Filmemachen im Anthropozän: Eine kritische Betrachtung der Berlinale 2024

Natascha Kline

Meine Reise zur Berlinale beginnt im Nachtzug von der Steiermark nach Berlin. In Wien steigen drei Frauen zu, wobei nur eine von ihnen dasselbe Reiseziel wie ich hat. Am darauffolgenden Morgen wird sie mir in ca. 45 Minuten und während des Zugfrühstücks ihr Leben im Schnelldurchlauf erzählen. Ich erfahre vieles. Unter anderem über ihre Tätigkeit als Schauspielerin und dass sie auch in einem der Wettbewerbsfilme zu sehen ist. Ich freue mich über die Begegnung. Wir werden uns wiedersehen.

Als ich im Hotel angekommen bin, lese ich vom Tod Alexei Nawalnys. Ich höre kreisende Hubschrauber. Ein Geräusch, das mich bis in die Abendstunden begleiten wird. Ich erfahre über den Staatsbesuch Volodymyr Zelenskyjs. Trotzdem vertraue ich zur Abholung der Akkreditierung der Fußweg Option von Google Maps. Schon fünf Minuten nach Start muss ich die vom Gerät vorgeschlagene Route aufgrund einer dem Gerät unbekannten Polizeisperre ändern. Es ist die erste von vielen folgenden, weswegen das Gerät meine veranschlagte Ankunftszeit immer weiter in die Zukunft korrigiert. Auskunft über die Dauer der Sperre kann oder darf nicht erteilt werden. Trotzdem versuche ich in regelmäßigen Abständen die Einschätzung der umherstehenden PolizistInnen zu erfahren. Ein junger Kollege, hörbar aus dem Umland, bleibt mir dabei ganz besonders in Erinnerung. Mit rotem Gesicht und erregtem Unterton blufft er mich an, dass sie schon in den Morgenstunden hierher gebracht worden seien und selbst überhaupt nichts wissen würden. Basierend auf der äußeren Erscheinung, male ich im weitergehen ein inneres Bild des aufgebrachten Mannes inklusive seines Wahlverhaltens. Heute frage ich mich, ob ich ihm damit eher Recht oder eher Unrecht getan habe. Die Abholung der Akkreditierung verlängert sich wegen der erfolgten Absperrungen jedenfalls um ein vielfaches und als ich endlich ins Hotel zurückkomme, habe ich neben Blasen an den Füßen auch die Gewissheit, dass ich den ersten Kinotermin nicht mehr schaffen werde.

Meine filmischen Begegnungen werden also etwas verspätet beginnen. Spielort ist wie so oft und so auch bei meinem letzten Berlinale-Film der Delphi-Filmpalast. Während meines Aufenthalts werde ich 16 Filme mit insgesamt 1888 Minuten Laufzeit sehen. Ich werde in acht verschiedenen Kinos.

sein, etliche Male einschlafen und am Ende trotzdem das Gefühl haben, die Welt nun ein klein wenig besser zu verstehen. Das Hauptkriterium für die Auswahl der Filme beruht an erster Stelle auf der Verfügbarkeit von Tickets, danach auf Interesse. Während der Sichtungen versuche ich immer wieder die Filme miteinander in Bezug zu setzen bzw. vor dem Hintergrund des Anthropozäns als Status quo zu sehen. Nachfolgend meine sehr persönliche Einordnung der Beobachtungen:

Der erste Film ist Redaktsiya, The Editorial Office, Roman Bondarchuk (Ukraine / Deutschland / Slowakei / Tschechien 2024, 126 min) und einer von insgesamt drei Filmen mit direktem Bezug zur Ukraine wobei zwei davon sich dokumentarisch mit dem Kriegsgeschehen auseinandersetzen: Intercepted, Oksana Karpovych (Kanada / Frankreich / Ukraine 2024) und Turn in the Wound, Abel Ferrara (Vereinigtes Königreich / Deutschland / Italien / USA 2024) folgen am nächsten Tag. Die Filme unterscheiden sich sowohl in ihrer Machart wie auch inhaltlich stark voneinander. Spannend finde ich den Ausgangspunkt von Redaktsiya welcher die Suche nach einer vom aussterben bedrohten Art ist. Das Thema aussterben wird mir am nächsten Tag in The Outrun, Nora Fingscheidt (Vereinigtes Königreich / Deutschland 2024) in Form des von ebendiesem bedrohten Wachtelkönigs wieder begegnen, wobei sich sowohl die Vogelart wie auch die alkoholkranke Hauptdarstellerin in einer bedrohlichen Situation wiederfinden. Der geregelte Ablauf, den die Suche nach verbliebenen Exemplaren mit sich bringt, unterstützt die Protagonistin auf dem Weg aus der Abhängigkeit. Der Film endet mit einem Schrei des Wachtelkönigs, gleichzeitig das erste filmische Lebenszeichen des Tieres. In Pepe (Nelson Carlos De Los Santos Arias, Dominikanische Republik / Namibia / Deutschland / Frankreich 2024) werde ich mit dem Nilpferd wieder einer bedrohten Tierart begegnen. Die Bedrohung bezieht sich allerdings auf die Population in ihrem ursprünglichen Habitat in Afrika. Die filmischen Nilpferde leben nun aber in Südamerika und stellen die einzig freilebende Population außerhalb Afrikas dar. Im Jahre Schnee und als Insignien der Macht auf Befehl von Pablo Escobar ins Land geschmuggelt, im Laufe der Zeit mehr als weniger sich selbst überlassen, hat sich die ursprüngliche Herde mittlerweile durch unkontrollierte Vermehrung vervielfacht und stellt nun ihrerseits eine Bedrohung für das hiesige Ökosystem dar. Auch in Gokogu no Neko (The Cats of Gokogu Shrine, Kazuhiro Soda, Japan 2024) ist die unkontrollierte Fortpflanzung der titelgebenden Katzen bzw. die Kontrolle ebendieserdurch die menschlichen ProtagonstInnen Thema. Die Katzen selbst werden hier jedoch weniger als Bedrohung inszeniert, sondern es dient die schwindende Katzenpopulation vielmehr als Metapher für menschliche Kontroll- und Regulierungswut. Während man die Katzen “fixed”, also kastriert und sterilisiert, werden bestehende Pflanzen gehegt bzw. nach persönlichen Vorlieben neu gepflanzt. Nicht ohne nebenbei vermeintliches Unkraut auszuzupfen. Die meisten der porträtierten Katzen sind am Ende der Dreharbeiten bereits verstorben. Das Aussterben als Unterart des Sterbens sowie das Sterben oder gestorben sein wird in insgesamt 15 von 16 Filmen verhandelt. Das Sterben in all seinen Ausprägungen bzw. als Konsequenz menschlichen Handelns ist im Anthropozän quasi omnipräsent. Insofern empfinde ich die mehrmalige filmische Einbettung des Themas als innere Logik des Films als Spiegel äußerer Verhältnisse. Das Aussterben als letzte Konsequenz wurde jedoch ausschließlich über nicht-menschliche Entitäten verhandelt. In Techqua Ikachi, Land – Mein Leben, Anka Schmid, Agnes Barmettler, James Danaqyumptewa (Bundesrepublik Deutschland / Schweiz 1989) wird allerdings auch die Bedrängung menschlichen Lebens verdeutlicht. Es geht dabei um die kulturelle Bedrohung der indigenen Gemeinschaft der HOPI. Hervorzuheben gilt, dass in allen Fällen die Bedrohung ausschließlich von menschlichen Entitäten ausgeht. Der Film stellt dabei ein unschätzbares Dokument über Verdrängung, Missachtung, vermeintlichen Fortschritt und das damit einhergehende Leid dar. Ich möchte an dieser Stelle die entschieden ablehnende Haltung eines Protagonisten zum als Fortschritt in Aussicht gestellten Straßenbau festhalten. In Henry Fonda for President, Alexander Horwath (Österreich / Deutschland 2024) findet die Straße erneut Erwähnung. Die Frage des Baus ist längst keine mehr und ihre Rolle als Handlanger des Kapitalismus und der damit einhergehenden Zerstörung offenbart sich langsam aber beständig. Auf die Frage “Do you think Big Business is out of control in this country?” lautet Henry Fondas gleichsam analytische wie lapidare Antwort “No, I don´t think they’re out of control. I think they´re gettin´ more and more in control (..)”. Die Bemerkung über seine zweite Ehefrau Frances Ford Seymour Fonda erscheint angesichts ihres geburtstäglichen Suizids hingegen ein wenig zu analytisch, findet aber beim nächsten Film sofort zurück ins Gedächtnis: “Es ist nicht einfach, mit jemanden zu leben, dem es nicht immer gut geht.” (Henry Fonda) So ähnlich könnte der Ehemann Wolf von seiner frisch angetrauten Ehefrau Agnes in Des Teufels Bad, Veronika Franz, Severin Fiala (Österreich / Deutschland 2024) gedacht haben. Auch hier endet die Verzweiflung der Protagonistin, wenn auch über Umwege, im Suizid. Dazwischen wird ein Huhn (als Belustigung) und Karpfen (für den Lebensunterhalt) erschlagen, eine Ziege geschächtet (!?) und tote Insekten gesammelt. Ein andermal nimmt die Hauptdarstellerin einen Schmetterling in den Mund. Diese sonderbare Szene sowie das Huhn werden mir im letzten Film des Abends wieder begegnen: Sasquatch Sunset, David & Nathan Zellner (USA 2024). Auch hier versucht ein Sasquatch (die kanadische Version des Bigfoot) einen Schmetterling erst zu küssen und dann in den Mund zu nehmen. In einer anderen Szene wird versucht, mit einer Schmuckschildkröte zu telefonieren. Sie beißt zu und wird daraufhin ins Gebüsch geworfen. Das Publikum lacht und meine Gefühle bewegen sich in ein weites Tal aus Resignation und Verzweiflung. Die nordamerikanische Schmuckschildkröte wird übrigens auch hierzulande gerne ins Gebüsch geworfen. Ausschlaggebendes Moment ist hier allerdings der Wunsch nach Ent-sorgung, Folge ist eine weitere, menschlich induzierte Bedrängung bestehender Ökosysteme. In einer anderen Szene wird die Vergewaltigung eines Pumas durch einen sichtlich (!) erregten Sasquatch angedeutet. Dass der Sasquatch sein Vorhaben mit dem eigenen Leben bezahlen wird, kann das Gesehene nicht ungesehen machen. Das wiederkehrende Huhn dient in dem Fall als Testobjekt für eine Eisenfalle. Wider aller Erwartung kommt es in dieser Szene jedoch nicht zum Äußersten. Ich lehne filmische Gewaltdarstellungen nicht kategorisch ab, doch war und bin ich noch immer über die wiederholt gezeigte, für den Plot unnötige und explizite Gewaltausübung sowie die Vorführung schutzbedürftiger Lebewesen erschüttert.2 Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch festgehalten werden, dass die Wahrnehmung der Straße als Achse des Bösen sozusagen auch in diesem Film thematisiert wird: Hier entscheiden sich die aufgebrachten Sasquatches nach der ersten Sichtung jedoch erst einmal ausgiebig auf diese zu sch***.

Die unaufhörliche Umwandlung natürlicher Stoffe in Asphalt und Beton fungiert im Anthropozän gleichermaßen als Denk-und Mahnmal menschlicher Aneignung. Ein besonders eindrückliches Beispiel menschlichen Gestaltungswillen lerne ich ganz nebenbei in Il cassetto segreto, Costanza Quatriglio (Italien / Schweiz 2024) kennen. 1968 führt ein Erdbeben zur vollständigen Zerstörung menschlicher Bauten von Gibellina (Sizilien). Die anschließend aus Absicht künstlerischer Auseinandersetzung von Alberto Burri erfolgte Versiegelung einer Fläche von annähernd 100 000 qm mit weißen Beton erscheint aus heutigen Blick nur mehr als gleißende Doppelung der ursprünglichen Zerstörung. Abschließen möchte ich diese Betrachtung mit Architecton, Victor Kossakovsky (Deutschland / Frankreich / USA 2024), in dem der anfänglich verhandelte und latent immer präsente Ukraine-Krieg insofern wieder aufgenommen wird, als dass der mit Zerstörung und Wiederaufbau einhergehende Ressourcenverbrauch thematisiert wird. Im Zwiegespräch von Regisseur und titelgebenden Architekt wird über die Notwendigkeit natürlicher, nach ihrer Nutzung wieder der Natur zuführbaren Baustoffe als Ersatz von Beton sinniert. Nun…solche Baustoffe gibt es bereits und im Angesicht des Abgrunds wäre ein kleiner Hinweis auf das in wenigen U-Bahn Stationen zu erreichende Futurium3 nicht nur naheliegend, sondern auch gefordert.

Nichts desto trotz freue ich mich, Teil der 74. Berlinale gewesen zu sein und ich bin dankbar für die vielfältigen Eindrücke und neuen Perspektiven.

Die zahlreichen einseitigen Solidaritätsbekundungen während der Berlinale Preisverleihung am 24.02.2024 waren nur schwer zu ertragen und haben ein beängstigendes Bild gezeichnet, das ich in dieser Form, von diesen Menschen, in diesem Umfeld noch vor wenigen Monaten, Wochen und sogar Tagen für unmöglich gehalten hätte.

TOP 3 Filme

Gokogu no Neko / www.berlinale.de/de/2024/programm/202401305.html
Yoake no subute / www.berlinale.de/de/2024/programm/202403438.html
Turn in the Wound / www.berlinale.de/en/2024/programme/202415631.html

TOP 3 Fremdschämmomente

Sasquatch Sunset: der gesamte Film / www.berlinale.de/de/2024/programm/202400954.html
The Outrun: Die Trommelmusik im Hintergrund, als der Freund der Protagonistin das erste Mal auf der Leinwand zu sehen ist / www.berlinale.de/de/2024/programm/202400987.html
Architecton: Habitus und Darstellung des Architekten, die völlig unreflektiert dem Schema alte, weiße Männer machen einen Film folgen / www.berlinale.de/de/2024/programm/202402846.html