Festival der Stadt: Berlinale

Derya Satir

Festival der Stadt: Berlinale

Nach einer schlaflosen achtstündigen Busfahrt war ich endlich da. Im Dunkel der Stadt Berlin – um sechs Uhr früh. Ich war zuletzt im Sommer als 18-Jährige da, während Interrail mit meiner besten Freundin aus der Schule. Ich wusste, dass ich dieses Mal – anders als bei unserem kürzeren Aufenthalt – diese Stadt besser kennenlernen würde; denn diesmal war ich für die Berlinale da.

Als ich am Potsdamer Platz ankam, um meine Akkreditierung zu holen, war schon zu bemerken, wie dieses Festival den Charakter der Stadt beeinflusste und sich darin integrierte. Im Vergleich zu den zwei anderen Filmfestivals in den Großstädten, in denen ich gelebt habe – Istanbul und Wien – fand dieses Festival nicht nur in ausgewählten Kinos statt, sondern hatte seinen eigenen Platz mitten in der Stadt. Nach einem längeren Fußweg über den Boulevard mit Berlinale-Plakaten war ich an dem Ort, der als Herz des Festivals gilt: der Berlinale Palast, das namhafte Theater am Potsdamer Platz. Wie schon erwähnt, es waren ungefähr sechs Jahre vergangen, seitdem ich zum ersten Mal in Berlin war. Und ich muss gestehen, ich hatte bis jetzt keine bemerkenswerte Beziehung mit dieser Stadt. Berlin war für mich aber immer schon mit seinem großen Filmfestival verbunden; was sich nach diesem Besuch auch bestätigt hat. Die Berlinale war das Festival der Stadt, und die Stadt war die Berlinale.

Während meines viertägigen Aufenthalts habe ich insgesamt elf Filme gesehen, Shortfilmprogramme sind hier als einzelne Filme gezählt. Es war leider nicht all zu viel, aber ich musste auch manchmal raus aus dem Kino und die Stadt mit meinen Freund*innen genießen.

Nach einer langen schlaflosen Fahrt hatte ich den ganzen Tag vor mir. Gegen meine Müdigkeit war es eine perfekte Idee, mich direkt in die gemütlichen Stühle der Kinosäle zu begeben. Erste Station war The Crossing von Levan Akın, den ich durch seinen großartigen Film And Then We Danced aus dem Jahr 2019 vom Istanbul Filmfestival kannte. Die Lieder im Film klangen wie die Playlist eines Heimweh habenden Istanbuler. Alle Lieder waren mir und anderen Freund*innen aus der Türkei bekannt und versetzten uns wieder zurück in die Schulzeit. Das Thema war sehr berührend, aber ich frage mich, welche Rolle die Musik für die Thematik des Films spielt. Denn nach meinem Leben für 19 Jahre in Istanbul, erinnere ich mich nicht an solch eine musikalische Utopie, eher an ein düsteres Chaos.

Keine Angst, ich werde nicht jeden Film, den ich an der Berlinale gesehen habe, im Detail erzählen. Small Thins Like These von Tim Mielants, der zweite Film, den ich am ersten Tag gesehen habe, war eine große Enttäuschung. Wir, meine Freundesgruppe und ich, waren alle sehr gespannt darauf, Cillian Murphy – nach Oppenheimer – dieses Mal auf der großen Leinwand auf der Berlinale zu sehen. Es war ein Film mit großartigen und erfolgreichen Schauspieler*innen; unter der Produktion stehen Namen wie Matt Damon und wieder Cillian Murphy, die auch bei der Eröffnung in Berlin waren. Vielleicht sollte ich den Film noch einmal ansehen, wenn ich weniger schlaflos bin.

Den zweiten Tag habe ich verschiedenen Kurzfilm-Programmen gewidmet, wobei ich immer noch nicht sicher bin, ob dies eine gescheite Entscheidung war. Die Programm der Berlinale hatte für mich bisher keine begeisternden Filme bereitgehalten. Gerade die Kurzfilmwahl hatte mir keine große Freude bereitet; vor allem wenn ich diese mit meiner Erfahrung bei dem Kurzfilmprogramm der Viennale vergleiche. Deshalb hatte ich höhere Erwartung an die drei Filmen, die ich am nächsten Tag sehen wollte.

Favoriten von Ruth Beckermann hat den nächsten Tag eröffnet. Dank Beckermanns neuem Dokumentarfilm habe ich jede Sekunde im Kinosaal ohne Zweifel genossen. Der Film ist sehr sehenswert und ich bin sehr froh, dass ich diesen Film so früh sehen konnte, sogar noch vor seiner Premiere in Österreich. Der nächste Stopp war Ellbogen von Aslı Özarslan. Ein Film, bei dem ich mich erneut gefragt habe, ob das dargestellte Istanbul wirklich die Stadt ist, in der ich geboren wurde und jahrelang gelebt habe. In einem hyperromantisch und utopisch dargestellten Istanbul versucht die Hauptfigur, mit dem Tod des deutschen Jungen zurechtzukommen und ihre eigene Identität zu finden. Obwohl ich von diesem halb-türkischen Film nicht sehr begeistert war, sollte ich erwähnen, dass er eine Romanadaptation ist und der Debutfilm von einer jungen Regisseurin, auf deren neue Projekte ich mich freue. Immerhin hatte der Oscar-nominierte Regisseur Ilker Çatak vor seinem Meisterwerk Das Lehrerzimmer auch ähnliche Jugendfilme gedreht. Die allerletzte Station des Tages war Gokogu no Neko (The Cats of Gokogu Shrine) von Kazuhiro Soda. Nach dem Lesen der Zusammenfassung und Anschauen des Trailers hatte ich eine andere Beziehung zwischen den Katzen und Anwohner*innen der japanischen Stadt Ushimado erwartet. Es sah so aus, als ob Menschen und Katzen im Dorf ein fröhliches Zusammenleben erreicht hätten, obwohl der Film das ‚Katzenproblem‘ thematisierte, mit dem die Anwohner*innen unweigerlich umgehen mussten. Der Film stellte aber ein gutes Beispiel für ‚Observational Cinema‘ dar, mit dem ich mich im Rahmen der Vorlesung ‚Visual Anthropology‘ öfters beschäftigt habe.

Ich habe den letzten Tag mit Wo Tu (Above the Dust) von Wang Xiaoshuai begonnen. Den Film haben wir aber leider nicht bis zum Ende schauen können, da die Stimme der deutschen Einsprache sich mit den Popcorn-Stimmen von Schulkindern im Kinosaal vermischt haben. Es war leider nicht möglich, den Film in seiner Originalsprache zu sehen, ein Umstand, dessen Grund mir immer noch unklar ist. Was dagegen sprach, den Film zu mindestens ohne deutsche Einsprache zu zeigen, habe ich leider nicht rausfinden können. Dann habe ich einem weiteren Kurzfilmprogramm eine Chance gegeben, das aber leider die Eindrücke von Vorgestern nicht ändern konnte. Ich bin immer noch verwirrt von der Kurzfilm-Auswahl der Berlinale und fühle mich schlecht wegen der vielen nicht nominierten Kurzfilme, die einen Platz auf den Berlinale-Leinwänden verdient hätten.

Isabelle Huppert auf dem roten Teppich bei der Weltpremiere von
„Les gens d’à côté“ während der Berlinale am 19.02.2024.

Das größte Highlight des ganzen Besuchs war für mich die Anwesenheit von Isabelle Huppert bei der Premiere von André Téchinés neuem Film Les gens d’à côté (My New Friends) im Zoo Palast. Ich war sehr froh, sie auf dem roten Teppich zu sehen und vor allem im gleichen Saal mit ihr ihren neun Film anzuschauen. Téchinés Film hat uns von der Berlinale und Berlin mit einem sehr positiven letzten Eindruck verabschiedet, wofür ich sehr dankbar war.

Meine Freund*innen aus Wien und ich, die dachten, es wäre eine gute Pose, am 16.02.2024.
Von links nach rechts: Asena Koçan, Ege Yolsal, Sarp Olcay, Derya Satir, Deniz Alacakaptan, Samuel Helgert

Die Berlinale hat nicht nur mein Herz mit unvergesslichen filmischen Erlebnissen gefüllt, sondern auch einen Einblick in die Filmfestivalindustrie gegeben, wo keine Wahl ohne Grund getroffen wird. Nach dieser Erfahrung habe ich verstanden, dass ein Filmfestival eine breite Auswahl repräsentiert, die Menschen aus verschiedenen Hintergründen anspricht. Deshalb wäre es nicht richtig, in den Filmen eine andere Darstellung als ‚die orientalische Stadt der Musik – Istanbul‘ zu erwarten oder Kurzfilme zu erwarten, die ausschließlich mein persönliches Interesse treffen. Diese Reise war mehr als nur eine Ansammlung von Kinobesuchen. Es war eine Reise durch die Vielfalt menschlicher Emotionen und Perspektiven, erzählt durch die universelle Sprache des Kinos, eingebettet in das Herz einer Stadt, die mit ihrem Festival lebt und atmet.