wie Direct Action arbeiten auch Wu Suo Zhu (TW/US 2024) von Slow-Cinema-Meister Tsai Ming-Liang und The Periphery of the Base (CN 2024) von Zhou Tao mit langen Einstellungen, die zum genauen Hinschauen, zum Nachdenken über die Bilder und das Gezeigte einladen. Weniger leicht zu kategorisieren, zu vergleichen oder einzuordnen scheint mir Mati Diops Dahomey (FR/SN 2024), würdiger Gewinner des Hauptpreises, der in kurzer Spielzeit Fragen nach der Rückführung musealer Artefakte dokumentarisch, poetisch, debattierend und einfühlsam diskutiert. Ein ‚wichtiger‘ Film, könnte man sagen, der sich aber nicht auf der Relevanz seines Gegenstands ausruht, sondern immer auf der Suche nach filmischen Formen ist, die den Debatten gerecht werden und ihnen etwas hinzufügen.

Berlin als Stadt und Berlin als Business – eine Phänomenologie der Inklusion und Exklusion

Zachari Ivantchev

Im Rahmen meiner studentischen Akkreditierung von der Universität Wien durfte ich dieses Jahr die 74. Berlinale besuchen. Da dies erst mein zweiter Aufenthalt in Berlin war, verreiste ich mit dem Plan die Akkreditierung nicht nur im Sinne einer erfüllenden Festivalerfahrung zu nutzen, sondern auch, um mich mit der Stadt vertrauter zu machen.

Während meines Aufenthaltes wurde ich von diversen Erfahrungen immer wieder an Sara Ahmeds Text The Phenomenology of Whiteness erinnert (in: Feminist Theory, Bd. 8 (2), Thousand Oaks: Sage Journals 2007, S. 149-168). Ahmed argumentiert im besagten Text unter anderem, dass Räume, deren Funktion und deren Zugänglichkeit, durch die Körper welche in diesen Räumen anzutreffen sind, konstituiert werden (vgl. ebd., S. 157). Das Luxusrestaurant wäre beispielsweise ein Raum, welcher einem reinen Bourgeoisie Habitus gewidmet ist. Man kommt nur rein, wenn man diesen Habitus durch Manier, Gestus, Kleidung etcetera widerspiegelt. Es ist somit ein Raum, in welchem eine Person aus der Volksklasse der Zugang verwiesen werden würde, da deren Leib in einem diskrepanten Verhältnis zu den restlichen Körpern innerhalb des Raumes steht. Selbst wenn die Person der Volksklasse es in das Luxusrestaurant schaffen würde, würde diese durch die besagte Diskrepanz auffallen und fragwürdige Blicke ernten wodurch ein habitueller und somit freier und unbewusster Umgang mit dem eigenen Körper unterbunden werden würde, da im Angesicht der hier erläuterten Dynamik zwischen dem eigenen und den fremden Körpern, die Person der Volksklasse jede Bewegung bewusst vollziehen müsste um darauf zu achten nicht noch mehr aufzufallen (vgl. ebd., S. 152/157). Die hier beschriebene Dynamik beschränkt sich dabei natürlich nicht nur auf Wirtschaftsklassen, sondern ist in allen Identitätsstiftenden Zuordnungen, wie zum Beispiel Race, Gender oder Ethnizität, wiederzufinden.

Ich glaube, dass Berlin als Stadt sich vor allem durch ihr Image als diverser und inklusiver Ort an großer Beliebtheit bei einer Vielzahl an Gruppen erfreuen kann. Ein Raum, welcher von Vielfältigkeit geprägt ist, sollte schließlich auch ein Raum sein, welcher Zugang und freie Bewegung für alle konstituiert.

Eine These, welche ich zumindest anhand meiner subjektiven und äußerst kurzen Erfahrung bestätigen kann. Anders als das Klischee des „Berliner Grants” vermuten lassen würde, war Berlin für mich von einer Vielzahl an äußerst freundlichen und hilfsbereiten Menschen geprägt. Während ich es in Wien gewohnt bin innerhalb eines neuen Raumes gefüllt mit fremden Körpern, die erste Instanz des Kennenlernens zu spielen, ergo als erster “Hallo” zu sagen, wurde ich in Berlin von einer bunten Vielzahl an Menschen in allen möglichen Räumen als erstes angesprochen, wodurch eine für mich reibungslosere Bewegung innerhalb des sozialen Raumes konstituiert werden konnte. Auch die Interaktionen selbst, seien diese an der Kassa im Supermarkt, an der Bar mit einem Getränk in der Hand oder auch einfach nur auf der Straße, fühlten sich für mich äußerst friktionslos an, sehr entgegengesetzt zu meinem üblichen Alltag welcher sich oftmals wie ein von Irritation geprägter Hürdenlauf anfühlt. Während ich mich in Wien durch diese Irritation oftmals wie ein Fremdkörper fühle, fühlte ich mich in Berlin wie ein Teil einer gut geölten Maschine (dieser Vergleich ist abseits von Thesen der Rationalisierung innerhalb der Industriegesellschaft zu verstehen), in dem jede meiner Bewegungen reibungslos ineinander fließen. Die Art wie ich rede und wie ich mich präsentiere, fühlte sich in fast jeder Räumlichkeit in der ich Zeit verbrachte adäquat an ohne weitere bewusste Anpassungen von mir abzuverlangen.

Ein Aspekt der von mir erwähnten Reibungslosigkeit, dem ich besonderen Wert zusprechen möchte, ist die Abstinenz der Frage “Von wo kommst du?”. Eine Frage, mit der ich zumeist spätestens bei der Nennung meines Namens konfrontiert werde und bei mir auf ein hohes Ausmaß an Irritation stößt. Denn genau diese Frage fungiert oftmals als ein Apparat, mit dem ein ungleiches Machtverhältnis zwischen zwei Körpern etabliert wird (Ahmed selbst verweist mit dem Beispiel der Grenzkontrollen auf ein ähnliches Beispiel, vgl. Ebd., S. 161 – 163). In dem Moment wo die “einheimischere” Person, signifiziert durch ihren “österreichischeren/deutscheren” Namen, diese Frage stellt, hält sie den habituellen Modus der “fremderen” Person auf, hält das Gespräch an und inszeniert sich somit als Kontrolleur, welcher die Herkunft der “fremderen” Person erst einmal begutachten muss bevor das Gespräch weitergeführt werden darf. Zumeist lässt sich nach der Beantwortung dieser Frage auch ein unterdrückender Paradigmenwechsel in der Atmosphäre der Interaktion spüren, welcher sich durch das gesamte restliche Gespräch durchzieht. Die eigentliche hierarchisierende Funktion dieser Frage ist dabei schnell zu entlarven.

Ich werde gefragt, woher ich komme, ich antworte, dass ich im 17. Bezirk wohne. Unzufrieden mit meiner Antwort, fragt die Person erneut, „Nein, von wo kommst du?”. Ich antworte, dass ich in Wien geboren und aufgewachsen bin. “Nein, nein, von WO kommst du?” Ab diesem Zeitpunkt gehen mir die Optionen aus, ich gebe der Person das, was sie von mir will. Manchmal sind die “einheimischeren” Personen auch direkter, was ihre Motivation angeht. Neulich fragte mich ein Arzt während einer Untersuchung, woher mein Name kommt. Ich antworte mit “aus der Bibel”. Lachend, als würde ich nicht wissen, was er von mir will, formuliert er seine Frage um und fragt mich, von wo ich beziehungsweise von wo meine Eltern kommen. Auf das gute Verhältnis zu meinem Arzt angewiesen, gebe ich ihm die Antwort, die er von mir hören will.

Meine, für diesen Bericht zu lang und für die Kristallisierung der eigentlichen Problematik zu kurz geratene Tirade dient hier primär um zu unterstreichen, was für einen Unterschied es während meines Aufenthaltes in Berlin für mich gemacht hat, mit dieser Frage nicht konfrontiert zu werden. Und selbst wenn es zur Thematik der familiären Herkunft gekommen ist, war der oben beschriebene Paradigmenwechsel nicht zu spüren. In diesem Sinne fühlte sich Berlin für mich sehr wohl inklusiv an.

Umso mehr finde ich es daher schade, dass dieselbe Inklusivität nicht im Business Modell “Berlin” wiederzufinden ist. Man denke nur an die Berliner Clubszene, welche international für ihre strengen Kontrollen seitens der Türsteher*innen bekannt ist.

Auch eine Vielzahl an Bars und Restaurants sind mit abgeschotteten Fenstern und Türsteher*innen versehen. Während also Berlin als Stadt von einem Gefühl der Inklusivität geprägt ist, zeichnet sich Berlin als Business Modell mit einer Aura von Exklusivität aus.

Eine Aura, die ich auch innerhalb der Berlinale zu spüren bekommen habe.

Eine Freundin und ich haben Tickets für die Pressevorführung von The Box Man ergattert, welche im Cinemaxx am Potsdamer Platz stattfand. Beim Eingang zum Gebäude werden wir von zwei Damen nach unseren Akkreditierten Ausweisen gefragt, bevor uns der Zugang zum Gebäude erlaubt wird. Wir zeigen unsereAusweise und werden reingelassen. Ich fühle mich für einen kurzen Moment, als wäre ich besonders, bevor die Irritation einschlägt. “Wieso muss ich den herzeigen?” frage ich mich. Schließlich betrete ich ja nicht die eigentliche Vorführung des Filmes, ich betrete nur das Gebäude. Die Räumlichkeit, in der ich mich befinde, ist nichts besonderes, es ist letztendlich nichts mehr als ein glorifizierter Warteraum. Der Raum selbst ist ziemlich leer, es gibt genug Platz für alle. Ich teile einen kurzen Moment der Enttäuschung mit den Tourist*innen hinter mir, die sich nur kurz das Gebäude von innen anschauen wollten und gehe weiter zum Kinosaal.

Ein paar Stunden zuvor war ich ebenfalls am Potsdamer Platz. Im Hyatt Hotel, in der Nähe des Berlinale Palastes, fand zu dem Zeitpunkt eine Pressekonferenz zum Film A Different Man statt, die eine Freundin von mir besuchte. Während ich auf sie warte, gehe ich den Boulevard auf und ab und bemerke metallene Absperrgitter auf meiner linken und rechten Seite, welche drei verschiedene Wege in dieselbe Richtung formen. Die Ironie ist, dass man als Passant*in freien Zugang zu allen drei Wegen, die alle zum selben Endpunkt führen, besitzt. Ich frage mich, wofür sie wohl da sind. Eine Frage die ich beantwortet kriege als Schauspieler*innen das Hyatt Hotel verlassen. Die Passant*innen werden vom Personal auf zwei der drei Seiten umpositioniert um Raum für die glamorifizierten Körper der Darsteller*innen zu schaffen. Sogleich versammeln sich die Passant*innen um diese Körper und fotografieren sie ab. Ich erinnere mich an den bourdieuschen Aufstiegsdrang des*der Kleinbürger*in und fühle mich zum ersten und einzigen Mal in Berlin fehl am Platz.

Während meines Aufenthaltes, durfte ich in meinem Hostel eine freundliche Bekanntschaft mit einem Mann aus Irland schließen. Er war großer Techno Fan und ist extra nach Berlin gereist, um dessen Clubkultur zu erleben. Drei Tage später treffe ich ihn erneut im Hostel an. Er erzählt mir, dass er die letzten zwei Nächte damit verbracht hat, vor den bekanntesten Clubs in Berlin an der Warteschlange zu stehen, nur um dann von den Türsteher*innen nicht reingelassen zu werden.

Enttäuscht und frustriert kommentiert er: “Everyone says Berlin is supposed to be this inclusive city. That’s a load of bullshit.”

Visionen vom Zusammenleben. Ohne und mit Mauern

Joris Coerdt

Die 74. Berlinale 2024 droht retrospektiv überschattet zu werden von den Reden am Abend ihres vorletzten Tages. Die Gewinner von Nebenpreisen wurden plötzlich zum Politikum, viel mehr noch als der eigentliche Gewinnerfilm. Dabei war von dem Eklat auf dem Festival selbst kaum etwas zu bemerken. Müde murmelte man in den Schlangen vor dem Einlass über verpasste Wettbewerbsbeiträge, zuckte wohlwollend die Achseln über den Goldenen Bären für eine weitere Dokumentation, plante schon, welche Filme nachzuholen wären, die parallel zum Festival regulär im Kino liefen. Vielleicht war es die Trägheit nach zehn Tagen Festivaltrubel, vielleicht der Elfenbeinturm der Cineasten, aber eine tatsächliche Aufregung bezüglich der Israel-Palästina-Kontroverse in den Preisreden musste man am Abend selbst sowie am darauf folgenden Publikumstag in den Kinosälen schon suchen. Kam man jedoch Heim, so war die erste Frage nicht nach den Lieblingsfilmen, nach Star-Selfies oder Merchandisemitbringseln. Das Interesse brannte darauf, wie man selbst den Skandal erlebt habe. Die Antwort: Nicht anders als der Rest. Man las in den Nachrichten davon, so als wäre man nie vor Ort gewesen.

Dabei ist die Berlinale offensichtlich ein politisches Festival, viel mehr als Cannes oder Venedig. Das blieb auch nicht im Festivalalltag ausgeblendet. Auf dem Weg aus der Presse-Vorführung tuschelte man an jeder Ecke über den Tod Nawalnys, jedes zweite Q&A schwenkte den Scheinwerfer erst auf die Ukraine, dann in den Gaza-Streifen und die iranischen Filmschaffende vom Wettbewerbsbeitrag My Favourite Cake fehlten auffällig. Überhaupt bewies Carlo Chatrians letzte Programmauswahl für das Festival ein spürbares politisches Rückgrat. Egal ob Wettbewerb oder Nebenreihe, überall zogen sich die Themen Solidarität und Zivilcourage durch die Festivalfilme – inwieweit das ebenfalls auffällige Nebenthema Tod, Sterben und Trauer in Korrelation dazu steht, sei jedem zur Beurteilung selbst überlassen. Wie leben wir zusammen? Egal
ob als Mieter eines Wohnblocks (Shikun), in der Stadt unter Fremden (Langue étrangère, Black Tea, Les gens d’à côté), auf dem Lande und dem Dorf (Holy Week, Shambhala, Des Teufels Bad, Wo Tu), in der Pandemie (Hors du Temps), im Krieg (In Liebe, Eure Hilde, Marias Schweigen), im Alter (My Favourite Cake), als Kinder in der Schule (Favoriten, Gloria!) oder schlicht schon im Nukleus der Familie (Who Do I Belong To, Kottukaali). Überall betonten die Filme die gegenseitige Abhängigkeit, mal klassischer im Genregewand unter Gangstern wie bei Verbrannte Erde oder Love Lies Bleeding, mal experimenteller zwischen Nationen und Nilpferden bei Pepe. Immer wieder dabei mit der Frage nach dem Zusammenhalt vieler, nicht nach einzelnen Heldinnen oder Märtyrerinnen, sondern speziell nach den Unsichtbaren und Vergessenen am Rand. Dabei sowohl die unauffällige Kraft der zivilen Integrität betonend, wie beim nicht konkret militärischen deutschen Widerstand in In Liebe, Eure Hilde oder bei den nicht kollaborierenden baltischen Künstler*innen in Marias Schweigen, als auch den verdrängten Schrecken von strukturellem Antisemitismus (Holy Week), struktureller Misogynie (Des Teufels Bad) oder der aufkommende Faschismus in gar nicht so weit entfernten Ländern wie Kroatien (Through the Graves the Wind is Blowing). Wo sonst weggeschaut wird, schaute die Berlinale hin. Schmerzvoll wie aber auch hoffnungstiftend. Neben drei bemerkenswerten, wenn auch sehr unterschiedlichen österreichischen Beiträgen dazu (Des Teufels Bad, Favoriten, Andrea lässt sich scheiden), tat sich dabei aber besonders der deutsche Film auf dem Festival hervor. Zum Gegenwartskino hin war sicher das letzte Jahr mit Petzold, Schanelec und Hochhäusler als Zentralgestirn der Berliner Schule stärker für das deutsche Kino auf der Berlinale. Wobei sowohl Arslans neuer Film Verbrannte Erde als schnörkelloser Gangsterstreifen im Geiste seines Im Schatten beeindrucken konnte als auch Dresen mit seinem Hilde einen der besten, zu Unrecht nicht prämierten Wettbewerbsfilme lieferte. Eher zeigte aber das deutsche Kino seine Qualität in der diesjährigen Retrospektive zum Anderen Kino. Die Deutsche Kinemathek präsentierte dabei ihre oft übersehenen Schätze von Filmemacherinnen aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die nicht denselben Weltruhm wie Fassbinder, Herzog oder
Wenders erhielten und nicht mit diversen Blu-ray-Boxen gesegnet sind. So bekam man die womöglich einmalige Gelegenheit Filme von Roland Klick, Helke Misselwitz, Thomas Brasch, Jeanine Meerapfel oder Hansjürgen Pohland auf der großen Leinwand zu sehen. Und was sich dabei besonders bemerkbar machte: Wie aktuell diese Filme noch immer sind, sowohl in ihrer künstlerischen Ästhetik als auch in ihren gesellschaftlichen Diagnosen. Gerade Meerapfels Porträt des Fremdseins und der jüdischen Identität in Deutschland in Im Land meiner Eltern oder das vom Rechtsruck zerrüttete Ostdeutschland in Herzsprung von Misselwitz waren geradezu erschreckend gegenwärtig. Man kann nur hoffen, dass diese Filme neu publiziert und wiederentdeckt werden, liegen sie doch offenbar vor und das auch noch in tadellosem Zustand, oft sogar kürzlich erst restauriert. Erfreulicherweise waren alle Vorführungen der Retrospektive, die ich besuchte, nahezu ausverkauft. Das Interesse scheint also zu bestehen.
Doch war die Berlinale nicht nur politisch. Die Classics waren mehr Delikatessen für Cinéphile, sei es mit Tarkowskijs Schwanengesang Offret, Scorseses launigen Nachtabenteuer After Hours, Tsais Melonen-Sexmusicalkomödie The Wayward Cloud oder den beiden Lubitsch-Komödien Kohlhiesels Töchter und The Love Parade. Auch im Gegenwartskino bestätigte sich die Tendenz der Berlinale neben einer naheliegenden Präsenz deutscher Filme und der Einladung entlegenster Kleinproduktionen aus unterrepräsentierten Ländern wie Nepal oder Tunesien, immer mehr amerikanische Independet-Produktionen aufzunehmen. Wobei man mittlerweile fragen mag, wie Indie A24 nach all dem Wachstum noch ist. Alle Highlights aus Telluride und Sundance laufen auch in Berlin, gewinnen sogar im Fall von A Different Man Preise im Wettbewerb. Durch das vorher schon gesammelte Prestige sind die Schlangen vor den Filmen für die Chance auf Resttickets damit umso länger. Jedoch regt sich eine gewisse Skepsis, ob dies nicht den Rang der Berlinale als Festival schadet, wenn sie sogar im Wettbewerb Filme nur als Zweites oder Drittes spielen. Ich
freute mich sehr, beispielsweise das Mutter-Tochter-Drama Janet Planet zu sehen, doch gerade weil ich schon seit der Premiere Anfang September letzten Jahres in Telluride von dem Film gehört hatte. Natürlich lockern originelle Genreinnovationen wie die Komödie Between the Temples oder
das Horrordrama I Saw the TV Glow das politische Festival auf. Doch lauert dahinter nicht auch der verzweifelte Erhalt von Relevanz durch Starpower auf dem roten Teppich mit ein paar Hollywoodnamen? Der Abgrund tut sich gerade dann auf, wenn die Gewinnerfilme letztlich doch die gewohnten Berlinale-Gewinner bleiben, kleine Arthouse-Produktionen, die selten als der beste Film wahrgenommen werden, bei deren Thema man sich aber auf dessen Wichtigkeit einigen kann. Mati Diop gehört sicher zu den aufregendsten Stimmen des Gegenwartskinos, doch fühlte sich ihre
Raubkunst-Doku Dahomey bei aller Aktualität deutlich weniger wie ein Festivalgewinner an als noch ihr Vorfilm Atlantique. Natürlich gönnt man auch Hong Sang-soo seinen weiteren Preis, wobei es wie eine Erlösung wäre, wenn er endlich mal den Hauptpreis holen könnte und weiterzieht. Denn so bekommt die Berlinale nicht nur etwas Vorhersehbares in ihrem Wettbewerb, man verliert vor allem die Begeisterung an der Preisverleihung und der Goldene Bär schrumpft neben Löwen und Palme immer weiter als Qualitätssiegel. Was von der Preisverleihung primär bleibt, sind kontroverse Reden. Sollte das bei einem Filmfestival so sein, egal wie politisch es sich versteht?
Denn da waren doch die kleinen, starken Produktionen, die beides schafften und dankenswerterweise, wenn auch eher übersehen, ausgezeichnet wurden: So etwa Shahid von der iranisch-stämmigen Filmemacherin Narges Kalhor, die in ihrem autofiktionalen Essay-Drama-Doku-Hybriden von einer überkomplizierten Namensänderung bei den bayerischen Ämtern in eine viel tiefere Identitätskrise einer migrantischen Künstlerin eintaucht. Aber auch die alten weißen Männer haben noch etwas zu sagen. Während Scorsese mit Made in England: The Films of Powell and Pressburger Filmerbe vermittelt, blickt Edgar Reitz in Filmstunde_23 auf seinen Versuch zurück, Film zum Schulunterrichtsfach zu machen, und reflektiert mit den damaligen Schülerinnen von vor 55 Jahren darüber, was für eine gesellschaftliche Utopie möglich wäre, wenn wir durch so einen Unterricht bewusster sehen und erinnern würden. Wie so oft liegen diese Schätze am eher spärlich besprochenen Rand des Festivals, doch muss man lobend betonen, dass die Berlinale auch solchen Filmen immer eine Bühne bietet und damit unterstreicht, wozu Festivals da sind, wozu das Kino fähig ist. Der Besuch des Festivals hat sich also mehr als gelohnt.

Vielfalt und Herausforderungen: Ein Blick auf die 74. Berlinale

Hannah Gilan

Vom 15.02. bis zum 25.02. fand die 74. Berlinale in Berlin statt. Von den über 200 ausgewählten Filmen hatte ich die Möglichkeit 34 von ihnen in meiner Zeit in Berlin zu sehen. Dieses Jahr gab es Filme aus 80 Produktionsländern; 13 mehr als letztes Jahr. Durch die ganze Vielfalt und verschiedene Spielstätten hatte man viel Auswahl, als Akkreditierte*r konnte man noch zwischen Press Screenings und regulären Screenings wählen. Gerade bei den regulären öffentlichen Screenings hat man vor, während und nach jedem Film die Reaktion des breiten Publikums sehen können, welches oft Rassismus und Klassismus repräsentierte, weswegen ich in meinem Erfahrungsbericht einen Fokus auf das Zwischenmenschliche legen möchte.

Die ersten Tage waren ein echter Kampf für Tickets – für den ersten Tag Tickets zu erhalten war so gut wie unmöglich, manche Screenings konnte man nur mit Einladung besuchen. Dafür gab es aber freien Eintritt in die Deutsche Kinemathek, passend mit Berlinale Merchandise am Ausgang. Wenn man aber Tickets ergattert hat, waren diese meistens nur für Press Screenings, gefüllt mit Journalist*innen und Professionellen, wenigstens war das der Anschein. Die meisten Trugen Berlinale Merch der vorherigen Berlinalen, viele kannten sich von früheren Jahren. „Ich sehe dich ja nur zur Berlinale!“ Die Presse Screenings waren immer sehr ruhig, man spürte während des Filmes die Konzentration in der Luft, um einen herum wurden Notizbücher vollgeschrieben und mit Anspannung auf die Leinwand geschaut. Das war ein großer Kontrast zu den öffentlichen Screenings.

Die meisten Filme, die ich gesehen habe, kamen aus dem südostasiatischen Raum; diese Filme wurden meistens im Delphi Filmpalast gezeigt. Nach den meisten Filmen wurde ein Q&A mit den Filmteams organisiert, bei welchen sich der wahre Charakter der Zuschauer gezeigt hat. Jedes Mal wurden rassistische Kommentare in den Raum geworfen, ob nur zum Sitznachbar*in oder an das Filmteam direkt. Erwachsene Menschen ahmten die Filmemacher nach, zogen an ihren Augen, um das „Schlitzaugengesicht“ nachzumachen und machten sich über die Kleidung der Charaktere lustig, vor allem über die Saris. Bei dem Film Kottukkaali, einem Film über eine junge Frau, die sich in einen anderen Mann verliebt hat als in ihren ausgewählten Verlobten und ihre Familie sie deswegen zu einem Exorzisten bringt, war das Publikum empört, weil trotz der feministischen Einstellung des Filmes beim Q&A nur Männer anwesend waren. Die Erklärung, dass die Frauen keine Visa bekommen hatten, reichte nicht.

Ähnliche Situationen spielten sich beim Film In the Belly of a Tiger ab. Dieser Film spielte in Indien und verfolgte ein Dorf, welches wegen seiner Armut von einer Ziegelfabrik ausgenutzt wurde. Die Familien des Dorfes ließen ein Familienmitglied von dem Tiger im nahen Wald gefressen zu werden, damit sie Geld als Entschädigung vom Eigentümer bekommen. Eine dramatische und tragische Darstellung von Armut in einem kapitalistischen System. Trotz der ernsten Themen schaffte dieser Film durch Glauben und familiären Zusammenhalt eine Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Geschehnisse sind von wahren Begebenheiten inspiriert, es wurde in dem originalen Dorf gefilmt und viele der Schauspieler*innen waren auch wirkliche Dorfbewohner*innen. Nur: aus dem Publikum kam Entsetzen, wieso denn die Menschen keine Revolution anfingen, sie hätten doch genügend Leute und hätten diejenigen, die die Ziegelfabrik leiteten, umstürzen können. Es wurde sogar Karl Marx Wort für Wort zitiert. Der Regisseur und sein Team versuchten zu erklären, dass sie der Wahrheit treu bleiben und das Leben an sich darstellen wollten, aber diese Antwort traf auf Entsetzen.

Der Favorit des überwiegend deutschen Publikums waren die deutschen Filme; ich habe zwar nur zwei gesehen, Verbrannte Erde und Porzellan, aber beide wurden groß gefeiert. Obwohl beide in sehr unterschiedlichen Welten spielten, verband sie jedoch eine sehr ähnliche Ästhetik. Dunkle, kalte Farben, Rückenfiguren, Pokerface aller Charaktere. Verbrannte Erde war der zweite Teil der Trojan-Trilogie von Thomas Arslan, der den Berufskriminellen Trojan verfolgt, wie er nach einer längeren Pause von Berufsleben nach einem neuen Job in Berlin sucht. Ein großer Teil des Filmes spielt in Autos, meistens beim Fahren. Die Figuren werden mit neutralem Gesichtsausdruck am Steuer gefilmt, in der Dunkelheit, nur von roten Ampeln und Straßenlaternen beleuchtet. Die Emotionslosigkeit wird auch in Stresssituationen nicht unterbrochen wie zum Beispiel beim Erschießen. Ähnlich ist es bei Porzellan, einem Kurzfilm, der die 10-jährige Fina auf einer kleinen Insel im Norden Deutschlands zeigt. Sie und ihre ältere Schwester, die allein mit dem Vater sind, nehmen an einem Polterabend teil. Fina fehlt ihre Mutter und sie klammert sich an einen Teller als Symbol für die Verbindung mit der Mutter. Laut der Beschreibung: „[…] Durch die Augen von Fina wirft der Film einen Blick auf weibliche Rollenmuster und auf Erfahrungen und Emotionen, die über Generationen hinweg das Erwachsenwerden begleiten.“ Jedoch fehlt jegliche Emotion. Es gibt einen Wutausbruch von Fina, bei welchem Fina nur als Rückenfigur gezeigt wird und er mit einer Umarmung von hinten von ihrer Schwester beendet wird. Beim Q&A wird die Message vom Älterwerden in einer patriarchalen Gesellschaft mitgeteilt, wo nach der Erklärung Jubel zu hören ist.

Der Gewinner des Goldenen Bären ist der Film Dahomey von der Regisseurin Mati Diop. Dieser Dokumentarfilm teilt über die Personifikation einer gestohlenen Statue die Geschichte des heutigen Benin mit. Die Statue spricht lyrisch in ihrer Muttersprache über ihre Gefühle, erklärt, wie sie zunächst fremd in einem fremden Land war, aber nun fremd im eigenen Land ist. Das Ende des Filmes ist eine Debatte zwischen Studenten über Kolonialität, die Rückkehr der Artefakte ihrer Vorfahren und über die heutige Politik und Geschichte Benins. Ich würde Dahomey direkt mit dem Film Das leere Grab vergleichen – einem Film mit dem gleichen Thema, aber auf einer viel persönlicheren Ebene mit direkter Verbindung zu Deutschland. Dieser Film der Berlinale Specials-Kategorie fokussiert sich im Gegensatz zu Dahomey nicht auf Kunst, sondern die Gebeine der Menschen aus Tansania, die von Kolonialmächten wie Deutschland aus ihren Gräbern gestohlen wurden. Der Herzschmerz der generationalen Traumata, die diese gestohlenen Überreste der Familienmitglieder bei diesen Familien ausgelöst haben, wird sehr menschlich und natürlich dargestellt. Mnyaka Sururu Mboro, Lehrer und Aktivist geboren in Tansania, verbindet Deutschland mit Tansania, hilft bei Nachforschungen, erklärt die kolonialistische Geschichte Deutschlands und zeigt auf die Wichtigkeit der Rückkehr der Gebeine und auf das Aufhören vom Feiern der Kolonialisten. Der Fakt, dass die Ministerin, mit der er gesprochen hat, aus der Familie eines der größten und brutalsten Kolonialisten stammt, ist auch ein „netter“ Touch. Man konnte spüren, dass das Publikum (wieder überwiegend Deutsch) sich nicht sehr wohl bei dem ganzen Thema fühlte, also kann man sagen, dass beide Filme ihren Zweck erfüllt haben, und das grandios.

Ich bin unfassbar dankbar für die Möglichkeit, bei der Berlinale dabei gewesen zu sein. Auch wenn die meisten Filme, die ich als meine Favoriten bezeichnen würde, keine Preise gewonnen haben, würde ich sie gerne hier erwähnen.

Keyke mahboobe man, eine Liebensgeschichte zwischen zwei 70-jährigen in Teheran. Zärtlich, lustig, tragisch und kritisch zur Welt um sie herum. Es ist immer wieder erfrischend, Liebe im späteren Alter zwischen zwei Charakteren, die nicht stereotypisch attraktiv sind, zu sehen.

Der Dokumentarfilm Jestě nejsem kým chci být zeigt die Lebensgeschichte von Libuše Jarcovjáková durch ihre analogen Fotografien. Von ihrer Kindheit, über den Prager Frühling, das neue Regime in der Tschechoslowakei bis zu ihrer legalen Flucht und Leben im Ausland wird uns alles erzählt. Ein besonders interessanter Aspekt ist ihre Sexualität und der Prager T-Klub, der als Treffpunkt für die queere Szene galt. Noch interessanter wird der Film im heutigen Kontext, wo in der Slowakei das Kulturministerium alle Organisationen und Veranstaltungen, die in irgendeiner Weise mit der LGBTQIA+ Community zu tun haben, nicht nur nicht finanziell unterstützen, sondern ganz verbieten möchte. Es wird in der nahen Zukunft Screenings in Tschechien geben, aber keine in der Slowakei.

Die österreichische Drehbuchautorin und Regisseurin Anja Salomonowitz erschuf mit ihrem Film Mit einem Tiger schlafen eine eigene Art des Biopics. Maria Lassnig wird von Birgit Minichmayr in allen Altern gespielt, nur das Kostüm und Umgebung ändert sich. Im Nachgespräch meinte Salomonowitz, dass sie Biopic als Format sehr kritisch sieht, da Regisseur*innen nie die Realität 1:1 darstellen können. Ihre eigene Version des Biopics ist lebendig und frisch und es ist faszinierend, eine Schauspielerin alle Altersstufen eines Menschen spielen zu sehen.

Die Berlinale hat mir zahlreiche Lernmöglichkeiten geboten, ob nun direkt mit Seminaren oder durch das pure Schauen von Filmen und Beobachten des Publikums. Ich kann meine Dankbarkeit nicht genug betonen. Es ist interessant zu sehen, welche Filme die Jurys beeindrucken konnten und welche wiederum mich. Auch zu sehen, wo die Empathie der Menschen im Publikumsraum anfängt und wo sie endet, war ein neues Erlebnis, wegen welchem ich wahrscheinlich die nächsten Monate jegliches Kino meiden werde und mir einen DVD- und BluRay-Player besorgen werde.

Zwischen kühlen Temperaturen und herzerwärmenden Momenten: Ein Berlinale-Erfahrungsbericht

Cosima Rauch

Berlin empfing mich mit reichlich Regen. Typisches Februarwetter, aber dennoch lag etwas anderes in der Luft. Etwas Unbekanntes, was ich so zuvor noch nie erlebt hatte. Um mir rum schwirrten die Menschen von rechts nach links und sie blieben erst stehen, wenn das Zusammenstoßen mit anderen Menschen zu drohen schien. Filmemacher*innen von allen Ecken der Welt kamen auf 892km2 zusammen, um die 74e Berlinale zu erleben. Das Programm dieses Jahr war vielfältig, divers und trotzte vor neuen Ideen, welche nur darum baten, von der Welt wahrgenommen zu werden. Und das tat ich. Ich schaute mir einen Film nach dem anderen an. Rannte von Spielstätte zu Spielstätte und machte erst halt, wenn der Hunger zu groß wurde. Nach knapp 741 Sichtungsminuten war der Hunger sehr groß.

Auftakt meines Filmmarathons machte Teaches of Peaches. Ein Dokumentarfilm über die kanadische Sängerin Peaches, welche eine Tour plant, um ihre größten Hits für neue und alte Fans erneut auf die Bühne zu bringen. Eine Mischung aus privaten Archivaufnahmen, Videomaterial von den Vorbereitungen der Tour sowie der eigentlichen Tour und Interviews von Freund*innen bieten Einblick in das Geschehen rund um Peaches Karriere. Nicht nur die visuell-ansprechenden Ausschnitte waren Grund für meinen Besuch des Filmes, sondern auch Peaches politischen Standpunkten. Der Dokumentarfilm überzeugt mit Transparenz über relevante politische Themen, so wie Abtreibung und Feminismus und so ist es nicht überraschend, dass die Sängerin den roten Teppich der Berlinale mit einem nude-farbenen Slip beschreitete, welchen den Aufdruck „FCK AFD“ klar leserlich in der Mitte zentriert hat. Ein deutliches Statement zu der aktuellen politischen Lage in Deutschland, aber auch zu der Entscheidung der Berlinale, Politiker*innen der AFD wieder auszuladen nach der Spannung rund um die Partei in den vergangenen Wochen.

Den zweiten Film, denn ich mir ansah, war Comme le feu. Ich muss gestehen, mein Interesse für den Film galt zuerst dem Ursprungsland und der Prämisse, dass der Film in den Wäldern Kanadas spielen würde. Eindrucksvolle Cinematography, gepaart mit einer spannenden Storyline baten genug Material für Denkanstöße bezüglich falscher Freundschaften und unerwarteter Liebe. Motive, die mir im Rahmen von knapp anderthalbstündigen Filmen meist zusprechen. Aber als die zweite Stunde bei Comme le feu anbrach und weder ein Ende noch eine neue Thematik in Sicht waren, kam der Film mir langsam zäh vor. Fast drei Stunden füllte Philippe Lesage mit einer Storyline, welche nach nicht einmal zwei Stunden vollstens erzählt und erforscht war.

In the Belly of a Tiger war ohne Zweifel mein Lieblingsfilm, welchen ich im Rahmen der Berlinale schauen konnte. Nach meiner Enttäuschung nach Comme le feu betrat ich den Kinosaal des Delphi Filmpalastes eher verunsichert, konnte aber nach der Eröffnungsszene des Filmes direkt erkennen, dass dieser Film mir gefallen würde. Ein Dorf in Indien, welches von Kapitalismus und Armut geplagt wird, findet sich dabei wieder, wie es ältere Menschen an einen Tiger opfert, damit die hinterbliebene Familie von den Kompensationen des Staates profitieren können. Der Film ist brutal, herzzerreißend und wie ich von dem Regisseur Siddharth Jatla später erfuhr, basierend auf einer wahren Geschichte. Er hatte zuerst von diesem Dorf aus einer einfachen Schlagzeile erfahren und wusste direkt, dass diese Geschichte komplexer sein musste, als die Zeitung es scheinen lassen wollte. So kam es zu der Entstehung von In the belly of a Tiger, welcher im Kern ein Statement gegen den Kapitalismus ist. Skript, Cinematography und Plot sind einzeln so stark und vollkommen, dass der Wunsch nach mehreren Sichtungen dieses Filmes definitiv keine Überraschung ist.

Reas war laut, schrill und bunt. Ich ging in den Film mit der Erwartung rein, eine typische Gefängnisgeschichte zu hören und überrascht wurde ich mit einem Musical über die Höhen und Tiefen von queeren Gefängnisinsassinnen. Der Film punktet mit seiner Diversität, welche nicht Fiktion, sondern biografisch ist. Denn Lola Arias schaffte es aus einem vorherigen Gefängnisprojekt einen Film zu machen, welcher echte, ehemalige Insassinnen und deren wahren Geschichten porträtiert. Besonderen Eindruck auf mich machte Nacho, ein Transmann, welcher in einem weiblichen Gefängnis seine Zeit absitzen musste. Er berichtet von den Umständen in anderen Gefängnissen, welche zwar Transfrauen anerkannten, jedoch Transmännern Zugang zu Testosteron verweigerten. Dies sind Themen, mit denen ich mich zugegebenermaßen nie auseinandergesetzt hatte, aber besonders im Kontext eines unbeschwerten Musicals erfrischend fand. Tanzeinlagen gaben dem Film Leichtigkeit an Stellen, welche sonst sehr traurig gewesen wären.

Wer gerne Komödien schaut, schaut auch gerne Adam Sandler Filme. Er ist eine Ikone, was Entertainment und Humor angeht. Trotzdem schafft er es in seinem neuen Film Spaceman komplett aus seinem typischen Rollenmuster auszubrechen und statt die Zuschauer*innen zum Lachen zu bringen, wurden viele im Kinosaal eher sentimental und melancholisch.

Spaceman ist kein klassischer Raumfaher*infilm, welcher von dem Chaos an Board eines Raumschiffes erzählt. Vielmehr ist das Chaos in diesem Film in dem Raumfahrer Jakubs Kopf. Seine zerbrechende Ehe und den verlorenen Kontakt zu seiner Frau Lenka, gepaart mit seinem Schlafverlust machen ihm zu schaffen. Als dann die CGI-generierte Spinne Hanus auftaucht, um gemeinsam mit ihm sein Leben zu reflektieren, war mir klar, das ist nicht der Adam Sandler, den ich aus Kindsköpfe kenne. Ungewohnt tiefgängig und emotional schaffte er es in seiner Rolle Jakub das Konzept von Schuldgefühlen und Vergebung zu erarbeiten, in einer Art und Weise, welche ich aus keinem anderen Film so kenne. Der Film ist definitiv sehenswert.

Seven Veils war ein Film, welchen ich mit hoher Erwartung besuchte. Die Mischung aus Amanda Seyfried, einer kanadischen Produktionsfirma und der Thematik der Oper brachten mein kanadisches TFM-Herz zum Höherschlagen. Und der Film enttäuschte nicht. Traumata aus ihrer Kindheit verarbeitet die Protagonistin Janine, während sie ihren Schmerz in der Hauptfigur der Oper Salome wiederfindet. Symbiotisch ging der Prozess der Vorbereitung der Inszenierung mit ihrer eigenen, seelischen Heilung einher. Der Film ist besonders für diejenigen gemacht, welche sich wohl mit Themen der Übergriffe fühlen und Interesse an Aufarbeitung von Kindheitstraumata haben.

Der letzte Film, den ich auf der Berlinale schaute, war The Human Hibernation. Wer die Berlinale für eindrucksvolle und bedeutsame Drehbücher besucht, kann diesen Film überspringen. Der Film wird nicht von seinem Dialog oder sollte ich eher sagen dem Fehlendessen getragen, sondern durch seine visuell starken Aufnahmen. Tiere und Pflanzen sind die Stars dieses Filmes, was zu Beginn spannend war, jedoch nach einiger Zeit leider eher wieder zäh wurde. Das Konzept des Filmes hätte sicherlich auch als Kurzfilm stark wirken können. Jedoch kann ich trotzdem nicht sagen, dass der Film mir absolut gar nicht gefallen hat, da seine Bilder einfach so eindrucksvoll waren.

Wer an Filmen interessiert ist und einen Ort der Begegnungen und des Networkings sucht, wird bei der Berlinale fündig. Dies war zwar meine erste Berlinale, aber definitiv nicht meine letzte.