Die „Favoriten“ des österreichischen Schulsystems?

von Johanna Berger

Schule, vor allem Volksschule ist in Österreich ein System, das fast jede*r am eigenen Leib erfahren und im Erwachsenenleben immer weiter vergessen hat. Oft bleiben nur die persönlichen Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit zurück. Schule, in der Erinnerung eines Erwachsenen, ist ein festgefahrenes, statisches System und wenn man nicht mehr selbst darin festhängt, wieso bedarf es dann einer Veränderung?Genau an diese Stelle tritt Beckermanns „Favoriten“ und bricht mit den einseitigen Verbildlichungen des Schulsystems á la „American Highschool“. Strukturen, die außenstehenden Betrachter*innen sonst verdeckt bleiben werden offen gelegt und aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Schule, für Menschen außerhalb des Systems neu, für Schul-, Lehr- und Bildungspersonal leider nicht.

Verleih: Filmladen

Es klingelt, und aus Lautsprechern strömt laut eine Neuadaption von „Head, Shoulders, Knees and Toes“. Die Kinder der 2. Klasse der größten Volksschule im 10. Wiener Bezirk tanzen zusammen mit ihrer Lehrerin Frau Idiskut im Klassenzimmer. Die Sessel sind zurückgerückt, Hände zucken durch die Luft, die Kindergesichter sind konzentriert, der Raum gefüllt mit Kinderlachen und die Kamera ist mittendrin.

Drei Jahre lang begleitet Ruth Beckermann gemeinsam mit einem Kamerateam die Klasse durch den Schulalltag. Scheinbar gewohnt an die ständigen Beobachter, gehen die Kinder ihren täglichen Aufgaben nach. Die Kamera findet sich so gut in das schulische Geschehen ein, dass man als Betrachter*in fast den Eindruck bekommt man könnte den Kinder beim Denken zusehen. Grund dafür ist der gewählte Ausschnitt der Kamera. Das Bild ist meist eng, es gibt kaum Platz um die Gesichter der Kinder herum. Spielerisch scheint Ruth Beckermann dadurch auf „die eigene Welt“ anzuspielen, in der sich die Volkschüler*innen befinden.

Dennoch sind die Kinder alles andere als verschlossen. Nach dem Motto „das ist meine Welt, komm ich zeig sie dir!“ bringen sich die Schüler*innen im Laufe der Dokumentation mehr und mehr in das filmische Geschehen ein. Selbst führen sie Interviews und drehen kleine Alltagvideos am Handy, welche im Kinosaal für Erheiterung des Publikums sorgen. Im Umfeld der Kinder ist die Kamera wie ein alter Vertrauter positioniert, außenstehend aber gebilligt gewährt sie den Zuschauenden einen Einblick in die Gefühls- und Lebenswelt der Schüler*innen, die einem Erwachsenen meist verwehrt bleiben. Auch der Lehrkörper bleibt vom Blick der Kamera nicht verschont. Mit Frau Idiskut erweitert die Kamera den Blick von der „Kinderwelt“ hin zur „Erwachsenenwelt“ und legt so die Strukturen der Wiener Volksschule offen. Das Bild um den Lehrkörper bei der Konferenz herum wirkt weiter, die Schule muss sich einer größeren Struktur unterordnen. Gesprochen wird vor allem von Lehrkraftmangel, unzureichenden Förderungen, zu wenig Material: Von fast allem fehlt etwas und das macht sich im Laufe von Ruth Beckermanns Film bemerkbar.

Die Kinder in Beckermanns Dokumentation sind, dem Titel widersprechend, alles andere als „Favoriten“ des Systems.

Die Schüler*innen Frau Idiskuts Klasse sind Kinder mit Migrationshintergrund, vielleicht bereits der dritten Generation. Alle lernen sie Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache während sie versuchen, zwei Welten unter einen Hut zu bringen. Gespräche über die Welt und Politik führen den Zusehenden die Bezugspunkte, welche die Schüler*innen haben, klar vor Augen. „Aber was ist mit Syrien? Immer nur geht es um die Ukraine“ sagt ein Schüler, als die Klasse Geschehnisse und Nachrichten bespricht. Sowohl Österreich als auch das Land der Familie wird als Heimat betrachtet und in der Schule zum Ausdruck gebracht. Dabei versucht Frau Idiskut beides so gut wie möglich zu fördern, um den Kindern das Gefühl von Zugehörigkeit weiter zu vermitteln: „Stimmt“, sagt sie, „Syrien darf man nicht vergessen, was passiert denn in Syrien grade?“.

Wo es geht, versucht die Lehrerin ihre Kinder zu fördern und stößt dabei immer wieder an Grenzen. Material sowie Lehrkräfte sind zu wenig vorhanden, um 25 Kinder ausreichend und individuell fördern zu können. Immerhin stehen Klassen wie die von Frau Idiskut leider nicht im Fokus der österreichischen Bildungspolitik.

Vor allem im vierten und letzten Volksschuljahr der Kinder, wird der Druck unter dem sowohl Lehrerin als auch Schüler*innen stehen nochmals hervorgehoben. Die Kamera macht noch einen weiteren Schritt auf die Kinder zu, spricht nun mit ihnen, bringt sich in das Klassenzimmergeschehen mit ein. Vor allem bei der (Deutsch-)Schularbeitsrückgabe fallen Tränen, das Ziel eines österreichischen Gymnasiums, verbunden mit Status, rückt in die Ferne.

Tränen fallen auch auf Seiten der Lehrkraft als diese verkündet keinen Ersatz für den Zeitraum ihres Mutterschutzes gefunden zu haben, die Ressourcen sind für die Klasse einfach zu begrenzt.

Verleih: Filmladen

„Favoriten“ ist eine Dokumentation die durch das Storytelling nicht nur einen einzigartigen Blick auf das Schulleben und die Gefühlswelt der Kinder preisgibt, sondern auch die Strukturen und Probleme des österreichischen Schulsystems freilegt. Während Zusehende sich an dem neu gewonnen Blickwinkel und den unverfälschten Reaktionen der Kinder erheitern, wird klar, das Lehrpersonal der größten Volksschule in Wien hat schon länger mit Mängeln an allen Ecken und Enden zu kämpfen. Ruth Beckermanns Film schafft es, durch gelungene Kameraführung und Schnitt eine Verbindung zwischen dem privaten und dem schulischen Umfeld der Kinder herzustellen und so den Spaß aber auch den Druck unter dem die Schüler*innen als auch die Lehrer*innen stehen zu verdeutlichen.

Die Dokumentation zeigt also wirklich etwas Neues: Schule als System und Gemeinschaft, Schule aus einer Perspektive, die sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte berücksichtigt und sonst verdeckte Strukturen freilegt.

Zwei Filme, Eine Jugend: Spätadoleszenz und Coming of Age auf der Diagonale 23. Eine vergleichende Kritik zwischen Wer wir einmal sein wollten und Breaking the Ice

Tobit Levi Rohner

Auf der diesjährigen Diagonale liefen zwei Filme im Programm, die sich einer ähnlichen Grundprämisse bedienen: Eine junge Frau, irgendwo in ihren frühen Zwanzigern zu verorten, geht zwei verschiedenen Tätigkeiten nach, die ihre Lebenszeit beanspruchen und definieren. An der Schwelle des Erwachsenwerdens nehmen ihre Träume und Ziele, die hilfsbedürftige Familie, die ihre Aufmerksamkeit beansprucht, und eine generelle Orientierungslosigkeit wichtige wie erniedrigende Rollen ein. Die typischen Motive der Spätadoleszenz und der Coming of Age-Trope werden also in beiderlei Filmen verarbeitet. Selbst so manche Nebenfiguren haben in ihren Konzepten identische Charakterisierungen.

Wer wir einmal sein wollten
Breaking the Ice

Während Wer wir einmal sein wollten seine Protagonistin Anna als Aushilfe in einer Schauspielschule arbeiten und die Matura nachholen lässt, widmet sich Mira in Breaking the Ice ihrer Eishockeykarriere, ohne das Familienunternehmen der Weinherstellung zu vernachlässigen. Beide Leben sind geprägt vom Wunsch nach vollständiger Autonomie und den zurückhaltenden Regulierungen der familiären Bindung. Beide Filme verfolgen auf einer ästhetischen Ebene einen Inszenierungsstil des trockenen Realismus. Aber wo der eine Film visuell und inhaltlich Langeweile evoziert, baut der andere sein Leitmotiv erfolgreich aus.

Film besitzt die Möglichkeit, Lebensrealitäten nahezubringen, die ansonsten gemeinhin untergehen. Anna aus Wer wir einmal sein wollten befindet sich stets im Umfeld der Schauspielerei – dadurch wird klar, wie nah und zugleich fern sie dem Traum ihrer Kindheit ist und in dieser Distanz verharrt. Sicherlich mag das vielen nachvollziehbar erscheinen. Allerdings wurde die Wunschvorstellung, die nicht erfüllt werden kann, auch in der zeitnahen Filmgeschichte ausgearbeitet. Wer wir einmal sein wollten verpasst es, etwas neues oder interessantes zu zeigen, etwas, das die dröge Erzählweise legitimiert. Breaking the Ice hingegen wählt einen anderen Ansatz. Dieser Film beginnt mit einer Einstellung, die ein Eishockeystadion zeigt, wobei die Wandfassade zusammen mit der spiegelnden Eisfläche eine zugespitzte, ovale Form ergibt. Eine Form, die an ein Auge erinnert. Und sogleich wird ein Puck Richtung Kamera geschossen, als handle es sich um einen direkten Angriff auf die Netzhaut. Auch wenn Breaking the Ice sicherlich nicht allzu radikal ist, so formuliert der Film seine eigene Aufgabe, eine Lebensrealität zu zeigen, die medial untergeht. Hier spielen Frauen auf dem Eis – in einem spärlich besuchten Stadion. Bezahlt werden sie im Gegensatz zu den männlichen Gegenparts nicht, müssen selbst für das Training aufkommen und nebenbei
hauptberuflich einer Tätigkeit nachkommen. Auf Miras Schultern, der Kapitänin des Teams, lastet zusätzlich ein dementer Großvater, eine emotional verschränkte Mutter und ein weggelaufener Bruder. Zwischen den beiden Filmen steht also einerseits das oft gesehene Theaterspiel als Metapher unerreichter Träume und auf der anderen Seite mit Fraueneishockey eine selten veranschaulichte Lebensrealität.

Bezogen auf die Protagonistinnen beider Filme, so ist Anna bereits auserzählt. Viel mehr Charakterisierung als in dieser Kritik bereits angesprochen ist ihrer redundanten Figur nicht gegönnt. Mit Mira versucht sich Breaking the Ice hingegen an einem Charakterporträt, das – wie der Titel suggeriert – von einer emotional verschlossenen Person handelt. Sie ist aber nicht teilnahmslos. Über Dating-Apps trifft sie sich zum Beispiel mit etwas älteren Frauen für diskreten Sex, aber als eine neue Spielerin zum Team dazustoßt, bleibt Mira distanziert. Wenn auch an der eigenen Haltung scheiternd, sucht Mira nach persönlicher Freiheit und Emanzipation. Mit der queeren Facette Miras, die nicht allpräsent ist, sie als Person aber prägt, und der Zurückhaltung erhält die Figur nötige Charaktertiefe, um einen Film tragen zu können (was man bei Wer wir einmal sein wollten leider vermisst).

Verdächtig komische Ähnlichkeit haben aber beide Filme bei einer Nebenfigur aufzuweisen. Der verantwortungsscheue Bruder, der eigentlich die Familie verlassen hat, nun plötzlich beim Arbeitsplatz der Protagonistin erscheint und Unterkunft sowie finanzielle Mittel erfragt, ist in ihren Grundzügen zumindest die gleiche Persona. Allerdings finden sich Unterschiede in der Ausarbeitung. Die Charakterentwicklung des Bruders Patrick bei Wer wir einmal sein wollten
endet genau da, wo sie eingeführt wurde. Er startet mit Schulden bei zwielichtigen Personen, auf die er sich eingelassen hat, und verbleibt dann auch in der Kriminalität. Von einer Milieustudie kann man hier aber beim besten Willen nicht sprechen – Der Film bettet Patricks Verhalten nicht in gesellschaftliche Gegebenheiten ein oder findet andere interessante Ansätze. Bei Breaking the Ice flüchtet der Bruder Paul zwar auch vor Verantwortung, allerdings greift seine Charakterisierung komplexer. Er flüchtet vor allem vor einer dysfunktionalen Familie, die nicht in der Lage ist, Traumata aufzuarbeiten. Anstatt die ausgeleierte „Er ist jetzt Gangster“-Schiene abzufahren geht Paul einem alltäglichen Schauspiel nach: In Bars entwirft er seine Persona immer wieder neu, nennt sich mal Josef, mal Gustav und steckt Mitmenschen mit der Lust zum hedonistischen Spiel an – auch das Publikum. Damit verkörpert er den Ansatz, Identität multipel zu verstehen und lehnt es ab, nach der Essenz des Seins zu suchen, da sie sowieso nicht existiert. Welche Dynamiken dann durch das Treffen mit seiner Schwester entstehen, arbeitet der Film vielschichtig auf.

Mag man aber die Figuren im Gesamtkonstrukt genauer unter die Lupe nehmen, so fällt auf, dass sich Wer wir einmal sein wollten nicht nur im Inszenierungsstil, sondern auch bezüglich Geschlechterrollen versteift gibt. Mit Thesen und Aussagen von Feminism WTF im Hinterkopf (einem Film, der ebenfalls im Rahmen der Diagonale gezeigt wurde), verbleiben die Figuren in
ihren jeweiligen geschlechterkonformen Fracks. Patrick ist der aggressive, der entweder zu Gewalt oder einer mürrischen Ablehnung greift, denn er scheint nicht in der Lage zu sein, seine inneren Konflikte zu kommunizieren – typisch maskulin. Anna hingegen hat die sozial kompetenten Fähigkeiten vorzuweisen. Man könnte sagen, sie bemuttert ihren Bruder geradezu. Dabei wird keinerlei Lösung angeboten, auch kein Spiel findet statt, lediglich die Geschlechterregeln werden reproduziert. Nun kann man dies damit verteidigen, dass der Film einen Ansatz des Realismus wählt (wobei damit das Scheitern der Geschlechterrollen in der Realität ignoriert wird) oder dass eine Aufarbeitung von Geschlechternormen nicht das Ziel des Films ist. Vor allem aber unterstreicht damit Wer wir einmal sein wollten die Qualitäten bezüglich sex und gender in Breaking the Ice. Nicht nur sind hier die Rollen auf den Kopf gestellt – so steckt eher in Anna eine subversive Aggression und Paul ist der sozial offenere, der sich gerne feminin bewegt – es wird aktiv mit den Rollenbildern gespielt, um sie zu unterwandern. Anna posiert halbnackt vor dem Spiegel, in Positionen, die die Muskeln ihres Körpers betonen. Oder sie zieht sich in Bars männlich codierte Kleidung über und schmückt ihr Gesicht neben Eyeliner mit der Bemalung eines Vollbarts. Anna wird nicht einzig und allein auf diese Charakterzüge reduziert, vielmehr geschieht dies in einer Beiläufigkeit, die die queere Ader des Films authentisch stabilisiert und zeigt, dass die Regisseurin Clara Stern Ahnung von der Materie hat.

Damit lässt sich sagen, dass Wer wir einmal sein wollten, so nett er als Abschlussfilm eines Studenten erscheinen mag, vor allem in einer uninspirierten Belanglosigkeit verkümmert – er thematisiert einen Stoff, der weder inhaltlich noch formal erfrischend wirkt. Breaking the Ice arbeitet die gleichen Motive interessanter aus, weiß mehr mit der steiften Inszenierungsform anzufangen und bietet mehr Figurentiefe – auch wenn die Figuren auf den hölzernen Dialogen etwas ausrutschen, erweist sich dieser Film als wesentlich jugendlicher.

Feminism FTW: Wie ein Dokumentarfilm Fragen beantwortet und neue stellt

von Tobit Levi Rohner

Unter dem Titel Feminism WTF (vermutlich DER Film für tfm-Studierende) versucht sich Regisseurin Katharina Mückstein daran, grundlegende Stellungen und Positionen des feministischen Denkens darzulegen und massentauglich sowie verständlich einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das lässt sich auch in der Ästhetik feststellen: Die leitenden Interviews sind in verschiedenen Räumen gefilmt, thematisch immer geprägt von einer knalligen Farbe, die das Bild einnimmt, nie aber von den Inhalten der sprechenden Personen ablenkt. Zwischen den Interviews finden sich Performances und kleine Sozialexperimente, welche das Gesagte untermauern, auflockern oder einfach wirken lassen.

Feminism WTF

Eine Stärke der Dokumentation liegt darin, eine schiere Anzahl an Menschen zu Wort kommen zu lassen. Das führt unweigerlich zu einer Diversität an Personenkraft, die das kollegiale Miteinander betont und mehrere Perspektiven aufwirft. Man muss aber auch dazu sagen, dass Feminism WTF keine historische Darbietung der Frauenbewegungen liefert, sondern vor allem eine aktuelle Herangehensweise porträtiert. Feminismus ist keine singuläre homogene Einheit, sondern lässt sich eher mit FeminismS beschreiben – Wie man dem großen Ziel der Geschlechtergerechtigkeit nahekommt, dazu gibt es plurale Methoden und Ansichten.
Mückstein hingegen konzentriert ihre filmische Arbeit auf einen bestimmten Ansatz, den intersektionalen Feminismus.

Intersektionalität, in der Sozial- und Kulturwissenschaft aktuell äußerst beliebt und momentan Einzug findend in politische Diskurse, beschreibt das sich gegenseitig bedingende Zusammendenken mehrerer Diskriminierungskategorien. Das macht komplexere Sachverhalte
greifbarer. Feminismus und Filmgeschichte haben eine Historizität, die sich (mal mehr, mal weniger) gegenseitig abzubilden vermochte. Filme aus den 40ern, die damals als progressiv in ihrer Frauendarstellung galten (zum Beispiel Mildred Pierce), merkt man unter heutiger Betrachtungsweise ihr Alter an. So besteht nun die Möglichkeit, dass intersektionaler Feminismus Einzug in die Filmwelt findet, womit neue Fragen aufkommen, wie diese Theorie filmisch aufgearbeitet wird. Feminism WTF fokussiert sich auf die drei Hauptkategorien der Intersektionalität – race, class und gender. Daher verbindet die Doku vor allem Geschlechtshierarchien mit Kapital und Ethnie. In der Diskussion nach der Filmvorführung auf der Diagonale 23 war es aber auffällig, wie Nachfragen nach weiteren Unterdrückungsmechanismen aufkamen – etwa nach dis/ability, age oder religion. Nun stellt sich die Frage, wie viele Kategorien ein intersektionaler Film aufgreifen und vernetzen kann? Immerhin: Werden zu viele Kategorien behandelt, so droht es dem Film seine Aussagekraft zu verwässern. Das rege Publikum hat aber nicht den Film missverstanden, ganz im Gegenteil. Es ist zu loben, dass die Dokumentation das eigene, kritische Denken anregt. Wer wird in unserer Gesellschaft gesehen und verstanden? Wer wird übersehen? Welche Personengruppen finden öffentlich statt und welchen wird der Zugriff verwehrt? Dies ist das Potential, das Intersektionalität bietet und Feminism WTF ausschöpft. Allerdings erscheint die Frage sehr präsent, für wen die Dokumentation gedacht ist und welches Zielpublikum sie schlussendlich erreicht. Die Rezeption politischer Filme steht immerhin in starker Abhängigkeit der eigenen politischen Haltung. Misogyne Personen werden ihre Position nach Feminism WTF nicht verabschieden. Theorienvertraute ziehen keine neuen Schlüsse aus dem Film. Man könnte eine „politische Mitte“, die dem Feminismus nicht abgeneigt ist, sich aber ebenso wenig selbstinformiert, als wünschenswertes Publikum definieren. Ob eben jene Personengruppe aber überhaupt erreicht wird, ob sie die Möglichkeit hat (aus Eigeninteresse) den Film zu sichten, bleibt fragwürdig. Dafür müsste eine Mobilisierung der Dokumentation stattfinden – in das Internet, in Schulgebäude, in die Öffentlichkeit. Denn gerade dort kann Feminism WTF Anklang finden, wo Interesse besteht, aber noch keine intensive
Auseinandersetzung stattgefunden hat.

Feminism WTF

von Eva Weinlich

Feminism WTF, ein Dokumentar-Spielfilm der bereits mit seinem Titel und Cover Aufmerksamkeit einfordert und diese mitunter auch bekommt. Fraglich ist allerdings von welchem Publikum? Abhängig vom gewählten Spielort, spricht dieser die mehr oder weniger passende Zielgruppe der Gesellschaft an, die wohl unabhängig vom optischen Geschmack ein Grundinteresse für die Thematik mitbringen dürfte.

Feminism WTF

Wenn der Film als „Feminismus ABC“ und intersektionaler Einstieg in den
deutschsprachigen Diskurs verstanden werden soll, wie es die Regisseurin Katharina Mückstein selbst in einem Nachgespräch verlauten lässt, dann erfüllt er diesen Anspruch desgleichen nur zu einem gewissen Grad. Die anwesende Zuhörerschaft dürfte durchaus mit dem angloamerikanischem Wording vertraut sein und so stellt sich weiters die Frage, ob es für dieses handbuchgleiche Aufschlüsseln in seine Einzelfaktoren nicht bereits ein paar Jahre zu spät ist.
Dessen ungeachtet gelingt es der Dokumentation den gewählten Expert:innen Raum zu geben, um ihnen – zumindest in diesem Rahmen – die bewusst ununterbrochene, volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die Wort-lastigen Interviewszenen werden regelmäßig von Tanz-Performances, fotographisch eindrücklichen, inszenierten Bild-Situationen, sowie weiß-geblockten Zitaten der feministischen Theorie unterschiedlicher Wissenschaften hinterlegt auf buntem Hintergrund abgewechselt.
Das Pastell-Farbschema, mit vordergründigem Fokus auf Variationen von blau und rosa/ rot, welches sich im Laufe des Filmes entfaltet, macht ihn optisch so ansprechend. Unabhängig von der offensichtlichen Anspielung an die Queer*-Szene und an die Vielfältigkeitsdebatten gerade in Bezug auf Genderbinarität, lässt dies den Blick schwer von der Leinwand schweifen, trotz, oder gerade wegen des theorieschweren, behandelten Themas.
Die Regisseurin selbst spricht von „Commitement zur Ambivalenz“ um einen, in all seinen Facetten, diversen Überblick geben zu können. Binarität wird dabei vollkommen, auf allen Ebenen des Films, in Frage gestellt. Der Diversitätsbezug indes auf Seiten des angesprochenen Publikums bleibt ungeklärt und wird sich womöglich erst mit offiziellem Kinostart am 31.03.2023 klären.
„So simpel wie möglich, so komplex wie nötig!“ lautet das inhaltliche Motto, welches Hierarchien und Machtverhältnisse unterschiedlicher Privilegien schulbuchartig aufarbeitet. Darin liegt womöglich das Potenzial dieses Films. Mit einem klaren Appell hofft er gerade jüngeren Rezipient:innen Gleichstellung zu vermitteln, im Wunschgedanken sich in Zukunft mit vielen dieser herausgestellten Problematiken nicht mehr beschäftigen zu müssen, da eine feministische Perspektive in der Allgemeinheit als normal angenommen sein würde.

Vom Abseits in den Fokus

Elodie Christin Ahn

Ein Ball, ein Tor, ein Schuss und elf Frauen, die sich jubelnd in die Arme fallen. Mit Medaillen um den Hals kehren sie anschließend zurück in die Heimat. Dort geht das Jubeln auf den Straßen weiter. Zahlreiche Menschen empfangen ihre neu auserkorenen Nationalheldinnen. Frauen meist in traditionelle Gewänder gekleidet und Männer in Hemd und Krawatte schwenken euphorisch Blumen, Glückwünsche sowie die Flagge ihres Landes. Die Linie zwischen sportlicher Leidenschaft und Nationalstolz verschwimmt. Als Frau auf einem Fußballplatz erfolgreich zu werden ist keine Selbstverständlichkeit, insbesondere wenn ihre Heimat Nordkorea heißt und sich der Rasen außerhalb der Landesgrenzen befindet. Neben Disziplin und Ehrgeiz braucht es dazu auch das richtige Team. Gewonnen wie verloren wird stets gemeinsam.

Hana, dul, sed …

Von diesem besonderen Durchhaltevermögen und Zusammenhalt erzählt der Dokumentarfilm Hana, dul, sed … aus dem Jahr 2009. Darin begleiten Brigitte Weich und ihr Team vier Spielerinnen des nordkoreanischen Frauenfußball-Nationalteams während ihrer aktiven Spielzeit bis zur verpassten Qualifikation für die Olympischen Spiele in Athen und in der Zeit nach dem abrupten Karriere-Aus. Der Film erzählt dabei kein Fußballmärchen, sondern die Geschichte von vier Frauen und ihren ganz persönlichen Schicksalen. Es ist ein Kennenlernen der Protagonistinnen Ra Mi Ae, Ri Jong Hi, Ri Hyang Ok und Jin Pyol Hi auf dem Weg zum Höhepunkt ihrer Laufbahn als Fußballerinnen sowie dem Leben danach. Hana, dul, sed … ist der erste Teil einer Langzeitbeobachtung, die im diesjährig erscheinenden Folgewerk … Ned, Tassot, Yossot … fortgesetzt wird. Im Mittelpunkt stehen Erfahrungen als
Sportlerinnen in einer Männerdomäne und als Frauen in einer von strengen patriarchalen Traditionen geprägten Gesellschaft. Dabei werden die Protagonistinnen keinesfalls auf diese Rollen reduziert. Stark gemacht werden die individuellen Persönlichkeiten der Frauen mit all ihren Eigenheiten, Träumen und Wünschen. Von diesen erzählen sie in Interviews selbst. Ihre Darstellung zeigt sie zutiefst menschlich und schafft die Atmosphäre eines Gesprächs unter guten Bekannten. Informationen aus den Interviews werden durch Bilder aus dem Leben der Spielerinnen ergänzt. An ihrer Hand bewegen sich die drei Frauen hinter der Kamera – Brigitte Weich (Regie), Judith Benedikt (Kamera) und Cordula Thym (Ton) – durch die Straßen Nordkoreas. Scheinbar beiläufig lassen sich dabei Einblicke in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete Gesellschaft erhaschen.

Die Kamera fängt Momente der Lebensumstände in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang ein. Plakatwände, deren Motive keine Werbung für Güter, sondern das Wohl des Volkes sowie seines Führers zeigen, auf Straßen, die viel zu breit für die überschaubare Menge an Autos scheinen. Ausschnitte aus dem Alltag
der vier Nordkoreanerinnen, die aufgrund ihrer Stellung als Spielerinnen der Nation Privilegien wie erhöhte Essensrationen und einen Wohnplatz in der Hauptstadt genießen, geben Einblicke in das Leben unter dem Regime. Weniger privilegierte Existenzen lassen sich im Vergleich dazu nur erahnen. Räume,
die ohne die Spielerinnen nicht betreten werden können, bleiben verschlossen. Die Dokumentation zeigt kein vollständiges Bild der demokratischen Volksrepublik Korea, sondern den Versuch einer Annäherung an unbekannte Lebensumstände. Die (Ex-) Spielerinnen fungieren als Linse, durch die ihre
Heimat sichtbar wird. Deutlich werden aus dieser Perspektive ihre Verpflichtungen als Bürgerinnen. Neben den eigenen Träumen soll auch der Willen des Generals – wie Kim Jong Il als Staatsoberhaupt bezeichnet wird – verwirklicht werden. Individueller Erfolg wird stets in Referenz zum Kollektiv
gemessen. Das Private wird nicht nur politisch, sondern gänzlich aufgelöst. Die Liebe zum Fußball verschmilzt mit der Hingabe zur Nation. Spiele gegen politische Feinde wie Japan oder die USA sind mehr als der Beweis sportlicher Leistung. Auf dem Spiel stehen neben dem Nationalstolz auch ein Stück Freiheit und Selbstbestimmung als erfolgreiche Profi-Sportlerinnen.

Das Aus der aktiven Fußballkarriere bedeutet eine Wiedereingliederung in vorhergesehene Strukturen und Rollenbilder: Heirat, Kinder, Haushalt. Der Kampf um Sieg und Niederlage geht nun im Alltag weiter, wenn auch ohne großen Jubel. Die Leidenschaft zum Sport und eine lebenslange Freundschaft bleiben. Gedanken des Widerstands finden sich in erster Linie auf dem Spielfeld und dem Weg dorthin. Auch wenn sie ihren Kindern traditionelle Rollenbilder und Gehorsamkeit gegenüber dem Regime weiter vermitteln, erleben diese ein Stück Rebellion: Mütter, die entgegen allen Erwartungen einen Sport dominierten und ihre Leidenschaft an ihre und andere Töchter der Nation weitergeben wollen. Hana, dul, sed … erzählt von sportlichem Ehrgeiz, Identität und Freundschaft. Inmitten aller Einschränkungen dominiert der Zusammenhalt. Ein Teamgeist fernab unserer Vorstellungen, der sich auf und abseits des Spielfelds unter Beweis stellt.

Vier Frauen, ein Mann: Hana, dul, sed…

Julia Reischl

Nordkorea – Fußballnation. Diese Wortkombination mag für westlich geprägte Ohren vielleicht etwas seltsam und befremdlich klingen, doch Hana, dul, sed … bietet uns Einblicke in das Land, die diese Irritationen widerlegen.

Hana, dul, sed …

In dem österreichischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2009 nehmen uns Brigitte Weich und Karin Macher mit zu verschiedensten Fußballspielen des nordkoreanischen Frauennationalteams. Das Spannende und Besondere an dieser Dokumentation ist, dass ein großer Teil von Hana, dul, sed … auch das Leben nach der aktiven Spielerinnenkarriere beleuchtet. Der Fokus liegt hierbei auf vier ausgewählten Frauen: Ri Jong Hi, Ra Mi Ae, Jin Pyol Hi und Ri Hyang Ok. Wir beobachten sie bei Handlungen des alltäglichen Lebens, erfahren von ihren neuen Berufen und Partnern. All das wird immer von einer Person
überschattet, dem Regierungschef Nordkoreas, Kim Il-sung.

Der „General“, wie der Diktator im Film bezeichnet wird, dominierte schon über das Fußballteam. Sie wollten zu seinen Ehren spielen und gewinnen, heißt es. Bereits die Entstehung des Teams lag in seiner Hand, denn das Land sollte im Profifußball erfolgreich sein. Das Männerteam hatte dies nicht bewerkstelligen können, nun sollten die Frauen es probieren und wie sich im Film zeigt, feierten sie große Erfolge: Sie gewannen zweimal die Asienmeisterschaften und nahmen an der Weltmeisterschaft 2003 erfolgreich teil. Als die Qualifikation zu den Olympischen Spielen in Athen jedoch nicht glückte, hatte erneut das Staatsoberhaupt die Macht über die Frauen und erneuerte das Team. An dieser Stelle wechselt die Dokumentation in die zweite Phase, um über das Leben der oben genannten Spielerinnen zu berichten.

Dies geschieht unaufgeregt, ohne Wertung dessen, was gesehen wird. Die Filmemacherinnen stellen den Frauen persönliche Fragen, zeigen ihren immer noch vorhandenen Zusammenhalt, ihre Freundschaft, die anhält, obwohl sie längst nicht mehr gemeinsam am Feld stehen. In vertrauten Gesprächen erfahren wir über Ra Mi Aes Kindheit, ihr „Anderssein als andere Mädchen“. Dieses macht sich immer noch bemerkbar, wenn sie über ihre Zukunftspläne spricht, die entgegen den gesellschaftlichen Konventionen zu sein scheinen. Jene werden im Begleiten der anderen Frauen stark sichtbar. Jin Pyol Hi hat ihren (zum Zeitpunkt der Dreharbeiten) Verlobten durch eine Vermittlung kennengelernt. Sie wird nun zu ihm ziehen und sich um die Familie kümmern, wie es von der Gesellschaft (und ihrem Mann) erwartet wird. Zwischen den
Aufnahmen der Frauen finden sich Bilder des Alltags, der Straßen Pjöngjangs. Sie sind leer, zentral sichtbar eine Statue des „Generals“. Dieser beeinflusst das Leben aller Menschen Nordkoreas von Beginn an. Ri Jong Hi hat eine Tochter, die vom Filmteam in ihren Kindergarten begleitet wird und dort bereits alles über ihr Staatsoberhaupt gelehrt wird. Er ist allgegenwärtig, bestimmt über ihre Leben und erfährt dennoch keinen Widerstand. Selbst dann nicht, wenn der Lebensmitteleinkauf rationiert wird. Die Regierung sorgt nämlich für Feindbilder. Egal ob die USA oder Japan, auf diese beiden Länder wird jeglicher Frust und Hass projiziert, im Alltag wie im Fußball. Der Sport wird sogar symbolisch genutzt, um eine Chance zu bekommen „die Feinde zu besiegen“.

All dies zeigt Hana, dul, sed … nebenbei, durch Gespräche und Bilder. Die vier ehemaligen Fußballspielerinnen bekommen hier eine Plattform, um über ihre Leben zu erzählen. Sie berichten über die verschiedensten Berufe, die sie nach der Karriere anstreben, präsentieren ihre sportlichen Höhen und Tiefen. Sie zeigen der Welt, was eine Schwesternschaft wie die ihre alles möglich macht. Der Film bietet durch seine ruhigen und intimen Aufnahmen interessante
Einblicke in die Lebensrealität von Frauen in Nordkorea, eine seltene Gelegenheit für die westliche Welt. Fußballfans kommen, gerade durch die erste Hälfte des Films, ebenfalls auf ihre Kosten. Die Erzählungen über ihre aktive Zeit als Sportlerinnen werden von diversesten Matchübertragungen begleitet, die durch den Zusammenschnitt Spannung erzeugen. Man sitzt wie gebannt vor der Leinwand und fiebert mit den gerade erst Kennengelernten mit. Der rote
Faden, der sich durch diesen Film zieht, ist dennoch die allgegenwärtige Präsenz des „Generals“. Egal in welchem Bereich des Lebens, es wird über ihn gesprochen, etwas durch seine Politik ermöglicht, oder er ist tatsächlich präsent in Form eines Abbildes. Dies wirkt befremdlich und beängstigend auf uns, ohne jemals so negativ hervorgehoben zu werden, denn für die Menschen in Nordkorea ist das der Alltag. Ein Alltag, der von den Filmemacherinnen, erfreulicherweise, nicht hinterfragt, bewertet oder bekämpft wird. Sie zeigen ihn ungefiltert, wie er ist, überlassen uns jegliche Wertung. Diese entsteht ohnehin unvermeidlich, aufgrund unserer unterschiedlichen Erfahrungen und demokratischen Werte.

Hana, dul, sed … ist eine Sportdokumentation besonderer Art, denn auch wenn über das Fußballteam und die Spiele berichtet wird, so liegt der Fokus auf den Leben der vier Frauen und was diese über die nordkoreanische Gesellschaft aussagen. Am Ende des Films hat man ein Verständnis für den Status Quo der nordkoreanischen Gesellschaft und vier wunderbare wie interessante Frauen ins Herz geschlossen. Gerne hätte man noch mehr Zeit mit ihnen verbracht.
Dazu bekommt man dieses Jahr auch die Chance, da die Fortsetzung …ned, tassot, yossot… in den Kinos startet. Hoffentlich setzt sie dort an, wo Hana, dul, sed … aufhörte und zeigt Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten in der Gesellschaft unter einem neuen „General“ auf!

2551.02 – Orgy of the Damned

Michael Grandits

Unsichere Sexualität und kinematografischer Exzess in einer postapokalyptischen Untergrundwelt.

Bereits mit dem ersten Teil seiner 2551-Trilogie konnte Norbert Pfaffenbichler 2021innerhalb der Genrefilm-Landschaft aufzeigen. In diesem wird eine dystopische Zukunftsvision in einer verkommenen Untergrundwelt gezeichnet, in der Sachen wie Empathie und Sprache der Vergangenheit angehören. Inmitten dieser kalten Breiten kämpft sich ein Affenmann durch den Alltag zwischen Überleben und Rebellion gegen die letzten Spuren von staatlicher Autorität. Im neuesten Teil der Trilogie 2551.02 – Orgy of the Damned erzählt Pfaffenbichler von der Suche des Affenmannes nach dem Kind, welches er im vorherigen Film gerettet und in weiterer Folge wieder an die Schergen dieser diffusen Autorität verloren hat.

2551.02 – Orgy of the Damned

Pfaffenbichler beweist hier Konsequenz. Er führt das Publikum immer tiefer in seinen Fiebertraum einer Gesellschaft hinein und zeigt menschliche Abgründe auf, mit denen man nicht gerechnet hat. Aber auch auf ästhetischer Ebene entwickelt er sich weiter und übertrifft mittels Kameraarbeit und Montage die Absurdität seines Vorgängerfilmes. In einigen Szenen wird eine derartige visuelle und auditive Überforderung provoziert, die man bis dato eher von Regisseuren wie Gaspar Noé gewohnt war. Der Zweittitel Orgy of the Damned beweist sich nicht nur als reines Beiwerk, sondern macht seinem Namen alle Ehre. Der Film führt uns in neue blutgetränkte Sphären des Sado-Masochismus und hält dabei schonungslos auf die explizite Szenerie aus Gewalt und Nacktheit drauf. Ein wahrhaftiges postapokalyptisches Sodom und Gomorrah.


Visuell folgt der Film dem Credo ‚Mehr ist mehr’. Die Beleuchtung ist exzessiv und wandlungsfähig, hangelt sich von bunten Stroboskop-Lichtern bis zu einer
atmosphärischen Stimmung, die an den frühen Expressionismus angelehnt ist. Aber auch dem Slapstick-Kino wird hin und wieder Tribut gezollt. Manche Szenen werden auf unterschiedlichste Weisen hochstilisiert, sodass man sich beinahe gar nicht satt sehen kann. An dieser Stelle könnte man argumentieren, dass sie einem reinen Selbstzweck dienen, doch überragt der Affekt in diesem Moment solche Gedanken, weshalb man bereit ist dem Film diese Entgleisungen deutlich einfacher zu verzeihen. In einer Szene wirft der Protagonist einen Blick in einen Guckkasten, in dem ein Film läuft. Zu sehen sind Aufnahmen von wilden sexuellen Praktiken gekoppelt mit Sounddesign und einer Montage, die hektischer nicht sein könnten. Diese Sequenz hat nichts zur Handlung beizutragen, doch zeigt sie exemplarisch den Status, in dem sich diese Gesellschaft befindet. Wahrlich verstörend, vor allem für Fans von Laurel und Hardy.


Ein wesentliches Merkmal der Diegese ist die Verhüllung der Gesichter aller Figuren durch mal mehr, mal weniger exhibitionistische Masken; ein Gimmick, das bereits im ersten Teil etabliert wurde. Dadurch wird den Figuren jegliche Wärme und Empathie entzogen, alle stehen für sich alleine und werden durch einen eigenen Avatar in der Außenwelt repräsentiert. Nur der Affenmann lehnt dies ab und kann dadurch eine Bindung zu dem Kind aufbauen, dessen Maske aus einem simplen Sack mit Löchern besteht. Im zweiten Film wird dieses Spiel weiter getrieben. Nicht nur die fehlende Präsenz von mimetischen Anhaltspunkten geht verloren, sondern das Konzept einer eindeutig zuordenbaren, binären Geschlechtervorstellung wird über den Haufen
geworfen. Nur wenige Personen innerhalb dieser Unterwelt lassen sich eindeutig als Mann oder Frau identifizieren. Entweder ist es schlicht und einfach zu finster oder die physischen Attribute und Verhaltensweisen sind zu ambivalent. Eben auch die Maske und Kleidung des Kindes dürfte bewusst geschlechtsneutral gestaltet worden sein. Emblematisch für diese unsichere Geschlechtervorstellung ist die erste Einstellung des Films, in der eine nackte Figur mit gespreizten Beinen liegt und dessen Penis sich in den Körper zurückzieht und eine Vagina preisgibt. Der einzige Geschlechtsakt zwischen einem vermeintlich heterosexuellen Paar wird in einer langen, ausgiebigen Einstellung mittels Doppelbelichtung mit Maden unterlegt. Heteronormativität wird somit in einen unreinen Kontext gestellt.

Orgy oft he Damned dürfte sich mit anderen vielversprechenden Highlights auf der diesjährigen Diagonale in Graz in eine neue Welle an kreativen und ausgefallenen Genre-Vertretern aus Österreich einreihen. Zu erwähnen wären u.a. Johannes Grenzfurthners Razzennest oder auch Family Dinner und Heimsuchung erhielten eine Vorstellung beim Festival. Alles in allem wird zu jedem Zeitpunkt die Leidenschaft und der Spaß am Filmemachen spürbar, welchen die Crew beim Produzieren gehabt haben muss. Im Gespräch, das auf das Screening folgte, hoben die Crewmitglieder die außerordentliche Gruppendynamik und Improvisationsbereitschaft am Set hervor. Insgesamt dürfte der Film vor allem Fans von ausgefallenem Horror ansprechen. Aber auch allen anderen sei der Film empfohlen, die nach Kinoerlebnissen suchen, die sie bis dahin noch nie hatten, denn eines ist klar, das war unvergleichlich…in einem guten Sinne

Zwischen/Gemeinsam: Analog und Digital

Laura Diessl

Die analoge Welt liegt im Wandel, die Digitalisierung ist im 21. Jahrhundert weit fortgeschritten. Es scheint die Prämisse zu gelten, je digitaler desto besser. Unzählige Medien werden vom Analogen ins Digitale geholt. Oftmals, um an allen Ecken und Enden zu sparen und effizienter zu werden. Emails verkürzen den Postweg und sparen Papier, die digitale Archivierung von Daten erleichtert den Zugang und der globale Austausch wird einfacher und schneller, um ein paar Beispiele zu nennen.

Diagonale’23 – Programmpräsentationen

Film und Fotografie sind ebenfalls Teil dieses Wandels. Die Geschichte beginnt im 19. Jahrhundert bei Lochkamera und Kinematograph und endet wahrscheinlich nicht so bald. Angekommen in der Gegenwart sind diese Apparate eher selten in Verwendung oder stehen im Museum, als Zeugen
vergangener Zeiten. Die Digitalisierung hat auch hier zugeschlagen.
Die technischen Neuerungen im Medium Film bringen Möglichkeiten, von denen die Brüder Lumière bei der Entwicklung des Kinematograph wohl kaum träumen konnten. Das Prinzip ist das Gleiche wie vor 130 Jahren: Standbilder werden aneinandergereiht, wodurch bewegte Bilder entstehen. Alles andere hat sich verändert. Eine Symbiose der beiden Welten zeigt der Film W O W (Kodak) von Viktoria Schmid. W O W (Kodak) zeigt die Sprengung eines Teils des Kodak-Firmenkomplexes in Rochester, New York. Schmid lässt digitales Found Footage der Sprengung rückwärts laufen. Aus bedrohlichen Staubwolken baut sich das alte Backsteingebäude wie von Zauberhand wieder auf. Der Abriss
bedeutet symbolisch wieder einmal das Ende des analogen Films (Fotografie und Film). Eine weitere Kodak Fabrik, die eingestampft wurde; ein weiterer Schritt weg vom Analogen, hin zum Digitalen. Schmids W O W (Kodak) hält die Wechselwirkung von Analog und Digital in der Jetztzeit exemplarisch fest.
An diesem Punkt könnte die alte Diskussion analog versus digital aufgemacht werden, aber das war nicht das Ziel von Viktoria Schmid und wird es auch von diesem Essay nicht sein. Viel mehr soll es hier um die Annäherung der beiden Medien gehen. Diese mediale Konvergenz findet auf mehreren Ebenen statt.

Erste Ebene: Vermischung von Analogem und Digitalem


Für ihre Montage nutzt Schmid digitales Found Footage von YouTube, schneidet es und spielt es auf Film aus. Ein eher ungewöhnlicher Prozess, wodurch digitales Material analog verarbeitet wird und im Endeffekt wieder digital einsehbar ist. Am Anfang der Geschichte wird Film analog gedreht, dann analog geschnitten und analog vorgeführt. Fast forward wird das analoge Material digital geschnitten und in beiden Formaten ausgespielt, um flexibel und effizienter das Filmwerk zu verbreiten. Fast forward again ist das Drehen auf analogem Film eine bewusste, künstlerische Entscheidung und keine Notwendigkeit mehr. Digitales Material wird digital geschnitten und als Digital Cinema Package um die Welt geschickt, um es dann auf digitalen Kinoprojektoren abzuspielen. Schmids Experimentalfilm fällt aus all diesen üblichen Kategorien raus. Grade das macht ihn besonders und eröffnet viele Ebenen und Lesarten. Hätte sie das gefundene Material einfach digital weiterverarbeitet, wären die Tiefe und unterschwellige Ironie zusammen mit dem Gebäude eingestürzt. Schmid vermischt Materialitäten, um daraus neues herzustellen. Sie löst Grenzen auf, oszilliert zwischen Medien und zeigt einen Bruch mit konventionellen Sehgewohnheiten. Hinzukommt die unkonventionelle Art die gefundenen Clips rückwärtslaufen zu lassen.

Der Fall des analogen Films wird umgedreht, nicht nur durch Schmid, die sich dem Medium verpflichtet, sondern auch durch den scheinbaren Wiederaufbau des Kodak Komplexes. Neben der materiellen Ebene, wird dadurch auch die Zeitachse umgedreht. Das Gebäude steht nicht nur einmal wieder auf,
sondern gleich mehrere Male aus verschiedenen Blickrichtungen. Genau wie das Gebäude lässt sich der analoge Film nicht unterkriegen und schafft es immer wieder vom Tode aufzustehen, zumindest in W O W (Kodak).

Zweite Ebene: Wie ein Phönix aus der Asche


Der Firmenkomplex verkörpert analogen Film und analoge Arbeitsplätze. Der Abriss des Gebäudes bedeutet daher nicht nur den Verlust dieser Arbeitsplätze, sondern eine weitere Eindämmung der Kapazität von Filmherstellung. Von dem einstigen Marktführer ist im 21. Jahrhundert nicht viel übrig geblieben. Ab 2003 wurden 47.000 Arbeitsplätze gestrichen und 2012 meldete Eastman Kodak schließlich Insolvenz an.1 Unter den Schaulustigen des Abrisses vom 18. Juli 2015 waren scheinbar viele (ehemalige) Mitarbeiter*innen, die zugesehen haben, wie sich ihr Arbeitsplatz in Luft beziehungsweise Staub auflöst. Unter (den titelgebenden) Ausrufen des Staunens (WOW) erhebt sich das Gebäude wie ein Phönix aus der Asche. Es wird entstaubt und baut sich wieder auf; ein Neuanfang? Leider nicht.

Der Abriss darf aber nicht als ein Sieg für das Digitale gesehen werden. Trotz der rückläufigen Produktion von Filmmaterial erfreut sich das Zelluloid größter Wertschätzung. Immer noch werden viele Filme analog gedreht. Besonders junge Menschen lassen das totgeglaubte Medium in der Fotografie wieder aufleben. Der Abriss des Firmenkomplexes bedeutet zwar einen großen Einschnitt in die Produktion von analogem Film, aber nicht dessen Ende. Das Rückwärtslaufen der Bilder in Schmids Film kann als Symbol für die Bewegung #filmisnotdead gesehen werden. Denn obwohl die Produktion massiv
zurückgegangen ist, wird analoger Film noch immer verwendet, um sich künstlerisch auszudrücken. Nicht nur das Gebäude, sondern auch das Zelluloid steigen aus ihrer Asche auf.

Dritte Ebene: Nicht gegeneinander sondern miteinander


Schmid zeigt mit W O W (Kodak) viel mehr eine Symbiose der beiden Materialien, als einen Wettbewerb. Beide Materialien haben Vor- und Nachteile und sollten nicht als Konkurrenz gesehen, sondern in ihrer Koexistenz gewürdigt werden. Schmid schafft es, diesen Zwiespalt zu überwinden
und zwischen Analogem und Digitalem zu oszillieren. Sie verwebt die unterschiedlichen Materialien untrennbar miteinander und konserviert sie für die Zukunft. Denn die Ironie am Wechsel von Analog zu Digital liegt in der Haltbarkeit des Materials. Analoger Film ist die einzige Art der Konservierung, die sich auf lange Sicht bewährt hat. Der langlebige analoge Film wurde
weitgehend durch schnelllebige digitale Dateien ersetzt. Die originale Qualität von 35mm Film entspricht der heutigen Bildauflösung von 4K. Was der
analoge Film also schon immer konnte, mussten digitale Bilder neu lernen: gut aussehen. Der Wechsel von alt auf neu ist nicht immer gleich besser, aber eben auch nicht immer schlechter. Es ist das, was man aus dem Wechsel macht. Schmid hat ein Werk geschaffen, das die Brücke zwischen zwei Welten schlägt, die sich so nahe und doch so fern sind. Im Diskurs sollte es daher
nicht darum gehen, welches Medium besser ist. Analoger Film und digitale Dateien haben Vor- und Nachteile, die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Viel mehr sollte das Material genutzt werden, um Grenzen auszureizen, wie es Schmid gemacht hat.


Endnoten:
1) Unbekannt, „Kodak ist pleite. Ende einer Traditionsfirma“, SPIEGEL Wirtschaft, 19.01.2012, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/ende-einer-traditionsfirma-kodak-ist-pleite-a-809979.html

Entlarvung des Publikums in den Todesspielen

Filmkritik zu den Filmen Funny Games (1977) und dem US-Remake Funny Games (2007)

von Anja Mollnhuber

Was wollen wir im Kino, in Filmen sehen?

Die Diagonale 2022 in Graz geht mit den beiden Filmen Funny Games (1977) und dessen US-Remake Funny Games (2007), beide von Michael Haneke, in die letzte Runde. Sie werden anlässlich von Michael Hanekes 80. Geburtstag im Schubertkino gespielt. Zwei als Psychothriller gekennzeichnete Werke, die zusammen mit einer Spieldauer von über drei Stunden einen halben Nachmittag füllen.1 Sehenswert?

Die kleine Ansprache der Moderatorin, die das anwesende Publikum in die nächsten Stunden einleitet, wird vielleicht jene irritieren, denen der Name Michael Haneke bisher nichts gesagt hat. So manch eine*r könnte auch in Zweifel geraten, ob die Entscheidung zu diesem Kinobesuch eine gute war. Ziel der Rede, so scheint es, ist nicht nur die Vermittlung von Hintergrundinformationen zu den Filmen, sondern auch, die Zuschauer*innen auf das Kommende vorzubereiten bzw. davor zu warnen. Besonders deutlich geht die Moderatorin dabei auf die gespaltenen Reaktionen des Publikums in der Vergangenheit ein. Zu diesen zählten unter anderem Schock und Verstörung, manche erlebten das Filmmaterial laut ihr „wie eine Vergewaltigung“. Michael Hanekes Ziel sei es, so erklärt die Dame noch, der Glorifizierung von Gewalt in den Filmen entgegenzuwirken, indem er diese mit extremer Gewalt in seinen Filmen bekämpft.

Diese Einleitung führt dazu, dass mehrere Personen bereits zu Beginn des Films, aber auch unterdessen den Saal verlassen – eine ungewöhnliche Situation, denn schließlich wurde der Film trotz allem als Psychothriller ausgeschrieben und war dementsprechend an Menschen adressiert, die dieses Genre kennen. Der Rest des Publikums hat wohl trotz vorheriger Warnung beschlossen, abzuwarten und erst einmal zu schauen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der erste Film beginnt mit der Anreise einer Familie zu ihrem Ferienwohnhaus am See in schöner Natur. Im Auto sitzen Mutter Anna, Vater Georg und Sohn Schorschi im Kindesalter sowie ihr Hund. Auf dem Weg fallen ihnen zwei junge Männer auf, die neu in der der Familie vertrauten Nachbarschaft sind. Kaum angekommen, bekommt die Familie bereits Besuch. Einer der jungen Männer, Paul, möchte Eier für die Nachbarin holen und sein Freund, Peter, nur kurz den Golfschläger der Familie testen. Ein Vorwand, der den beiden Zutritt zum Haus verschafft und ihnen gewährt, ihre sadistisch-tödlichen Spiele an der Familie auszulassen. Jegliche Versuche der Gegenwehr und der Flucht scheitern, bis auch das letzte Familienmitglied den Männern zum Opfer fällt. Doch Paul und Peter haben schon Pläne, mit wem sie als Nächstes spielen wollen…

30 Jahre liegen zwischen den gleichnamigen Filmen – eine lange Zeit, doch verändert hat sich nicht so viel. Einstellung für Einstellung wurde identisch nachgestellt, das Setting so ähnlich wie möglich nachrekonstruiert – von der Kleidung bis zur Küchenausstattung. Auch inhaltlich und sprachlich fallen kaum Differenzen auf. Was Funny Games (1977) von Funny Games (2007) hauptsächlich unterscheidet, ist die Besetzung.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler leisten gute Arbeit in beiden Filmen, die schockieren wollen. Gefühle, wie die im Laufe der Filme sich immer mehr ausbreitende Verzweiflung werden meist sehr authentisch vermittelt und auch die Rollen der Sadisten mit ihrer Kälte, die von Zynismus und Häme durchtränkt ist, wurden hervorragend besetzt. Im österreichischen Film von 1977 spielen Susanne Lothar (Anna), Ulrich Mühe (Georg), Arno Frisch (Paul), Frank Giering (Peter) und Stefan Clapczynsk (Schorschi).2 Beim US-Remake sind die Hauptrollen an Naomi Watts (Anna), Tim Roth (George), Michael Pitt (Paul), Brady Corbet (Peter) und Devon Gearhart (Georgie) verteilt.3

Warum gehen wir ins Kino, um uns mit Horrorfilmen und Psychothrillern zu konfrontieren? Was bewegt uns zu diesen Themen, worin liegt der Reiz?

Fernab der Wirklichkeit

Auffallend im Plot sind mehrere Situationen, die unglaubwürdig erscheinen. Dies beginnt bereits damit, als Anna von Peter mit dem Spiel „Kälter-Wärmer“ zu ihrem ermordeten Hund geführt wird. Zwar weiß Anna, dass Paul mit ihrer Familie im Haus auf sie wartet, jedoch unternimmt sie keinen einzigen Versuch, sich gegen Peter zu wehren, obwohl er in einigem Abstand hinter ihr geht. Selbst als die Nachbarn vorbeischauen, drei erwachsene Personen, bekommen diese von ihr keine Anzeichen, dass Anna und ihre Familie in Gefahr sind. Stattdessen spielt die Mutter brav bei Peters Geplänkel mit. Diese Passivität auf Seiten der Familie zieht sich durch die gesamte Handlung und erscheint als fragwürdig. Zwar werden Versuche unternommen, dem Treiben der Jungs ein Ende zu setzen, jedoch nur mit mäßiger Anstrengung. Begründet werden könnte es vielleicht mit dem Schock, von zwei Männern in weißen Handschuhen, über deren Sinnlosigkeit sich zu Beginn niemand wundert, wie aus dem Nichts grundlos gefoltert zu werden. Dabei bestehen die Sadisten auf übertriebene Höflichkeit und verlangen, dass sich alle an die grauenvollen Spielregeln ihrer „Funny Games“ halten. Die Achtung auf diese überspitzten Umgangsformen angesichts der Taten der zwei Männer erscheint grotesk, jedoch passt sie perfekt in das Bild eines Psychopathen ohne Empathie, der ein Faible für Golfbälle hat.

Doch nicht alles entzieht sich dem Gefühl des Realen, der Wirklichkeitsnähe…

Dem Albtraum so nah

Die Handlung spielt an einem Ort der Erholung – ein ruhiges, einladendes Urlaubsziel in der Natur, wo ein entspannter Sommer genossen werden könnte – und an dem es schwerfällt, sich vorzustellen, dass dort etwas Böses lauert. Die Familienmitglieder sind sympathische Charaktere, mit denen sich das Publikum einfach identifizieren kann. Außerdem verzichtet der Film gänzlich auf Special Effects oder unübliche Einsätze von Licht, wodurch der Film greifbar und nicht künstlich wirkt. Auch die düstere Musik wird sehr sparsam eingesetzt und dadurch verbleibt das Geschehen in einer Art „akustischem Realismus“, so als würde das Ganze im wirklichen Leben stattfinden. Hinzu kommt die Wahl der Geschwindigkeit. Quälend langsam zieht sich der Film und zwingt die Familie ebenso wie das Publikum, im sadistischen Terror zu verweilen und sich der immer hoffnungsloser werdenden Lage nicht entziehen zu können.

Das Grauen in Michael Hanekes beiden Werken liegt jedoch insbesondere an dem Verbrechen an der (kindlichen) Unschuld. Nicht nur, dass einer unbescholtenen Familie von unbekannten Männern, die selbst fast noch Jungen sind, grundlos und aus rein teuflischer Freude Abscheuliches zugefügt wird, ist ein Beispiel dessen. Zu den Opfern der eiskalten Täter zählen ein Kind, Schorschi, und ein Tier, der Familienhund, welche beide stark mit dem Begriff der Unschuld verbunden werden. Manifest wird das Kindliche, Unschuldige aber wohl am deutlichsten in der abartigen Perversion der Kinderspiele, den „Funny Games“. Diese Spiele kennen die meisten der Zuschauer*innen noch aus der eigenen Kindheit oder vom eigenen Nachwuchs und sind für viele zu einer schönen Erinnerung geworden. Hier werden die Spiele der Unschuldigen zu einem mörderischen Kampf um das Leben – das eigene sowie das der Liebsten.

Das wahre Erschaudern bei „Funny Games“

Abseits dieser Ambivalenz hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs besitzen beide Filme eine wertvolle Besonderheit, die sie von anderen Filmen ihres Genres stark unterscheidet – sie richten sich direkt an das Publikum. So zwinkert uns einer der Sadisten zu und fragt uns, ob wir bereits genug an Gewalt haben oder nach mehr verlangen. Er zeigt uns sogar eine Alternativversion mit einer Chance für die Familie, die jedoch zurückgespult wird und der restlichen Tragödie weicht. Vielleicht geht es im Grunde nicht darum, den häufigen Wunsch nach realistischer Logik auf der Leinwand zu stillen. Vielmehr sind Michael Hanekes „Funny Games“ als Kritik an dem Maß von Gewalt zu sehen, welches wir Massen- und Unterhaltungsmedien wie dem Film zuführen.

Neben der (Un)glaubwürdigkeit, die die Filme vermitteln, erreicht diese Interaktivität vielleicht die von Michael Haneke gewünschte Selbstreflexion und Erkenntnis bei den Konsument*innen. Zurück bleibt auf jeden Fall eine beklommene Stimmung, das Gesehene muss noch verarbeitet werden. Statt einem genussvollen Zusehen wird über Stunden versucht, auszuhalten, was auf der Leinwand passiert, oder es wird auf die zweite Option zurückgegriffen, das Verlassen des Kinosaals. „Funny Games“ versetzen in einen Zustand des Entsetzens, des Schocks und der Schwermut. Bevor sich also damit beschäftigt wird, sollten schon mal ein paar der stärkeren Nerven zusammengekratzt werden.

Um also noch einmal zurück auf die zu Beginn gestellte Frage zu kommen: Es wäre, genauso wie damals vor 15 bzw. 45 Jahren, sinnvoll, die Sehgewohnheiten der Gesellschaft wieder stärker zu reflektieren und zu entscheiden, was gezeigt werden soll und was eben nicht. Liegt es nicht auch an unseren Vorlieben, an unserer Schaulust, welche Bilder wir schlussendlich zu Gesicht bekommen? Wie soll mit der Darstellung, dem Aufgreifen von Gewalt in Unterhaltungsmedien umgegangen werden? Ob Hanekes Weg hierfür eine konstruktive Lösung ist, muss schließlich jede*r für sich selbst entscheiden.

1 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022. und Diagonale,“Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.
2 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.
3 Vgl. IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022. 

Bibliografie

Erzählungen der Dame, die die Einleitung für die Filme am 10.04.2022 im Schubertkino hielt

Internet

Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.

Diagonale, “Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.

IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022.

Exploitation-Wahn in der Alpen-Idylle

Die Totenschmecker – Filmkritik von Tobit Rohner

Noch unter dem Arbeitstitel Blutrausch wurde nähe Kitzbühel ein österreichischer Film gedreht, der dann 1979 betitelt als Die Totenschmecker den Weg ins Kino fand. Aufgrund des ausbleibenden Erfolgs wurde er allerdings zurückgezogen und erneut veröffentlicht, diesmal beworben als Das Tal der Gesetzlosen. Abermals erfolglos – Doch man bleibt hartnäckig. Der dritte Anlauf Der Irre vom Zombiehof versuchte nun Monsterfans anzulocken, doch scheiterte er ebenfalls. Daran festhaltend, es läge am Titel, verirrte sich der Film, nun Das Mädchen vom Hof genannt, in das ZDF, als handle es sich dabei um ein klassisches Heimatdrama. Wie generisch die Titel gewählt sind, so fällt auch der Inhalt aus. Und nein, weder Unmengen an Kunstblut, Kannibalismus, Westernbanditen oder Untote finden ihren suggerierten Auftritt. Vielmehr erscheint Die Totenschmecker wie ein typisches Produkt seiner Zeit. Man könnte ihn beschreiben als österreichischen Exploitation-Film des 70er Jahre-Slasher-Kinos, der hinter einer unschuldigen Heimatfilm-Fassade lauert. Regie führte Ernst R. von Theumer – selbstverständlich auch unter anderen Namen, nämlich dem Pseudonym Richard Jackson. Man bleibt seinem Werk ja treu. Der genaue Verbleib Theumers ist heute unbekannt.

Die Totenschmecker (R: Richard Jackson, DE 1979)
Filmprogramm der Diagonale

Die Handlung spielt in den Alpen, auf dem Hof eines verwitweten Altbauern und seiner drei Söhne. Der Älteste, der Erbe, lebt als einziger mit Frau und Tochter, der Zweitgeborene arbeitet im Dorf und der Jüngste, mental beeinträchtigt und in der Scheune isoliert, wird wie ein Vieh behandelt. Und eben jener vergreift sich an einer Nomadin (im Film ‚Zigeuner‘ genannt), die den Hof besucht. Die übrigen Mitglieder der Bauernfamilie sind erpicht darauf, den Anschein, ein gutes Leben zu führen, zu wahren. Die logische Schlussfolgerung daraus: Die Leiche vertuschen, anschließend die gesamte nomadische Gruppe auslöschen und jegliche Beweise für deren Existenz vernichten. Das ist der Kern der Geschichte. Und so nebenbei gibt es auch eine jugendliche Liebesbeziehung, ganz nach Romeo und Julia, zwischen der Bauerstochter Anna und dem Nomaden Joschka, der übrigens Violine spielt, als hätte er ziemlich oft und sehr begeistert Spiel mir das Lied vom Tod gesehen. Dann taucht noch die verwitwete Großmutter von Anna auf, welche überall böse Omen vermutet, und zum Schluss vergewaltigt der ‚Irre‘ auch noch Annas Mutter. Im Laufe des Films werden multiple Nebenstränge geöffnet, die durchaus Potential innehalten, allerdings keinen runden Schluss finden, sondern wie abgetrennt verwahrlost werden. ‚Kill Your Darlings‘ im anderen Sinne. Die Darsteller:innen verkörpern ihre Rollen auf trockene Art und Weise, die einen ebenso trockenen Humor entstehen lässt, was zu der ebenfalls trockenen Beiläufigkeit der Morde passt. Dabei sind die Tötungen selbst so seltsam inszeniert, dass man sie entweder nicht mal als Tötung identifiziert oder aber sich über die Sinnhaftigkeit der Darstellung wundert. Es lässt sich also festhalten: Bei Die Totenschmecker handelt es sich um einen regelrechten Trash-Film. Den ambivalenten Unterhaltungswert findet man in der billigen Produktionsweise und der unerklärlichen Inszenierung. Das geschieht mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man diskutieren könnte, ob der Begriff des ‚camp‘ – dem bewussten Widerstand gegen normativer Ästhetik – für diesen Film anwendbar wäre.

Inwiefern bestimmte Haltungen von den Filmschaffenden beabsichtigt sind oder lediglich die Verfremdung des Vertrauten angepeilt wird, sei dahingestellt, aber Die Totenschmecker weist durchaus kritische Tendenzen auf. Verortet man den Film im Slasher-Genre, erkennt man einige Parallelen zum US-amerikanischen The Texas Chain Saw Massacre von 1974. So findet sich nicht nur ein Slasher-Killer vor, sondern gleich eine ganze Familie von Leuten, die bereit sind, das Mordbeil zu schwingen. Im Gegensatz zur texanischen Familie herrscht hier kein Sadismus. Stattdessen eine nüchterne Notwendigkeit die Illusion eines Selbstbildes nach außen zu bewahren. Zumal bietet der Film genügend Interpretationsspielraum, um darüber zu streiten, ob der jüngste Bauerssohn, der einem Monster-Killer am nächsten kommt, böse geboren (wie etwa die Horror-Ikone Michael Myers) oder vielmehr durch die diskriminierende Außenwelt der Familie sozialisiert wurde. Durch die mordende Familie, verkörpert von archetypischen Bauernfiguren, wird zumal eine Dekonstruktion des verschönernden Heimatfilms angezielt. Natürlich werden farbenfrohe Landschaftseinstellungen von den Alpen – typische Merkmale des Heimatfilms – gezeigt, denen aber durch die Gräueltaten eine Bedrohlichkeit hinzugefügt wird. Die Frage nach der Bedeutung von Heimat wird neu gestellt. Der Heimatsbegriffs erhält dadurch eine nicht zu vergessene Bedeutung der Gefahr. Gerade in xenophobischen Kulturkreisen ist die Frage zu stellen: Was bedeutet Heimat für die Fremden, die Außenstehenden und Heimatlosen? Für jene, die auf Heimat verzichten oder dazu gezwungen sind, die Heimat zu verlassen? Betrachtet man die Struktur, wie die mordbereite Bauernfamilie aufgebaut ist, so fallen starke Machthierarchien auf. Dem ältesten Sohn wird aufgrund seiner Erstgeburt das Erbe des Hofes rechtmäßig zugestanden, doch hält der Vater trotz seines hohen Alters an seiner Machtposition fest und möchte seinen Status, die Leitung des Bauernhofes, nicht abtreten. Von den Söhnen wird der Vater als autoritäre Instanz nicht kritisiert, dadurch machen sich natürlich absolute Machthierarchien bemerkbar, die an patriarchale, monarchische Strukturen erinnern. Die Bauern in Die Totenschmecker versuchen die Ermordung der Nomad:innen zu vertuschen, denn immerhin würde die Offenlegung auch die ideologisch-begründete Illusion der Natürlichkeit ihres patriarchalen Machtsystems bedrohen. Aber das ‚Eindringen‘ von außen braucht es nicht mal. Der Vater muss ins Krankenhaus eingeliefert werden, die Macht verbleibt beim Ältesten. Anfangs scheint die Hierarchie klar, doch endet der Konflikt zwischen den ältesten Söhnen darin, dass sie sich nach getaner Arbeit gegenseitig massakrieren. Die Struktur ungleicher Machtverhältnisse bricht ohne Autorität zwangsweise in sich zusammen.

Die Totenschmecker beherbergt Qualitäten in sich, die sich von Konventionen abwenden – im formal ästhetischen und inhaltlichen Sinne. Dadurch hat der Film natürlich Schwierigkeiten seine Zielgruppe zu finden, was sich unschwer in der Vielzahl an Titel erkennen lässt. Kein Wunder, dass er in der Filmgeschichte untergegangen ist. Für alle Interessierte: Abseits von Filmfestivals hat der Filmverleih Mr. Banker Films & Cargo Records die Alpen-Perle wieder ausgegraben und ungekürzt auf DVD ans Tageslicht gebracht.