Vielfalt und Herausforderungen: Ein Blick auf die 74. Berlinale

Hannah Gilan

Vom 15.02. bis zum 25.02. fand die 74. Berlinale in Berlin statt. Von den über 200 ausgewählten Filmen hatte ich die Möglichkeit 34 von ihnen in meiner Zeit in Berlin zu sehen. Dieses Jahr gab es Filme aus 80 Produktionsländern; 13 mehr als letztes Jahr. Durch die ganze Vielfalt und verschiedene Spielstätten hatte man viel Auswahl, als Akkreditierte*r konnte man noch zwischen Press Screenings und regulären Screenings wählen. Gerade bei den regulären öffentlichen Screenings hat man vor, während und nach jedem Film die Reaktion des breiten Publikums sehen können, welches oft Rassismus und Klassismus repräsentierte, weswegen ich in meinem Erfahrungsbericht einen Fokus auf das Zwischenmenschliche legen möchte.

Die ersten Tage waren ein echter Kampf für Tickets – für den ersten Tag Tickets zu erhalten war so gut wie unmöglich, manche Screenings konnte man nur mit Einladung besuchen. Dafür gab es aber freien Eintritt in die Deutsche Kinemathek, passend mit Berlinale Merchandise am Ausgang. Wenn man aber Tickets ergattert hat, waren diese meistens nur für Press Screenings, gefüllt mit Journalist*innen und Professionellen, wenigstens war das der Anschein. Die meisten Trugen Berlinale Merch der vorherigen Berlinalen, viele kannten sich von früheren Jahren. „Ich sehe dich ja nur zur Berlinale!“ Die Presse Screenings waren immer sehr ruhig, man spürte während des Filmes die Konzentration in der Luft, um einen herum wurden Notizbücher vollgeschrieben und mit Anspannung auf die Leinwand geschaut. Das war ein großer Kontrast zu den öffentlichen Screenings.

Die meisten Filme, die ich gesehen habe, kamen aus dem südostasiatischen Raum; diese Filme wurden meistens im Delphi Filmpalast gezeigt. Nach den meisten Filmen wurde ein Q&A mit den Filmteams organisiert, bei welchen sich der wahre Charakter der Zuschauer gezeigt hat. Jedes Mal wurden rassistische Kommentare in den Raum geworfen, ob nur zum Sitznachbar*in oder an das Filmteam direkt. Erwachsene Menschen ahmten die Filmemacher nach, zogen an ihren Augen, um das „Schlitzaugengesicht“ nachzumachen und machten sich über die Kleidung der Charaktere lustig, vor allem über die Saris. Bei dem Film Kottukkaali, einem Film über eine junge Frau, die sich in einen anderen Mann verliebt hat als in ihren ausgewählten Verlobten und ihre Familie sie deswegen zu einem Exorzisten bringt, war das Publikum empört, weil trotz der feministischen Einstellung des Filmes beim Q&A nur Männer anwesend waren. Die Erklärung, dass die Frauen keine Visa bekommen hatten, reichte nicht.

Ähnliche Situationen spielten sich beim Film In the Belly of a Tiger ab. Dieser Film spielte in Indien und verfolgte ein Dorf, welches wegen seiner Armut von einer Ziegelfabrik ausgenutzt wurde. Die Familien des Dorfes ließen ein Familienmitglied von dem Tiger im nahen Wald gefressen zu werden, damit sie Geld als Entschädigung vom Eigentümer bekommen. Eine dramatische und tragische Darstellung von Armut in einem kapitalistischen System. Trotz der ernsten Themen schaffte dieser Film durch Glauben und familiären Zusammenhalt eine Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Geschehnisse sind von wahren Begebenheiten inspiriert, es wurde in dem originalen Dorf gefilmt und viele der Schauspieler*innen waren auch wirkliche Dorfbewohner*innen. Nur: aus dem Publikum kam Entsetzen, wieso denn die Menschen keine Revolution anfingen, sie hätten doch genügend Leute und hätten diejenigen, die die Ziegelfabrik leiteten, umstürzen können. Es wurde sogar Karl Marx Wort für Wort zitiert. Der Regisseur und sein Team versuchten zu erklären, dass sie der Wahrheit treu bleiben und das Leben an sich darstellen wollten, aber diese Antwort traf auf Entsetzen.

Der Favorit des überwiegend deutschen Publikums waren die deutschen Filme; ich habe zwar nur zwei gesehen, Verbrannte Erde und Porzellan, aber beide wurden groß gefeiert. Obwohl beide in sehr unterschiedlichen Welten spielten, verband sie jedoch eine sehr ähnliche Ästhetik. Dunkle, kalte Farben, Rückenfiguren, Pokerface aller Charaktere. Verbrannte Erde war der zweite Teil der Trojan-Trilogie von Thomas Arslan, der den Berufskriminellen Trojan verfolgt, wie er nach einer längeren Pause von Berufsleben nach einem neuen Job in Berlin sucht. Ein großer Teil des Filmes spielt in Autos, meistens beim Fahren. Die Figuren werden mit neutralem Gesichtsausdruck am Steuer gefilmt, in der Dunkelheit, nur von roten Ampeln und Straßenlaternen beleuchtet. Die Emotionslosigkeit wird auch in Stresssituationen nicht unterbrochen wie zum Beispiel beim Erschießen. Ähnlich ist es bei Porzellan, einem Kurzfilm, der die 10-jährige Fina auf einer kleinen Insel im Norden Deutschlands zeigt. Sie und ihre ältere Schwester, die allein mit dem Vater sind, nehmen an einem Polterabend teil. Fina fehlt ihre Mutter und sie klammert sich an einen Teller als Symbol für die Verbindung mit der Mutter. Laut der Beschreibung: „[…] Durch die Augen von Fina wirft der Film einen Blick auf weibliche Rollenmuster und auf Erfahrungen und Emotionen, die über Generationen hinweg das Erwachsenwerden begleiten.“ Jedoch fehlt jegliche Emotion. Es gibt einen Wutausbruch von Fina, bei welchem Fina nur als Rückenfigur gezeigt wird und er mit einer Umarmung von hinten von ihrer Schwester beendet wird. Beim Q&A wird die Message vom Älterwerden in einer patriarchalen Gesellschaft mitgeteilt, wo nach der Erklärung Jubel zu hören ist.

Der Gewinner des Goldenen Bären ist der Film Dahomey von der Regisseurin Mati Diop. Dieser Dokumentarfilm teilt über die Personifikation einer gestohlenen Statue die Geschichte des heutigen Benin mit. Die Statue spricht lyrisch in ihrer Muttersprache über ihre Gefühle, erklärt, wie sie zunächst fremd in einem fremden Land war, aber nun fremd im eigenen Land ist. Das Ende des Filmes ist eine Debatte zwischen Studenten über Kolonialität, die Rückkehr der Artefakte ihrer Vorfahren und über die heutige Politik und Geschichte Benins. Ich würde Dahomey direkt mit dem Film Das leere Grab vergleichen – einem Film mit dem gleichen Thema, aber auf einer viel persönlicheren Ebene mit direkter Verbindung zu Deutschland. Dieser Film der Berlinale Specials-Kategorie fokussiert sich im Gegensatz zu Dahomey nicht auf Kunst, sondern die Gebeine der Menschen aus Tansania, die von Kolonialmächten wie Deutschland aus ihren Gräbern gestohlen wurden. Der Herzschmerz der generationalen Traumata, die diese gestohlenen Überreste der Familienmitglieder bei diesen Familien ausgelöst haben, wird sehr menschlich und natürlich dargestellt. Mnyaka Sururu Mboro, Lehrer und Aktivist geboren in Tansania, verbindet Deutschland mit Tansania, hilft bei Nachforschungen, erklärt die kolonialistische Geschichte Deutschlands und zeigt auf die Wichtigkeit der Rückkehr der Gebeine und auf das Aufhören vom Feiern der Kolonialisten. Der Fakt, dass die Ministerin, mit der er gesprochen hat, aus der Familie eines der größten und brutalsten Kolonialisten stammt, ist auch ein „netter“ Touch. Man konnte spüren, dass das Publikum (wieder überwiegend Deutsch) sich nicht sehr wohl bei dem ganzen Thema fühlte, also kann man sagen, dass beide Filme ihren Zweck erfüllt haben, und das grandios.

Ich bin unfassbar dankbar für die Möglichkeit, bei der Berlinale dabei gewesen zu sein. Auch wenn die meisten Filme, die ich als meine Favoriten bezeichnen würde, keine Preise gewonnen haben, würde ich sie gerne hier erwähnen.

Keyke mahboobe man, eine Liebensgeschichte zwischen zwei 70-jährigen in Teheran. Zärtlich, lustig, tragisch und kritisch zur Welt um sie herum. Es ist immer wieder erfrischend, Liebe im späteren Alter zwischen zwei Charakteren, die nicht stereotypisch attraktiv sind, zu sehen.

Der Dokumentarfilm Jestě nejsem kým chci být zeigt die Lebensgeschichte von Libuše Jarcovjáková durch ihre analogen Fotografien. Von ihrer Kindheit, über den Prager Frühling, das neue Regime in der Tschechoslowakei bis zu ihrer legalen Flucht und Leben im Ausland wird uns alles erzählt. Ein besonders interessanter Aspekt ist ihre Sexualität und der Prager T-Klub, der als Treffpunkt für die queere Szene galt. Noch interessanter wird der Film im heutigen Kontext, wo in der Slowakei das Kulturministerium alle Organisationen und Veranstaltungen, die in irgendeiner Weise mit der LGBTQIA+ Community zu tun haben, nicht nur nicht finanziell unterstützen, sondern ganz verbieten möchte. Es wird in der nahen Zukunft Screenings in Tschechien geben, aber keine in der Slowakei.

Die österreichische Drehbuchautorin und Regisseurin Anja Salomonowitz erschuf mit ihrem Film Mit einem Tiger schlafen eine eigene Art des Biopics. Maria Lassnig wird von Birgit Minichmayr in allen Altern gespielt, nur das Kostüm und Umgebung ändert sich. Im Nachgespräch meinte Salomonowitz, dass sie Biopic als Format sehr kritisch sieht, da Regisseur*innen nie die Realität 1:1 darstellen können. Ihre eigene Version des Biopics ist lebendig und frisch und es ist faszinierend, eine Schauspielerin alle Altersstufen eines Menschen spielen zu sehen.

Die Berlinale hat mir zahlreiche Lernmöglichkeiten geboten, ob nun direkt mit Seminaren oder durch das pure Schauen von Filmen und Beobachten des Publikums. Ich kann meine Dankbarkeit nicht genug betonen. Es ist interessant zu sehen, welche Filme die Jurys beeindrucken konnten und welche wiederum mich. Auch zu sehen, wo die Empathie der Menschen im Publikumsraum anfängt und wo sie endet, war ein neues Erlebnis, wegen welchem ich wahrscheinlich die nächsten Monate jegliches Kino meiden werde und mir einen DVD- und BluRay-Player besorgen werde.