Entlarvung des Publikums in den Todesspielen

Filmkritik zu den Filmen Funny Games (1977) und dem US-Remake Funny Games (2007)

von Anja Mollnhuber

Was wollen wir im Kino, in Filmen sehen?

Die Diagonale 2022 in Graz geht mit den beiden Filmen Funny Games (1977) und dessen US-Remake Funny Games (2007), beide von Michael Haneke, in die letzte Runde. Sie werden anlässlich von Michael Hanekes 80. Geburtstag im Schubertkino gespielt. Zwei als Psychothriller gekennzeichnete Werke, die zusammen mit einer Spieldauer von über drei Stunden einen halben Nachmittag füllen.1 Sehenswert?

Die kleine Ansprache der Moderatorin, die das anwesende Publikum in die nächsten Stunden einleitet, wird vielleicht jene irritieren, denen der Name Michael Haneke bisher nichts gesagt hat. So manch eine*r könnte auch in Zweifel geraten, ob die Entscheidung zu diesem Kinobesuch eine gute war. Ziel der Rede, so scheint es, ist nicht nur die Vermittlung von Hintergrundinformationen zu den Filmen, sondern auch, die Zuschauer*innen auf das Kommende vorzubereiten bzw. davor zu warnen. Besonders deutlich geht die Moderatorin dabei auf die gespaltenen Reaktionen des Publikums in der Vergangenheit ein. Zu diesen zählten unter anderem Schock und Verstörung, manche erlebten das Filmmaterial laut ihr „wie eine Vergewaltigung“. Michael Hanekes Ziel sei es, so erklärt die Dame noch, der Glorifizierung von Gewalt in den Filmen entgegenzuwirken, indem er diese mit extremer Gewalt in seinen Filmen bekämpft.

Diese Einleitung führt dazu, dass mehrere Personen bereits zu Beginn des Films, aber auch unterdessen den Saal verlassen – eine ungewöhnliche Situation, denn schließlich wurde der Film trotz allem als Psychothriller ausgeschrieben und war dementsprechend an Menschen adressiert, die dieses Genre kennen. Der Rest des Publikums hat wohl trotz vorheriger Warnung beschlossen, abzuwarten und erst einmal zu schauen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der erste Film beginnt mit der Anreise einer Familie zu ihrem Ferienwohnhaus am See in schöner Natur. Im Auto sitzen Mutter Anna, Vater Georg und Sohn Schorschi im Kindesalter sowie ihr Hund. Auf dem Weg fallen ihnen zwei junge Männer auf, die neu in der der Familie vertrauten Nachbarschaft sind. Kaum angekommen, bekommt die Familie bereits Besuch. Einer der jungen Männer, Paul, möchte Eier für die Nachbarin holen und sein Freund, Peter, nur kurz den Golfschläger der Familie testen. Ein Vorwand, der den beiden Zutritt zum Haus verschafft und ihnen gewährt, ihre sadistisch-tödlichen Spiele an der Familie auszulassen. Jegliche Versuche der Gegenwehr und der Flucht scheitern, bis auch das letzte Familienmitglied den Männern zum Opfer fällt. Doch Paul und Peter haben schon Pläne, mit wem sie als Nächstes spielen wollen…

30 Jahre liegen zwischen den gleichnamigen Filmen – eine lange Zeit, doch verändert hat sich nicht so viel. Einstellung für Einstellung wurde identisch nachgestellt, das Setting so ähnlich wie möglich nachrekonstruiert – von der Kleidung bis zur Küchenausstattung. Auch inhaltlich und sprachlich fallen kaum Differenzen auf. Was Funny Games (1977) von Funny Games (2007) hauptsächlich unterscheidet, ist die Besetzung.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler leisten gute Arbeit in beiden Filmen, die schockieren wollen. Gefühle, wie die im Laufe der Filme sich immer mehr ausbreitende Verzweiflung werden meist sehr authentisch vermittelt und auch die Rollen der Sadisten mit ihrer Kälte, die von Zynismus und Häme durchtränkt ist, wurden hervorragend besetzt. Im österreichischen Film von 1977 spielen Susanne Lothar (Anna), Ulrich Mühe (Georg), Arno Frisch (Paul), Frank Giering (Peter) und Stefan Clapczynsk (Schorschi).2 Beim US-Remake sind die Hauptrollen an Naomi Watts (Anna), Tim Roth (George), Michael Pitt (Paul), Brady Corbet (Peter) und Devon Gearhart (Georgie) verteilt.3

Warum gehen wir ins Kino, um uns mit Horrorfilmen und Psychothrillern zu konfrontieren? Was bewegt uns zu diesen Themen, worin liegt der Reiz?

Fernab der Wirklichkeit

Auffallend im Plot sind mehrere Situationen, die unglaubwürdig erscheinen. Dies beginnt bereits damit, als Anna von Peter mit dem Spiel „Kälter-Wärmer“ zu ihrem ermordeten Hund geführt wird. Zwar weiß Anna, dass Paul mit ihrer Familie im Haus auf sie wartet, jedoch unternimmt sie keinen einzigen Versuch, sich gegen Peter zu wehren, obwohl er in einigem Abstand hinter ihr geht. Selbst als die Nachbarn vorbeischauen, drei erwachsene Personen, bekommen diese von ihr keine Anzeichen, dass Anna und ihre Familie in Gefahr sind. Stattdessen spielt die Mutter brav bei Peters Geplänkel mit. Diese Passivität auf Seiten der Familie zieht sich durch die gesamte Handlung und erscheint als fragwürdig. Zwar werden Versuche unternommen, dem Treiben der Jungs ein Ende zu setzen, jedoch nur mit mäßiger Anstrengung. Begründet werden könnte es vielleicht mit dem Schock, von zwei Männern in weißen Handschuhen, über deren Sinnlosigkeit sich zu Beginn niemand wundert, wie aus dem Nichts grundlos gefoltert zu werden. Dabei bestehen die Sadisten auf übertriebene Höflichkeit und verlangen, dass sich alle an die grauenvollen Spielregeln ihrer „Funny Games“ halten. Die Achtung auf diese überspitzten Umgangsformen angesichts der Taten der zwei Männer erscheint grotesk, jedoch passt sie perfekt in das Bild eines Psychopathen ohne Empathie, der ein Faible für Golfbälle hat.

Doch nicht alles entzieht sich dem Gefühl des Realen, der Wirklichkeitsnähe…

Dem Albtraum so nah

Die Handlung spielt an einem Ort der Erholung – ein ruhiges, einladendes Urlaubsziel in der Natur, wo ein entspannter Sommer genossen werden könnte – und an dem es schwerfällt, sich vorzustellen, dass dort etwas Böses lauert. Die Familienmitglieder sind sympathische Charaktere, mit denen sich das Publikum einfach identifizieren kann. Außerdem verzichtet der Film gänzlich auf Special Effects oder unübliche Einsätze von Licht, wodurch der Film greifbar und nicht künstlich wirkt. Auch die düstere Musik wird sehr sparsam eingesetzt und dadurch verbleibt das Geschehen in einer Art „akustischem Realismus“, so als würde das Ganze im wirklichen Leben stattfinden. Hinzu kommt die Wahl der Geschwindigkeit. Quälend langsam zieht sich der Film und zwingt die Familie ebenso wie das Publikum, im sadistischen Terror zu verweilen und sich der immer hoffnungsloser werdenden Lage nicht entziehen zu können.

Das Grauen in Michael Hanekes beiden Werken liegt jedoch insbesondere an dem Verbrechen an der (kindlichen) Unschuld. Nicht nur, dass einer unbescholtenen Familie von unbekannten Männern, die selbst fast noch Jungen sind, grundlos und aus rein teuflischer Freude Abscheuliches zugefügt wird, ist ein Beispiel dessen. Zu den Opfern der eiskalten Täter zählen ein Kind, Schorschi, und ein Tier, der Familienhund, welche beide stark mit dem Begriff der Unschuld verbunden werden. Manifest wird das Kindliche, Unschuldige aber wohl am deutlichsten in der abartigen Perversion der Kinderspiele, den „Funny Games“. Diese Spiele kennen die meisten der Zuschauer*innen noch aus der eigenen Kindheit oder vom eigenen Nachwuchs und sind für viele zu einer schönen Erinnerung geworden. Hier werden die Spiele der Unschuldigen zu einem mörderischen Kampf um das Leben – das eigene sowie das der Liebsten.

Das wahre Erschaudern bei „Funny Games“

Abseits dieser Ambivalenz hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs besitzen beide Filme eine wertvolle Besonderheit, die sie von anderen Filmen ihres Genres stark unterscheidet – sie richten sich direkt an das Publikum. So zwinkert uns einer der Sadisten zu und fragt uns, ob wir bereits genug an Gewalt haben oder nach mehr verlangen. Er zeigt uns sogar eine Alternativversion mit einer Chance für die Familie, die jedoch zurückgespult wird und der restlichen Tragödie weicht. Vielleicht geht es im Grunde nicht darum, den häufigen Wunsch nach realistischer Logik auf der Leinwand zu stillen. Vielmehr sind Michael Hanekes „Funny Games“ als Kritik an dem Maß von Gewalt zu sehen, welches wir Massen- und Unterhaltungsmedien wie dem Film zuführen.

Neben der (Un)glaubwürdigkeit, die die Filme vermitteln, erreicht diese Interaktivität vielleicht die von Michael Haneke gewünschte Selbstreflexion und Erkenntnis bei den Konsument*innen. Zurück bleibt auf jeden Fall eine beklommene Stimmung, das Gesehene muss noch verarbeitet werden. Statt einem genussvollen Zusehen wird über Stunden versucht, auszuhalten, was auf der Leinwand passiert, oder es wird auf die zweite Option zurückgegriffen, das Verlassen des Kinosaals. „Funny Games“ versetzen in einen Zustand des Entsetzens, des Schocks und der Schwermut. Bevor sich also damit beschäftigt wird, sollten schon mal ein paar der stärkeren Nerven zusammengekratzt werden.

Um also noch einmal zurück auf die zu Beginn gestellte Frage zu kommen: Es wäre, genauso wie damals vor 15 bzw. 45 Jahren, sinnvoll, die Sehgewohnheiten der Gesellschaft wieder stärker zu reflektieren und zu entscheiden, was gezeigt werden soll und was eben nicht. Liegt es nicht auch an unseren Vorlieben, an unserer Schaulust, welche Bilder wir schlussendlich zu Gesicht bekommen? Wie soll mit der Darstellung, dem Aufgreifen von Gewalt in Unterhaltungsmedien umgegangen werden? Ob Hanekes Weg hierfür eine konstruktive Lösung ist, muss schließlich jede*r für sich selbst entscheiden.

1 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022. und Diagonale,“Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.
2 Vgl. Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.
3 Vgl. IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022. 

Bibliografie

Erzählungen der Dame, die die Einleitung für die Filme am 10.04.2022 im Schubertkino hielt

Internet

Diagonale, “Funny Games”, Diagonale, O.A, https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11294, 29.04.2022.

Diagonale, “Funny Games U.S.”, Diagonale, O.A., https://www.diagonale.at/filme-a- z/?ftopic=finfo&fid=11295, 29.04.2022.

IMDb, “Funny Games”, IMDb, O.A., https://www.imdb.com/title/tt0808279/, 29.04.2022.

Exploitation-Wahn in der Alpen-Idylle

Die Totenschmecker – Filmkritik von Tobit Rohner

Noch unter dem Arbeitstitel Blutrausch wurde nähe Kitzbühel ein österreichischer Film gedreht, der dann 1979 betitelt als Die Totenschmecker den Weg ins Kino fand. Aufgrund des ausbleibenden Erfolgs wurde er allerdings zurückgezogen und erneut veröffentlicht, diesmal beworben als Das Tal der Gesetzlosen. Abermals erfolglos – Doch man bleibt hartnäckig. Der dritte Anlauf Der Irre vom Zombiehof versuchte nun Monsterfans anzulocken, doch scheiterte er ebenfalls. Daran festhaltend, es läge am Titel, verirrte sich der Film, nun Das Mädchen vom Hof genannt, in das ZDF, als handle es sich dabei um ein klassisches Heimatdrama. Wie generisch die Titel gewählt sind, so fällt auch der Inhalt aus. Und nein, weder Unmengen an Kunstblut, Kannibalismus, Westernbanditen oder Untote finden ihren suggerierten Auftritt. Vielmehr erscheint Die Totenschmecker wie ein typisches Produkt seiner Zeit. Man könnte ihn beschreiben als österreichischen Exploitation-Film des 70er Jahre-Slasher-Kinos, der hinter einer unschuldigen Heimatfilm-Fassade lauert. Regie führte Ernst R. von Theumer – selbstverständlich auch unter anderen Namen, nämlich dem Pseudonym Richard Jackson. Man bleibt seinem Werk ja treu. Der genaue Verbleib Theumers ist heute unbekannt.

Die Totenschmecker (R: Richard Jackson, DE 1979)
Filmprogramm der Diagonale

Die Handlung spielt in den Alpen, auf dem Hof eines verwitweten Altbauern und seiner drei Söhne. Der Älteste, der Erbe, lebt als einziger mit Frau und Tochter, der Zweitgeborene arbeitet im Dorf und der Jüngste, mental beeinträchtigt und in der Scheune isoliert, wird wie ein Vieh behandelt. Und eben jener vergreift sich an einer Nomadin (im Film ‚Zigeuner‘ genannt), die den Hof besucht. Die übrigen Mitglieder der Bauernfamilie sind erpicht darauf, den Anschein, ein gutes Leben zu führen, zu wahren. Die logische Schlussfolgerung daraus: Die Leiche vertuschen, anschließend die gesamte nomadische Gruppe auslöschen und jegliche Beweise für deren Existenz vernichten. Das ist der Kern der Geschichte. Und so nebenbei gibt es auch eine jugendliche Liebesbeziehung, ganz nach Romeo und Julia, zwischen der Bauerstochter Anna und dem Nomaden Joschka, der übrigens Violine spielt, als hätte er ziemlich oft und sehr begeistert Spiel mir das Lied vom Tod gesehen. Dann taucht noch die verwitwete Großmutter von Anna auf, welche überall böse Omen vermutet, und zum Schluss vergewaltigt der ‚Irre‘ auch noch Annas Mutter. Im Laufe des Films werden multiple Nebenstränge geöffnet, die durchaus Potential innehalten, allerdings keinen runden Schluss finden, sondern wie abgetrennt verwahrlost werden. ‚Kill Your Darlings‘ im anderen Sinne. Die Darsteller:innen verkörpern ihre Rollen auf trockene Art und Weise, die einen ebenso trockenen Humor entstehen lässt, was zu der ebenfalls trockenen Beiläufigkeit der Morde passt. Dabei sind die Tötungen selbst so seltsam inszeniert, dass man sie entweder nicht mal als Tötung identifiziert oder aber sich über die Sinnhaftigkeit der Darstellung wundert. Es lässt sich also festhalten: Bei Die Totenschmecker handelt es sich um einen regelrechten Trash-Film. Den ambivalenten Unterhaltungswert findet man in der billigen Produktionsweise und der unerklärlichen Inszenierung. Das geschieht mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man diskutieren könnte, ob der Begriff des ‚camp‘ – dem bewussten Widerstand gegen normativer Ästhetik – für diesen Film anwendbar wäre.

Inwiefern bestimmte Haltungen von den Filmschaffenden beabsichtigt sind oder lediglich die Verfremdung des Vertrauten angepeilt wird, sei dahingestellt, aber Die Totenschmecker weist durchaus kritische Tendenzen auf. Verortet man den Film im Slasher-Genre, erkennt man einige Parallelen zum US-amerikanischen The Texas Chain Saw Massacre von 1974. So findet sich nicht nur ein Slasher-Killer vor, sondern gleich eine ganze Familie von Leuten, die bereit sind, das Mordbeil zu schwingen. Im Gegensatz zur texanischen Familie herrscht hier kein Sadismus. Stattdessen eine nüchterne Notwendigkeit die Illusion eines Selbstbildes nach außen zu bewahren. Zumal bietet der Film genügend Interpretationsspielraum, um darüber zu streiten, ob der jüngste Bauerssohn, der einem Monster-Killer am nächsten kommt, böse geboren (wie etwa die Horror-Ikone Michael Myers) oder vielmehr durch die diskriminierende Außenwelt der Familie sozialisiert wurde. Durch die mordende Familie, verkörpert von archetypischen Bauernfiguren, wird zumal eine Dekonstruktion des verschönernden Heimatfilms angezielt. Natürlich werden farbenfrohe Landschaftseinstellungen von den Alpen – typische Merkmale des Heimatfilms – gezeigt, denen aber durch die Gräueltaten eine Bedrohlichkeit hinzugefügt wird. Die Frage nach der Bedeutung von Heimat wird neu gestellt. Der Heimatsbegriffs erhält dadurch eine nicht zu vergessene Bedeutung der Gefahr. Gerade in xenophobischen Kulturkreisen ist die Frage zu stellen: Was bedeutet Heimat für die Fremden, die Außenstehenden und Heimatlosen? Für jene, die auf Heimat verzichten oder dazu gezwungen sind, die Heimat zu verlassen? Betrachtet man die Struktur, wie die mordbereite Bauernfamilie aufgebaut ist, so fallen starke Machthierarchien auf. Dem ältesten Sohn wird aufgrund seiner Erstgeburt das Erbe des Hofes rechtmäßig zugestanden, doch hält der Vater trotz seines hohen Alters an seiner Machtposition fest und möchte seinen Status, die Leitung des Bauernhofes, nicht abtreten. Von den Söhnen wird der Vater als autoritäre Instanz nicht kritisiert, dadurch machen sich natürlich absolute Machthierarchien bemerkbar, die an patriarchale, monarchische Strukturen erinnern. Die Bauern in Die Totenschmecker versuchen die Ermordung der Nomad:innen zu vertuschen, denn immerhin würde die Offenlegung auch die ideologisch-begründete Illusion der Natürlichkeit ihres patriarchalen Machtsystems bedrohen. Aber das ‚Eindringen‘ von außen braucht es nicht mal. Der Vater muss ins Krankenhaus eingeliefert werden, die Macht verbleibt beim Ältesten. Anfangs scheint die Hierarchie klar, doch endet der Konflikt zwischen den ältesten Söhnen darin, dass sie sich nach getaner Arbeit gegenseitig massakrieren. Die Struktur ungleicher Machtverhältnisse bricht ohne Autorität zwangsweise in sich zusammen.

Die Totenschmecker beherbergt Qualitäten in sich, die sich von Konventionen abwenden – im formal ästhetischen und inhaltlichen Sinne. Dadurch hat der Film natürlich Schwierigkeiten seine Zielgruppe zu finden, was sich unschwer in der Vielzahl an Titel erkennen lässt. Kein Wunder, dass er in der Filmgeschichte untergegangen ist. Für alle Interessierte: Abseits von Filmfestivals hat der Filmverleih Mr. Banker Films & Cargo Records die Alpen-Perle wieder ausgegraben und ungekürzt auf DVD ans Tageslicht gebracht.

DIGITALE ACHTSAMKEIT BOOMT

HEADSPACE – EINE APP DIE DAS SUBJEKT ABGRENZT

‚MEIN LEBEN HAT SICH VÖLLIG VERÄNDERT‘

Das Smartphone von Dr. Allison Rodgers, einer 32-jährigen YouTuberin (mit dem Benutzernamen Dr. Allison Answers) und zugelassenen klinischen Psychologin, zeigt, dass sie 328 Tage hintereinander mit der Headspace-App meditiert hat (Rodgers, 2017, 1:32). „Wenn ich an manchen Tagen konsequenter gewesen wäre, wären es mehr als 400 Tage“ sagt sie (Rodgers, 2017, 1:45). Dr. Allison Answers gibt 50 Euro pro Jahr für ein Headspace-Abonnement aus – „die besten 50 Euro, die ich je ausgegeben habe“, sagt sie – und nutzt die App 10 bis 15 Minuten pro Tag, fast immer vor dem Schlafengehen und für geführte Meditationen (Rodgers, 2017, 0:43). „Mein Leben hat sich völlig verändert. Ich schlafe viel tiefer, ich bin ausgeruhter und mache tagsüber Atemübungen“, beteuert sie (Rodgers, 2017, 6:27). „Meine Perspektive und meine Sicht auf das Leben haben sich geändert, indem ich täglich ein paar Minuten innehalte und versuche in der Gegenwart zu leben“ (Rodgers, 2017, 7:03).  

Die YouTuberin Dr. Allison lud sich zu Beginn der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 die Meditations-Applikation Headspace auf ihr Smartphone herunter um mit der mentalen Erschöpfung umzugehen, die sie aufgrund der ständigen Informationsflut über das Virus empfand (Rodgers, 2017, 2:12). „Wenn man den Fernseher einschaltete, war die Anzahl der Todesfälle erschreckend, Meditation und Achtsamkeit halfen mir dabei, mich mental wieder zu sammeln. Ich nehme an, ich hätte auch ohne die App meditieren können, aber mit Headspace ist es für mich einfacher“, sagt sie. (Rodgers, 2017, 2:26).

HEADSPACE – DIE APPLIKATION

Headspace ist ein englisch-amerikanisches Online-Unternehmen, das im Mai 2010 von Andy Puddicombe und Richard Pierson gegründet wurde und sich auf Meditation spezialisiert hat (Puddicombe, 2016, S. 12). Der Brite Andy Puddicombe ließ sich zehn Jahre lang zu einem buddhistischen Mönch ausbilden und entwickelte die App als Hilfsmittel für die Organisation seines eigenen Meditationszeitplans (Barol, 2014). Heute lebt Puddicombe im Silicon Valley und leitet ein Unternehmen, das im Jahr 2021 einen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro erzielte (Barol, 2014). Headspace operiert dabei hauptsächlich über seine Online-Plattform, die seinen registrierten BenutzerInnen geführte Meditationssitzungen mit dem Ziel der Achtsamkeit anbietet. Diese Sitzungen werden den BenutzerInnen über die Website des Unternehmens und über eine mobile App auf den iOS und Android Betriebssystemen zugänglich gemacht (Barol, 2014). Die Meditationssitzungen, normalerweise im Audioformat, umfassen durchschnittlich circa zehn Minuten. BenutzerInnen können zehn Tage lang auf kostenlose Inhalte zugreifen, danach besteht die Möglichkeit, ein Monats- oder Jahresabonnement abzuschließen oder mit dem kostenlosen – aber dann eingeschränkten – Testmaterial fortzufahren (Puddicombe, 2016, S. 14). Von den insgesamt 30 Millionen NutzerInnen der App zahlen über zwei Millionen AbonnentInnen für die vollständige Version, die Zugriff auf mehrere hundert Meditationen ermöglicht (Headspace, 2022).

Was als Idee in einer kleinen Londoner Wohnung begann ist heute, als eines der erfolgreichsten Meditations-Applikationen, ein weltweites Phänomen. Headspace wird aktuell von Unternehmen wie Google, LinkedIn und Adobe genutzt um seinen / ihren MitarbeiterInnen Ruhe, Erholung, und Regeneration zu verschaffen (Barol, 2014). Mit Gamification-Funktionen, die Meditationen zur Gewohnheit machen und intrinsische Motivation zum Meditieren steigern sollen, hat die App ein Belohnungssystem entwickelt, das ihren NutzerInnen genau das zu geben scheint, wonach sie suchen: Seelenfrieden (Daniels, 2022).

HEADSPACE – FUNKTONSWEISEN

Nachdem NutzerInnen ein Konto auf der App erstellt haben, gelangen sie auf die Startseite, wo sie von ‚Wake Up‘ begrüßt werden, einer kurzen Reihe von Videos, die beispielsweise Konzepte wie Loslassen oder das sich lösen von mentalen Stressfaktoren erklären. An manchen Tagen werden diese kurzen Videos von prominenten Personen angeführt (Daniels, 2022).

Die Menüleiste am unteren Rand der App enthält sechs Kategorien, zwischen denen BenutzerInnen umschalten können: (1) Meditieren, (2) Schlafen, (3) Bewegen, (4) Konzentrieren, (5) Leistungen und (6) Beziehungen. Unter dem Abschnitt Meditieren stehen sowohl Meditationskurse als auch einzelne Programme zur Verfügung. Die Meditationskurse sind dabei verschiedenen Themen zugeordnet wie Trauerbewältigung, Kreativität, Selbstvertrauen und Aufmerksamkeit. Diese Programme unterteilen sich wiederrum in Meditationen, die wiederholt und in bestimmten Rhythmen ausgeführt werden sollen und solche, die für eher situative Momente gedacht sind, zum Beispiel zur Vorbereitung auf eine Präsentation oder zur Überwindung der Angst vor dem Fliegen (Headspace, 2022).

Die Erzählstimme der Meditationen ist dabei anpassbar. In der Regel kann zwischen Puddicombe, dem Mitbegründer der App und einer weiblichen Sprecherin gewählt werden. Auch die Länge der Meditationssitzung ist oft wählbar, zwischen drei und zwanzig Minuten. Die App zeichnet dabei auf, wie lange NutzerInnen meditieren und informiert diese nach jeder Sitzung über deren ‚meditierte Minuten‘. Desweiteren zeichnet Headspace auf wie viele Tage in Folge NutzerInnen meditiert haben und zeigt dementsprechend Push-Up Benachrichtigungen – wie auch Dr. Allison Answers sie bekommen hat – rund um das Thema Achtsamkeit und Durchhaltevermögen an (Headspace, 2022).

DIGITALE ACHTSAMKEIT BOOMT

Millionen von Menschen haben in den letzten Jahren den Beteuerungen der YouTuberin Dr. Allison Answers nachempfunden und Meditationsapplikationen verwendet, die versprechen ihren BenutzerInnen dabei zu helfen fokussierter, produktiver, kreativer und gelassener zu werden (Mayr-Keber, 2020). Digitale und mobile Achtsamkeit boomt und das auf Meditationen spezialisierte Online-Unternehmen Headspace reitet auf dieser Welle.

Mit dem Beginn der Corona-Pandemie ist die Popularität von Meditations- und Achtsamkeitsapplikationen sprunghaft angestiegen. Im Jahr 2020 haben, so die offizielle Google Playstore und Applestore Statistik, über 100 Millionen Menschen Achtsamkeit-Apps auf Ihre Smartphones heruntergeladen. Das allein ist ein Anstieg von 42% gegenüber dem vorherigen Jahr (Daniels, 2022). Die App Headspace liegt dabei mit über 66 Millionen Downloads in 190 Ländern weltweit an zweiter Stelle hinter der App Calm, welche aktuell mehr als 100 Millionen Mal heruntergeladen wurde (Daniels, 2022). Alleine im April 2020 verzeichneten Headspace und Calm zusammen mehr als 10 Millionen Downloads und damit knapp 25% mehr als noch im selben Monat ein Jahr zuvor. Aber was kann als Ursache für diesen enormen Erfolg ausgemacht werden?

BESCHLEUNIGTE VERHÄLTNISSE

Wir befinden uns im Zeitalter der Erschöpfung. Tempowahn, Zeitnot, das anhaltende Starren auf das Smartphone und die damit einhergehende Verpflichtung der allzeitigen Verfügbarkeit bestimmen die gesellschaftliche Debatte um Entschleunigung und der permanenten Suche nach Entspannung (Mayr-Keber, 2020). Zeit ist in unserer Gesellschaft ein hohes Gut. Denn nicht Geld oder Macht, sondern diese „stumme normative Gewalt der Beschleunigung“ bestimmt alles Leben, so der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa (Rosa, 2012, S. 35).                                                                                                                                                                       Müdigkeit und Stress sind mit der Epoche des modernen Kapitalismus zu Modephänomenen einer rund um die Uhr beschäftigten Gesellschaft geworden und mit ihnen chronische Erschöpfungszustände und psychische Krankheiten (Mayr-Keber, 2020). Das Bewusstsein für psychische Gesundheit, Entspannung und Wellness stieg in Korrelation zu dieser kapitalismusinduzierten gesellschaftlichen Beschleunigung – die im 18. Jahrhundert in Europa mit der industriellen Revolution beginnt und bis heute andauert – stetig an. Als Gegenbewegung zum Tempowahn versprechen Angebote wie Yogawochen in den Bergen, Meditationskurse an entfernten Stränden, Wellness- und Massageretreats, Entschlackungskuren oder Schweigeseminare im Kloster ‚absolute Ruhe‘, ‚stille Naturgefühle‘, ‚vollkommene Entspannung‘, Kraft, Leichtigkeit und ‚echte Auszeiten‘ (Mayr-Keber, 2020). All diese Praktiken können dem Konzept der Achtsamkeit untergeordnet werden.

DIE WELT IM ACHTSAMKEITSWAHN

Der Begriff Achtsamkeit hat eine beispiellose Trend-Karriere hinter sich. Seinen Ursprung findet der Achtsamkeitsbegriff in kontemplativen buddhistischen Praktiken, die mehr als 25 Jahrhunderte zurückreichen (Baminiwatta & Solangaarachchi, 2021). Die Adaption buddhistischer Achtsamkeitstechniken in eine säkulare, therapeutische Intervention in den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten – das Programm zur achtsamkeitsbasierten Stressreduzierung (MBSR) – hat in den darauffolgenden Jahrzehnten das Interesse von Forschern aus unzähligen Disziplinen geweckt, diese meditativen Praktiken wissenschaftlich und systematisch zu untersuchen (Baminiwatta & Solangaarchchi, 2021). Seitdem hat sich eine Vielzahl von Forschungsergebnissen angesammelt, die vorrangig die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit auf verschiedene psychische und physische Gesundheitsmerkmale belegen (Creswell, 2017) (Khoury et al., 2013).

Heute erfreut sich das Konzept der Achtsamkeit in der westlichen Hemisphäre stetig ansteigender Beliebtheit. Wer das Wort ‚Mindfulness‘ googelt, erhält 215 Millionen Treffer. Achtsamkeit hat es auf die Titelseite der weltweit größten Magazine geschafft, Zeitschriften widmen sich dem Thema sowie zahlreiche Mindful-Applikationen, Buchreihen, Kurse und Seminare (Brown & Ryan, 2003, S87).

Achtsamkeit beschreibt einen Idealzustand, bei dem der Geist voll und ganz dem gegenwärtigen Geschehen – dem was man im aktuellen Moment tut, denkt und fühlt und dem Raum, durch den man sich bewegt, achtsam gewidmet ist (Brown & Ryan, 2003, S. 84). Achtsamkeit beschreibt dahingehend die grundlegende menschliche Fähigkeit kognitiv präsent zu sein. Das Subjekt soll sich bewusst machen wo es sich gerade befindet und was es tut ohne dabei übermäßig abgelenkt zu werden von Gedankenströmen, Erinnerungen, Phantasien, starken Emotionen oder äußeren Reizen aus der Umwelt. All dies vollbringen ‚achtsame Subjekte‘ ohne dabei die eigene aufmerksame Wahrnehmung zu bewerten (Brown & Ryan, 2003, S. 84f). Achtsamkeit kann in Folge dessen als Form einer Aufmerksamkeitsebene im Zusammenhang mit einem besonderen Bewusstseins- und Wahrnehmungszustand verstanden werden (Brown & Ryan, 2003, S 85).

Achtsame Praktiken werden oftmals mit dem Ziel dahingehend ausgeführt spezielle Persönlichkeitseigenschaften auszubauen oder abzutrainieren und darauffolgend menschliches, individuelles Leid – sowohl psychisches wie physisches – zu minimieren, während zeitgleich subjektive Glücksgefühle maximiert werden sollen. Dabei wird Achtsamkeit als eine Eigenschaft beschrieben, die jeder Mensch bereits besitzt, die jedoch intrinsisch, aus Eigenmotivation heraus und durch Arbeit an dem Selbst trainierbar ist und ausgebaut bzw. verbessert werden kann (Brown & Ryan, 2003, S. 85f).

Auffällig ist hierbei, dass das meditierende, achtsame Subjekt in einem Kontext dargestellt wird, der intendiert, dass das Subjekt sich vor einer äußeren Flut an Umweltreizen schützen muss, indem es an sich selbst arbeitet (Purser, 2019). Selbsthilfe, Selbstdisziplinierung und die Arbeit an dem Individuum dienen dem Achtsamkeitskonzept dafür, Harmonie zwischen Subjekt und Außenwelt herzustellen, da die Außenwelt als unveränderbare Totalität wahrgenommen wird, welcher es sich ‚resilient‘ und achtsam anzupassen gilt (Purser, 2019).

ACHTSAMKEIT VERSPRICHT ENTSCHLEUNIGUNG

Meditative Praktiken werden heute im Labor erforscht und als Mittel zur kognitiven Schulung oder als Alternative zu psychologischen Therapieformen ernst genommen. Das Konzept ‚Achtsamkeit‘ passt zum Zeitgeist. Immer mehr große Unternehmen setzen in einer Welt mit Zwang zum Multitasking auf Stress-Bewältigung und ‚geistige Resilienz‘ (Mayr-Keber, 2020). Soziale und kulturelle Achtsamkeitspraktiken versprechen Abhilfe, um ‚erschöpfte Individuen‘ wiederstands- und anpassungsfähig zu machen, damit diese in den beschleunigten Verhältnissen der Gegenwart funktionieren können. Die Prämisse besteht darin, resiliente Individuen auszubilden, welche in den unübersehbaren, krisenhaften und beschleunigten Verhältnissen des Gegenwartskapitalismus individuelles Glück empfinden und zeitgleich ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Funktionen erfüllen (Lisa Ruhwinkel, 2014).

Bezeichnet man nun Achtsamkeit in weiten Kreisen als ein Mittel zum Innehalten, zum Entschleunigen und durchatmen, so stellt sich die Frage, warum ausgerechnet im Jahr 2020 als der Ausbruch der Corona-Pandemie die globale Wirtschaft und zahlreiche Nationen zum beinahen sozialen Stillstand gezwungen hat, Meditationsapplikationen wie Headspace exponentiell mehr Kunden gewannen und damit exponentiell ihren Gewinn vervielfachten (Schwab, 2020). Während sich die soziale und wirtschaftliche Welt immens durch die Pandemie entschleunigte, beschleunigte offenbar genau dieser Zustand den kulturellen Megatrend Achtsamkeit.

ACHTSAMKEITSBOOM IN DER CORONA-PANDEMIE

Mit dem Start der globalen Coronakrise habe sich – so Matthias Horx, deutscher Publizist und Trendforscher – der Fokus von Menschen verändert: Von körperlicher Gesundheit und Fitness ausgehend, hin zur körperlichen und mentalen Gesundheit. Es gehe nicht mehr nur darum physisch gesund zu bleiben, sondern noch einmal verstärkt auch darum den Kopf frei zu bekommen (Horx, 2020, S. 39). Eine gesunde Ernährung mit hochwertigen Nahrungsmitteln gehöre dabei ebenso dazu wie Yoga und Meditation. Ebenfalls wurden seit 2020 auch Outdooraktivitäten wie Wandern, Joggen und Stand-Up-Paddeln vermehrt dem Achtsamkeitstrend zugeordnet (Horx, 2020, S. 40).

Seit dem ersten nationenübergreifenden Lockdown im Frühjahr 2020 hat sich das Leben von Millionen Menschen immer mehr in die eigenen vier Wände verlagert. Arbeiten, Schule, Essen, Trainieren, Freizeitprogramm – all dies musste während der Lockdowns Zuhause stattfinden (Angermeier, 2021). Eine Tatsache, die vor allem den ‚Mindfulness‘ Online Angeboten in die Hände spielte. Denn der coronabedingte Ausnahmezustand – der vorübergehende soziale Stillstand, die ökonomische Stagnation, die Überlastung des Gesundheitsystems und die Sorge um die eigene Gesundheit und die der Mitmenschen – gingen bei einem großen Teil der Bevölkerung mit Gefühlen wie Kontrollverlust, Angst, Schuld und Trauer einher. Der Fokus vieler Menschen wanderte damit nach innen – zu der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt. Die Folge: App-Downloads im Bereich der geistigen Gesundheit stiegen in der Corona-Krise sprunghaft an und verzeichnen bis ins Jahr 2022 überdurchschnittlich steigende Nutzerzahlen (Angermeier, 2021). Headspace ist dabei einer der Vorreiter der Brache und bietet seit Beginn der Pandemie spezielle Meditationssitzungen an, die die resiliente Bewältigung von Ängsten und Sorgen versprechen, welche konkret mit der Covid19-Krise einhergehen (Headspace, 2022).

RESILIENZ IN KRISENSITUATION

In dem Buch der Soziologin Stefane Graefes ‚Resilienz im Krisenkapitalismus – Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit‘, veröffentlicht im Jahr 2019, geht Graefe auf das hier angesprochene Konzept der Resilienz ein, das als eine psychische Fähigkeit beschrieben wird, die es dem Subjekt ermöglichen soll auf unangenehme Situationen, Herausforderungen und Stress – kurz auf Krisen – souverän zu reagieren, ohne dabei anhaltend Schaden daran zu nehmen (Graefe, 2019).

Dabei begreift Graefe Resilienz als eine Subjektform im Kontext von Gouvernementalität im Neoliberalismus nach Foucault (Lemke, 2014, S. 260f) und geht der Frage nach auf welche gesellschaftlichen Herausforderungen Resilienz die für sie falsche Antwort ist (Graefe, 2019, S. 67f). Sie zeigt dabei auf, dass die verbreitete Forderung nach mehr Resilienz eine Methode der Subjektivierung objektiver, gesellschaftlicher und kollektiver Krisenphänomene darstellt und damit langfristig keine Probleme löst, die sich durch den stets krisenhaften Kapitalismus aufdrängen (Graefe, 2019, S. 15f). Im Gegenteil sogar, die Forderung nach Resilienz ersticke gesellschaftliche Kritik im Keim. ‚Krankmachende‘ gesellschaftliche Verhältnisse sollen resiliente Subjekte als per se akzeptieren und damit kollektive Krisen durch Arbeit an sich selbst, am Subjekt abmildern und aufheben (Graefe, 2019, S. 85). Graefe erhebt daraufhin gegen die allgegenwärtige Forderung nach Resilienz Einspruch, da diese das Subjekt in Ohnmacht halte und formuliert das Argument, dass gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse destruiert werden sollen und damit menschengemachte Verhältnisse kritisch hinterfragt werden können – auch auf der Ebene der Formung von Subjektivität.

Begreift man nun, nach Graefes Argumentation, Achtsamkeitstraining und Meditation im Kontext von Gouvernementalität so eröffnet sich die Kritik, dass Praktiken der Achtsamkeit in Zeiten gesellschaftlicher Krisen für das Individuum emotionale Entlastung bereiten können, jedoch darüber hinaus keine gesellschaftlichen und kollektiven Veränderungen in die Wege leiten. Meditieren Menschen in dem sie im Schneidersitz die Augen schließen und ihren Atem folgen, so lenken sie ihre Aufmerksamkeit nach innen und damit weg von den Auslösern und Ursachen jeglicher kollektiven, sozialen oder ökonomischen Krise, die sich immer in der Außenwelt und auf sozialer Ebene vollziehen werden.

ACHTSAMKEIT ALS TECHNOLOGIE DES SELBST

Graefe geht in ihrer Argumentation von dem Foucaultschen Begriff der Gouvernementalität aus, der die wechselseitige Konstituierung von Subjektivierungsprozessen, Machtformen und Wissenspraktiken thematisiert (Iftode, 2021). Ab Mitte der 1990er Jahre befassen sich viele Studien mit den von Foucault ausgearbeiteten Merkmalen staatlicher und institutioneller Regierungspraxen. Zunächst stand hier die Fremdführung von Individuen und die damit verbundenen Regierungsstrategien im Fokus des Forschungsinteresses (Iftode, 2021). Doch wächst ausgehend von Foucaults Überlegungen zum Thema Selbstführung seit einiger Zeit das Interesse an den Subjektpraktiken bzw.  den ‚Technologien des Selbst‘. Dabei wird die Arbeit der Individuen an sich selbst auch als Teil neu auftauchender Macht- und Regierungsrationalitäten begriffen, bei denen vormals externe, institutionalisierte Praktiken der Disziplinierung, nun in das Individuum hinein verlagert werden (Iftode, 2021).

Überträgt man diesen Gedankengang nun auf eine Meditationsapplikation wie Headspace so kann argumentiert werden, dass durch die mediale Forderung einer Selbstdisziplinierung institutionalisierte Machtstrukturen auf BenutzerInnen der App einwirken. Applikationen wie Headspace wirken dann als ein als Selbsthilfe getarntes Instrument der Selbstdisziplinierung. Das Streben nach selbsterarbeiteter Resilienz befreit die Achtsamkeits-Praktizierenden nicht von äußerlichen und von oben herab aufgelegten Machtstrukturen, sondern hilft ihnen lediglich sich an diese Bedingungen anzupassen, die ihre Probleme verursacht haben und können damit diese Strukturen aus der Subjektebene heraus hinein in die Metaebene des Kollektivs verstärken.

DIE ANEIGNUNG UND ABGRENZUNG DES SUBJEKTS

Die Aufgabe des Kapitalismus besteht heute nicht mehr darin, sich Werte von außen anzueignen – denn er hat sich alles, was ihm fremd ist, erfolgreich einverleibt – sondern darin, „ohne ein Außen zu funktionieren, das er kolonisieren und sich aneignen kann“ (Fisher, 2009, S. 8). Die Lösung liege dabei nach Michel Foucault in der Herausbildung einer neuen Form der Macht, der sogenannten Biomacht, die die Kontrolle über „die Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen Körper ausübt und die Qualität der Bevölkerung als effiziente wirtschaftliche Ressource steigert“ (Bennett et al., 2010, S. 186). Biomacht übernimmt dabei die Kontrolle über die Lernprozesse, reguliert und verwaltet sie im Bereich von Wert und Nutzen (Foucault et al., 2010, SS. 262, 266).

Achtsamkeit sei im Hinblick auf Biomacht, so Matthias Horx, weitaus mehr als nur ein zur Ruhe kommen, stillsitzen oder entschleunigen. In der Achtsamkeitsbewegung existiere ein aktives und ein reflexives Moment: Ein Bedürfnis, sich selbst im Verhältnis zur Welt zu betrachten und zu bewegen, wobei das Element der Bewegung jedoch nur eine Täuschung darstelle, da Achtsamkeit nur auf die Sichtweise des Subjekts und damit auf individuelles Reagieren anstelle von kollektivem Agieren eingeht (Horx, 2020).  

Die daraus resultierende Aneignung und Abgrenzung des Subjekts von kollektiven sozialen, ökonomischen und politischen Machtformen wird in der Funktionsweise der App Headspace noch einmal verstärkt. Smartphones als ‚Erweiterung des Körpers‘ nach McLuhan sind äußerst persönliche Technologien, die nicht nur als technische Geräte interessant sind, sondern auch als Kristallisationsobjekte für neue kulturelle Praktiken und als sozio-technische Artefakte die kulturellen Wandel repräsentieren (McLuhan, 1977, S. 72). In diesem Zusammenhang wird häufig von der sogenannten Domestizierung und Individualisierung von technischen Geräten gesprochen, diese werden zu einem festen Bestandteil des Lebensstils, der nicht nur aus Medienkonsum besteht, sondern auch eine Werthaltung und eine analoge Persönlichkeit von Subjekten repräsentiert. Der Ansatz der Domestizierung beschreibt einen Prozess, durch den das Smartphone zu einem Element des Lebensstils und der eigenen Persönlichkeitsfindung wird (Burkart, 2007, S. 136f).

Summiert man nun die Parameter, die in die Benutzung von Headspace in der Zeit der Coronakrise mit hineinspielen wird deutlich, dass Achtsamkeitstraining und Meditation – so gesund sie auch für das Individuum sein mögen – Subjekte voneinander räumlich und gedanklich trennen und somit die Verantwortung kollektiver Krisen auf das Subjekt abladen während gleichzeitig dieses Abladen von Verantwortung jedoch als intrinsisch motivierte Selbsthilfe vermarktet wird.

FAZIT

Ähnlich wie die YouTuberin Dr. Allison Answers benutzen derzeit über 100 Millionen Menschen Achtsamkeits- und Meditationsapplikationen auf ihrem Smartphone und versprechen sich damit einen entspannteren, glücklicheren und sorgefreieren Alltag sowie einen gesünderen Umgang mit Stress- und Krisensituationen. Ein Beispiel dafür: Die Meditationsapp Headspace, die 2010 von dem gleichnamigen Online-Unternehmen auf den Markt gebracht wurde und seitdem einen Guide für Gesundheit und Glück verspricht indem sie Meditationen zu verschiedenen Themen wie Stressabbau, Angstzuständen, Atmung, Ruhe und Konzentration anbietet. Der Jahresumsatz von Headspace wurde im Jahr 2021 auf ca. 60 Millionen US-Dollar geschätzt, zu gute kam dem Online-Unternehmen dabei die weltweite Corona-Krise, die seit dem Frühjahr 2020 die globale Welt in einen Ausnahmezustand versetzte und die BürgerInnen der Nationen in Ihre eigene vier Wände zwang; wo ihnen nicht viel anderes übrigblieb, als sich mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen.

Die Corona-Pandemie verstärkte damit den ohnehin schon florierende Achtsamkeitsbewegung, veränderte diese aber dahingehend, dass sie sie noch einmal mehr in die digitale Ebene verschob. Meditationen auf Headspace versprechen dabei ihren BenutzerInnen sie zu resilienten Subjekten auszubilden, die mit Krisensituationen wie der Corona-Pandemie selbstständig und souverän umzugehen vermögen, ohne dabei bleibende psychische oder physische Schäden zu nehmen. Was für Millionen von Menschen nach einem Erfolgsrezept klingt, erntet jedoch von anderen Seiten, wie von der Soziologin Stefanie Graefe, auch durchaus Kritik. Diese argumentiert, dass die Forderung nach Resilienz eine Methode der Subjektivierung kollektiver Krisenphänomene darstellt und damit langfristig keine Probleme löst, die sich durch kollektive Krisen aufdrängen (Graefe, 2019).

Aufgrund dessen, dass Achtsamkeit ein subjektbezogenes Konzept darstellt und sich mit der kognitiven und emotionalen Reaktion von Individuen auf kollektive Krisen beschäftigt, wird die Aktion – das Agieren nach außen hin – vernachlässigt und damit jegliche konstruktive Kritik am Gesellschaftssystem sowie jegliche Möglichkeit struktureller Veränderung erstickt. Angewendet auf das Fallbeispiel der Meditationsapp Headspace wird Graefes These noch einmal verstärkt durch die mediale Ebene des App-Gebrauchs über das Smartphone, welches als domestizierte und individualisierte Technologie die Abgrenzung des konsumierenden Subjekts noch einmal – in Relation mit der Funktionswiese der App, deren Affordanzen und Gamification-Funktionen – intensiviert.

Literaturverzeichnis

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Als Frau im Handwerk

„Rauchfangkehrerin? Why not?“ (Sophie Szönyi)

Von Julia Bauereiß

Die junge Filmemacherin Emma Braun (geb. 1999) präsentierte im Zuge des Diagonale Filmfestivals 2022 zum ersten Mal ihren selbst produzierten Kurzdokumentarfilm „Einblick“. In zwanzig Minuten portraitiert der 16mm Analogfilm die junge Sophie Szönyi in ihrem Beruf als Rauchfangkehrerin. Dabei werden die Zuschauenden mit an ungewöhnliche Orte getragen und können so die Stadt Wien aus einer völlig neuen Perspektive erleben. Ein ruhiges Schwarz-Weiß-Bild und das sanfte Voiceover von Sophies Stimme lassen das Berufsportrait zu einer ästhetisch-eindrucksvollen Reise werden, die zunächst harmonisch und idyllisch wirkt, doch nach einem ungeahnten Perspektivwechsel an Tiefgang gewinnt.

Dokumentarfilm kurz, AT 2022, analog – 16mm, 20 min, OmeU
Sammelprogramm: Kurzdokumentarfilm Programm

Das Portrait beginnt bei Nacht, wenn die Stadt noch schläft. Sophie muss als Rauchfangkehrerin schon zu einer ungewöhnlich frühen Uhrzeit aufstehen. Gerade wenn die Sonne aufgeht und die Natur erwacht, steht sie schon völlig allein bei der Station Schottentor, die untertags normalerweise von tausenden Menschen passiert wird. Mit der Bim macht sie sich auf den Weg zur Arbeitsstelle, wo sie ihre Dienstkleidung anlegt, um im nächsten Moment über den Dächern von Wien der Stadt beim Aufwachen zuzusehen. Mit intimen schwarz-weißen Panorama- und Detailaufnahmen begleitet der Film so die Arbeit der jungen Rauchfangkehrerin Sophie. Es sind einfache Aufnahmen, wie Sophie eine Leiter erklimmt, eine Luke öffnet oder ihr Werkzeug einsetzt. Doch gerade in Verbindung mit der weitreichenden Kulisse wirken diese besonders eindrucksvoll. Durch die gekonnte Platzierung der Kamera, hervorragend gewählte Einstellungsgrößen und Sophies routinierte, fast meditative Arbeitsweise werden Harmonie und Ruhe erzeugt, sodass der Film beinahe romantisch wirken könnte. Damit die Prozesse nicht zu verträumt erscheinen, entschied sich die Macherin Braun gezielt für einen Schwarz-Weiß-Film. Dieser verleiht den Aufnahmen eine gewisse Zeitlosigkeit und wirkt auch passend für den Beruf der Kaminkehrerin. 

Wieso eigentlich ein Portrait über eine Rauchfangkehrerin und wie kam die junge Protagonistin zu dieser Arbeit? Gerade handwerkliche Tätigkeiten werden überwiegend von Männern dominiert, so auch die des*der Rauchfangkehrer*in[1], welche zusätzlich noch sehr selten ausgeübt wird. Diese Frage kam auch im Anschlussdiskurs bei der Diagonale mit der Filmemacherin und der Protagonistin auf. Braun lernte Szönyi zufällig kennen und empfand dieses alte Handwerk auch als sehr ungewöhnlich. Szönyi selbst wollte nach der Matura weg von der schulischen Theorie und hin zur Praxis, so hörte sie sich um und fand eben jenen Beruf. Nach reiflicher Überlegung, dachte sie sich schließlich „Rauchfangkehrerin? Why Not?“, wie sie selbst in der Anschlussdiskussion des Films erklärte. Welche Herausforderungen, Erfahrungen und Eindrücke sie gerade als Frau in diesem Beruf erleben würde, wusste sie wohl zuerst auch nicht. Eben diese erzählt sie jetzt sehr nachfühlbar und authentisch im Voiceover von Brauns Film.

Neben der faszinierenden Bildästhetik wird die Handlung des Films erst mit Sophies Erzählungen deutlich. Sie beschreibt mit ihrer ruhigen und sanften Stimme nicht nur ihre Arbeit, sondern offenbart auch viele Eindrücke und Gedanken, die sie oft dabei beschäftigen. Dies eröffnet schließlich die neue Perspektive des Films. Sophie schildert auf ehrliche und authentische Weise ihre häufig negativen Gefühle und Erlebnisse, die ihr als Frau in diesem Beruf untergekommen sind. So verhalten sich manche Personen beim Erscheinen einer unüblicherweise jungen Rauchfangkehrerin aufdringlich oder anzüglich. Auch zu viel Körperkontakt in den Wohnungen der fremden Personen, lösen bei Sophie Unbehagen aus. Auf Grund des Mythos, Rauchfangkehrer*innen seinen Glücksbringer, wollen Menschen häufig die Knöpfe von Sophies Jacke berühren, damit das Glück auf sie überspringt. Allerdings möchte sie das nicht, doch weiß sie häufig nicht wie sie reagieren soll. Oft stellt Sophie auch fest, dass gerade Männer ihr häufig Hilfe beim Tragen schwerer Dinge oder bei der Ausführung ihrer Arbeit anbieten. Diese möglicherweise freundlich gemeinte Akt, lässt Sophie jedoch ihre Kompetenzen hinterfragen. So fühlt sie sich schnell nicht ernst genommen, nicht vertrauenswürdig oder gar überflüssig. Durch die wiederkehrenden Hilfsangebote der ungelernten Personen, wird Sophie als kompetente und gelernte Fachkraft dieses Handwerks automatisch herabgewürdigt. Gerade seit Sophie allein arbeitet, bemerkt sie häufiger dieses Gefühl von Unbehagen. Sie bricht hier eindeutig die Norm des stereotypischen männlichen Handwerkers. Der Film zeigt sehr gut, dass Weiblichkeit wohl nach wie vor mit Schwäche assoziiert wird. Dies wird deutlich, da sich einige Personen gegenüber Sophie merklich anders verhalten, als sie es gegenüber einem männlichen Kollegen tun würden, wie die Zuschauenden aus ihren ergreifenden Erzählungen erfahren. 

Wer hier nur ein stumpfes Berufsportrait mit ästhetischen Bildern erwartet hat, wird in diesem 20-minütigen Kurzdokumentarfilm allemal überrascht. Erstaunlich tief, emotional und authentisch schafft es der Film die Problematik „Frauen in Männerberufen/ Frauen im Handwerk“ zu beleuchten und die Zuschauenden zu berühren. 


[1] Im Zuge dessen, eine kleine Nebensächlichkeit: Word scheint ebenfalls nur die männliche Schreibweise dieser Berufsbezeichnung zu kennen