Dauernd(es) Kino und Entdeckungen in der Retrospektive

Hans Bonhage

Ende Februar konnte ich mit einer Studierendenakkreditierung über die TFM im Gepäck nach Berlin reisen, um dort eine Woche lang (fast) nichts anderes tun als Filme zu schauen. Es war nicht mein erster Besuch bei der Berlinale: Ich war bereits im letzten Jahr dort, sodass der Umfang, die Größe und das Ausmaß des Festivals mir diesmal etwas weniger überwältigend vorkamen. Dennoch komme ich, wann immer ich in Berlin bin, nicht umhin, über die Vielzahl an schönen Kinos mit großen Sälen und Leinwänden zu staunen, die man anscheinend in einer Stadt versammeln kann. Wer die Filmfestivals in Wien oder Graz kennt, auf denen man schließlich ähnlich viele sehenswerte Filme entdecken kann, wird von der Weitläufigkeit und der Menge an (internationalen) Besucher*innen in Berlin sicherlich überrascht werden. Man muss sich hier schon ziemlich genau überlegen, welche Vorstellungen man in sein Programm aufnimmt, bevor man überrascht feststellen muss, dass die Verti Music Hall nicht in wenigen Minuten fußläufig vom Zoopalast erreicht werden kann. Wo wir schon bei den Spielstätten sind: Neben bemerkenswerten alten Kinosälen wie dem Kino International finde ich es auch eine besondere Freude, kleine Produktionen, Kunstfilme oder Restaurationen von Retrospektive-Titeln, die nach dem Festival größtenteils nie wieder in deutschen Kinos zu sehen sein werden, in riesigen, ausverkauften Multiplex-Sälen im Cubix (ein CineStar-Kino am Alexanderplatz, das für mich in diesem Jahr zu einem Festivalmittelpunkt geworden ist) oder im CinemaxX am Potsdamer Platz (dort finden ausschließlich Market- und Pressescreenings statt, zu denen man mit Studierendenakkreditierung aber zumindest teilweise Zugang hat) zu schauen.
Schon lange vor Beginn des Festivals war klar, dass diese Ausgabe von Veränderungen geprägt sein würde. Noch bevor es große öffentliche Debatten über die Anwesenheit von AfD-Abgeordneten bei der Eröffnungsgala oder Solidaritätsbekundungen während der Preisverleihung gab, wurde im vergangenen Jahr zunächst angekündigt, dass die Berlinale-Leitung nach der diesjährigen Ausgabe wechseln würde. Nachdem Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek bekanntgegeben hatte, ihren auslaufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen, gab im Herbst auch der künstlerische Leiter Carlo Chatrian – etwas weniger freiwillig, sondern von der politisch gewünschten veränderten Leitungsstruktur motiviert – seinen Rücktritt bekannt. Die Berlinale 2024 war somit die letzte, für die Chatrian und das aktuelle Programmteam unter Leitung von Mark Peranson – 2019 gemeinsam mit Chatrian aus Locarno gekommen – programmverantwortlich sein sollten. Neben diesen personellen Veränderungen (als neue Intendantin ab 2025 wurde Ende letzten Jahres übrigens Tricia Tuttle vorgestellt) waren es vor allem Sparmaßen, die für Veränderungen im diesjährigen Programm verantwortlich waren. Ein im Vergleich zum Vorjahr gekürztes Budget sorgte dafür, dass einige Sektionen (namentlich die Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series) ganz aus dem Programm gestrichen wurden und zudem in fast allen anderen Sektionen deutlich weniger Filme gezeigt werden konnten. Gerüchteweise stand auch die von der Deutschen Kinemathek organisierte Retrospektive vor dem Aus, konnte letzten Endes aber doch stattfinden. Wie das Retrospektive-Programm mit dem Titel „Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek“ von diesen Überlegungen beeinflusst wurde, bleibt Spekulation, aber es ist sicherlich keine allzu abwegige Vermutung, dass es ein kostengünstiger und weniger zeitintensiver Kompromiss sein könnte, ausschließlich Filme aus dem eigenen Archiv zu zeigen.


Um nun endlich zu den Filmen zu kommen, kann ich sagen, dass dieser Kompromiss – sollte es einer gewesen sein – definitiv gelungen ist. Im letzten Jahr hatte ich sie noch sträflich vernachlässigt, aber dieses Jahr konnte ich glücklicherweise immer wieder einzelne Filme dieser Retrospektive in meinem Zeitplan unterbringen (eine kleine Empfehlung nebenbei: im Gegensatz zu einigen Filmen aus den Hauptsektionen, für die es mir schier unmöglich war, Tickets zu ergattern, sind für die Retrospektive und andere Nebensektionen oft auch kurzfristig noch Tickets verfügbar). Mit dem Programm sollte dieses Jahr einen Überblick über unabhängige und unkonventionelle deutsche Filme zwischen 1960 und 2000 geben, die Auswahl bestand zum Teil zwar aus einigermaßen kanonisierten Filmen (wie etwa Roland Klicks Supermarkt (DE 1974)), der weitaus größere Teil der Selektion gab mir die Gelegenheit, wenig bekannte und wirklich sehenswerte deutsche Filme zu entdecken. Da wäre vor allem Ingemo Engströms Dark Spring (DE 1970), der einzige Film der Retrospektive, den zu sehen ich mir wirklich fest vorgenommen hatte. Bevor Engström jeweils in Zusammenarbeit zuerst mit Harun Farocki und dann mit Gerhard Theuring die zumindest etwas bekannteren Essayfilme Erzählen (DE 1975) und Fluchtweg nach Marseille (DE 1978) realisierte, schloss sie ihr Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München mit diesem Abschlussfilm ab. Ein Film, der zumindest mich formal an Filme Godards oder Straub/Huillet zur gleichen Zeit erinnert hat, diesen in nichts nachsteht und dabei klar feministische Positionen diskutiert. Zwischen Handlungsfragmenten und Naturaufnahmen stehen im Zentrum Gespräche mit einigen Frauen, die aus meist marxistisch-feministischen Perspektiven über ihre Vorstellungen von (Geschlechter-)Beziehungen, Gesellschaft und Zusammenleben nachdenken. Dass solche Perspektiven nötig sind, wird spätestens bei einem Blick auf die weiteren Filme der Retrospektive (und ihre Regisseurinnen) deutlich. Nachdem ich im weiteren Verlauf des Festivals noch Eva Hillers klarsichtigen Essayfilm Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen (DE 1991) und Bettina Flitners satirischen Kurzfilm Ich (DE 1988) sehe konnte, musste ich feststellen, dass ich damit fast schon das Gesamtwerk dieser Regisseurinnen kennengelernt hatte. Es ist erschreckend, dass die wenigen Frauen, die wie Engström, Hiller und Flitner an Filmschulen studieren oder auf anderem Wege erste (zumal so spannende) Filme drehen konnten, im Anschluss noch seltener die Gelegenheit bekommen, weiterzumachen. Schön, dass sie es immerhin in das Archiv der Kinemathek geschafft haben, um so wiederentdeckt zu werden. Bevor der Eindruck entsteht, die Retrospektive sei in diesem Jahr ein feministisches Manifest gewesen (eine Eingrenzung, die sicherlich auch möglich gewesen wäre): auch an Ulrich Schamonis Chapeau Claque (DE 1974) und vor allem Hellmuth Costards Der kleine Godard an das Kuratorium junger deutscher Film (DE 1978) hatte ich große Freude, nicht nur, aber auch als Zeitdokument.Insgesamt 29 Filme konnte ich in meinen sieben Berlinale-Tagen unterbringen, zwei davon habe ich mir je zweimal angeschaut, und es war nur wenig dabei, was ich misslungen, langweilig oder auf andere Weise uninteressant fand. Daher schließe ich lieber mit einigen meiner persönlichen Favoriten, die ich vor allem in den Sektionen Encounters und Forum gesehen habe. Die meisten von ihnen sind mindestens so unabhängig und vor allem unkonventionell wie die Filme der Retrospektive und zu meinem Erstaunen und meiner Freude wurden erstaunlich viele von ihnen bei der Preisverleihung ausgezeichnet, die ich im Zug zurück nach Wien im Stream verfolgt habe. In Encounters war ich u.a. begeistert vom fast vierstündigen Direct Action (FR/DE 2024) von Ben Russell und Guillaume Cailleau, der in wenigen, langen Einstellungen das Leben einer Gemeinschaft von Aktivist*innen in Frankreich zeigt und dabei vor allem die alltägliche Lebens- und Arbeitsroutinen und weniger die Konfrontationen mit der Polizei in den Blick nimmt. In Ruth Beckermanns Favoriten (AT 2024), Nele Wohlatz‘ Dormir de olhos abertos (AR/BR/DE/TW 2024), Hong Sang-Soos Yeohaengjaui pilyo (KR 2024), Faraz Fesharakis Was hast du gestern geträumt, Parajanov? (DE 2024) und Matias Pineiros Tú me abrasas (AR/ES 2024) bin ich in ganz unterschiedlichen Formen Fragen nach Zusammenhängen zwischen Sprache und Zugehörigkeit, Sprache und Gefühlen, Kultur, Übersetzung und vielem mehr begegnet, die ich sehr inspirierend fand. Ähnlich wie Direct Action arbeiten auch Wu Suo Zhu (TW/US 2024) von Slow-Cinema-Meister Tsai Ming-Liang und The Periphery of the Base (CN 2024) von Zhou Tao mit langen Einstellungen, die zum genauen Hinschauen, zum Nachdenken über die Bilder und das Gezeigte einladen. Weniger leicht zu kategorisieren, zu vergleichen oder einzuordnen scheint mir Mati Diops Dahomey (FR/SN 2024), würdiger Gewinner des Hauptpreises, der in kurzer Spielzeit Fragen nach der Rückführung musealer Artefakte dokumentarisch, poetisch, debattierend und einfühlsam diskutiert. Ein ‚wichtiger‘ Film, könnte man sagen, der sich aber nicht auf der Relevanz seines Gegenstands ausruht, sondern immer auf der Suche nach filmischen Formen ist, die den Debatten gerecht werden und ihnen etwas hinzufügen.