Film als Ausnahmezustand: Zwischen Liebeserklärungen und Nilpferden auf der 74. Berlinale

Anna Sacher

Eineinhalb Wochen Berlinale sind ein gewisser Ausnahmezustand. Ja, natürlich wegen der (Welt-)Stars, mit denen zusammen man in den Premieren ihrer Filme sitzt. Ja, auch mehr Filme in einer Woche zu schauen als sonst in einem Monat ist außergewöhnlich. Aber zum Ausnahme-Zustand verhilft letzten Endes der tägliche Wecker um 7:00 Uhr für’s digitale Anstehen zum Ticketkauf. Dass auch mit größter Pünktlichkeit ab der Hälfte des Festivals keine Tickets mehr zu bekommen waren, scheint geteiltes ‚Leid‘ zu sein und birgt wohl oder übel die spontane Filmwahl, die ebenfalls ihre Vorteile hat. Auch scheint sich diese morgendliche Uhrzeit symbiotisch zu Tanz-Partys und nächtlichen Filmkritiken an Kneipentischen zu verhalten; Schlaf wird zur Nebensache. Böse Zungen würden behaupten, dieser könne dann während weniger begeisternden Kinobesuchen nachgeholt werden…

Und allein der Besuch im Kino-Gebäude ist bei der Berlinale nennenswert. Gezeigt werden die Festival-Filme in einer Mischung aus stilechten, teilweise historisch bedeutenden Kinos und auf der anderen Seite Mehrzweck-Veranstaltungszentren, wie das stilvolle HKW oder die weniger stilvolle Verti Music Hall. Der Berlinale Palast als Herzstück des Festivals steuert mit den zahlreichen Weltpremieren und anwesenden Filmteams den gewissen Glamour-Faktor bei. Während bei den für den Wettbewerb nominierten Filmen, das Filmteam nur für ein Winken und kurzes „Danke“ auf die Bühne kommt, werden andere Premieren von nachfolgenden Q&As begleitet. Auffällig scheint mir, dass diese Nachgespräche durchweg einen erhellenden, inspirierenden Charakter haben, sogar einen anderen Blick auf den Film ermöglichen (etwas, das sonst nicht selten zu kurz kommt oder sogar Gegenteiliges bewirkt).
Im Nachgespräch zu Tú me abrasas fügt sich das Team bestens in die Festival Sparte Encounters und tritt mit dem Publikum in einen Austausch über die mise-en-scène des Films. Der Essayfilm, der ein Kapitel aus Cesare Paveses Dialoghi con Leucò (1947) adaptiert und sich an lyrischen Fragmenten von Sappho entlang tastet, inszeniert dabei eine filmische Form des Lesens. Der Regisseur Matías Piñeiro erläutert, inwiefern die Montage von sich wiederholenden Filmsequenzen, die dem Medium sonst untypische Möglichkeit bietet, einzelne Passagen mehrmals anzuschauen und bereits während des Films über sie zu reflektieren. Die Repetition gleicht einem Auswendig-Lernen und kreiert in Tú me abrasas ein filmisches Gedicht: Filmsequenzen, die zu Beginn spezifischen Worten zugeordnet sind, hallen auch ohne die auditive Ebene als Sapphos Gedichte in den Köpfen des Publikums wider.
Im Publikumsgespräch zur Premiere von Shahid wird die Konzeption und selbstreflexive Ebene des Films nachbesprochen. In der biografisch inspirierten Erzählung der Regisseurin Narges Kalhor über ihr Vorhaben, ihren ersten Nachnamen „Shahid“ abzulegen, vermischt sich die Auseinandersetzung mit deutscher Bürokratie und die Bezugnahme zu iranischer Geschichte um Religion und weiblichen Widerstand. Während der Begrüßung des gesamten Filmteams auf der Bühne wird klar, dass die scheinbar realen Figuren im Film (Kalhor selbst, der Kameramann, die Ausstatterin, etc.) mit Schauspieler*innen besetzt wurden, die diese doubeln. Erst im Verlauf des Films trat Kalhor auch selbst vor die Kamera, um ihre eigne Position als nach Deutschland emigrierte, iranische Filmemacherin mit der von weniger privilegierten Migrant*innen in Kontext zu setzen.

Die Auseinandersetzung mit dem Material des Films und seinen Produktionsumständen und -verfahren ist bei den für den Wettbewerb nominierten Filmen weniger präsent (vorausgesetzt, dass auch mein Blick hierauf beschränkt ist, da ich erwartbarer Weise nicht alle 20 nominierten Filme gesehen habe).
In Pepe von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der für seine Regie mit dem Silbernen Bären prämiert wurde, ist eine experimentelle, filmische Position durchaus stark vertreten. Aus der Perspektive eines Nilpferds wird über eine Voice-Over-Stimme, Nilpferd-Aufnahmen und Einblicke in das Leben von Dorfbewohner*innen, die losziehen, um das Nilpferd zu töten, koloniale Vergangenheit und Gegenwart verhandelt. Pepe, das Nilpferd, stammt aus Afrika und wurde nach Kolumbien gebracht, um dort im Privatzoo eines Drogenbosses gehalten zu werden; es ist das erste und einzige Nilpferd, das auf dem amerikanischen Kontinent erschossen wurde. Das Nilpferd als Erzähler der Geschichte nimmt eine spannende Position ein, lässt den Film möglicherweise als magischen Realismus verorten, doch wird die Distanz zwischen den Bildern von Nilpferden und der sonoren Off-Stimme nie ganz aufgelöst. Vielleicht hätte eine etwas prägnantere Länge des Films sein Konzept noch überzeugender vermitteln können.
Vielen andere, im Wettbewerb nominierte Filme, folgen deutlich herkömmlicheren Erzählstrukturen- und perspektiven. In Small Things Like These von Tim Mielants basierend auf der Romanvorlage von Claire Keegan (2021) wird ein Teil irischer Vergangenheit erzählt und über die sogenannten Magdalen laundries, die über 150 Jahre als brutale Besserungsanstalten für Mädchen und junge Frauen von der katholischen Kirche betrieben wurden, aufgeklärt. Das Thema selbst scheint allerdings leider mehr als Angelpunkt der Handlung zu dienen, neben nachgereichten Texttafeln am Ende des Films, zeigt dieser hauptsächlich einen leidenden Cillian Murphy, der von seiner eigenen traumatischen Kindheit eingeholt, sich dem Elend einer selbstbezogenen Gesellschaft gegenübersieht. Dass dieser Film über die schreckliche Geschichte so vieler Frauen und Mädchen jegliche weibliche Perspektive außen vorlässt und am Ende die von Murphy dargestellte Hauptfigur sich allen Frauen aus seinem Umfeld zum Trotz als männlicher Held ausleben muss, sei hier nur einmal dahingestellt und bedarf einer weiterführenden Analyse.
Ein weiterer Wettbewerbs-nominierter Film, Vogter von Gustav Möller, bedient sich ebenfalls einer sehr klassischen Erzählstruktur, schafft es aber sein inhaltliches Dilemma bestechend scharf und ausdifferenziert auf die Leinwand zu bringen. Der Titel zu Deutsch „Wärter“, englisch umbenannt in Sons, gibt in der englischen Variante deutlich mehr preis. In einem dänischen Gefängnis besteht eine außergewöhnliche Verbindung zwischen einer Gefängniswärterin und einem neuen Insassen, der in den Hochsicherheitstrakt eingeliefert wird. Fast nie das Setting des Gefängnisses verlassend, geht es um Mütter und Söhne, um Rache und Vergebung, um Hilfe und vertane Hilfe. Vielleicht auch um Reue, vielleicht darum aber auch nicht. Der letzte Satz des Films, „Manche Menschen kann man nicht retten“, wird universell.

Spannend an der Berlinale Sparte der für den Wettbewerb nominierten Film ist, dass allein durch ihre schiere Anzahl eine solche Bandbreite hergestellt wird, die im Gegensatz zu anderen Sparten einen kuratorischen roten Faden weniger sichtbar werden lässt. Ein Miteinander in Kontext setzen, womöglich ein Vergleich der Filme, passiert ganz intuitiv, so verschieden die Filme auch sein mögen. Diese Kontextualisierung, die einer jeden Kuration inhärent ist, scheint mir während des Festivals oder auch in der Vergabe der Preise wenig reflektiert. Nicht, dass die Preise selbst an andere Filme vergeben werden sollten – aber der Prozess, die Standpunkte und Perspektiven der verschiedenen Jurys wären doch gerade für den Austausch und eigene Sichtweisen der Filme spannend, weiterführend und für einen kuratorischen Bogen des Festivals elementar.
Der Gewinner des diesjährigen Teddy Awards, dem queeren Filmpreis der Berlinale, All Shall Be Well von Ray Yeung, zeigt, inwiefern die Grenzen von Berlinale-nominierten und nicht nominierten Filme fließend sind, wurde dieser in der „Panorama“-Sparte gezeigt. Das Filmteam von All Shall Be Well macht bei seiner Danksagung deutlich, inwiefern dieser Preis ein wichtiges Zeichen sendet. Regisseur Ray Yeung, beschreibt, wie dem Team während der Akquirierung von Fördermitteln immer wieder entgegengestellt wurde, niemand würde einen Film über lesbische Frauen über 60 sehen wollen.
To wrap it up – was haben wir gelernt, neben der opaken Kuration eines Festivalprogramms, der brisanten Stimmung zwischen Festivalleitung und kommunaler, sowie Welt-Politik und unabhängig davon begeisternden und enttäuschenden Filmen; auf den Rücken des frierenden Crushes zu pusten ist das neue, queere Ich liebe dich, siehe Langue Étrangère und Young Hearts.