Richtung Zukunft durch die Nacht: eine Ode an den 60-Minuten-Film

Fabia Nova Wirtz

Passend zur Zeitumstellung, die in der gleichen Nacht stattfand, präsentierte die Diagonale im Rahmen ihrer „Finale“-Retrospektive einen Film, der mit dem Fluss der Zeit auf mehr als eine Art und Weise spielt und dabei sowohl wunderbar entrückend als auch profund nachvollziehbar ist.

Richtung Zukunft durch die Nacht

Schon von der Anfangssequenz an positioniert sich Richtung Zukunft durch die Nacht radikal zur Idee der Linearität, indem stilistische Disruptionen von Raum und Zeit mit deterministischen Konzeptionen von Leben, Zwischenmenschlichkeit und Schicksal gegenübergestellt und kombiniert werden. Dissonanz und (A-)Synchronität sind somit schon von Anfang an die Hauptmotive des Films und erstrecken sich über alle filmischen Ebenen.
Trauer und Freude, Komödie und Tragödie, Sinn und Nonsense, Vorwärts, Rückwärts, Harmonie und Zwist werden nicht bloß gegenübergestellt, sondern als symbiotisch gezeichnet.

Dies zieht sich durch den Rest des Filmes, der vor allem in seinem Einsatz von Schnitt und seinen Einzelszenen der genretechnischen Entrückung immer experimenteller wird, dennoch aber eine Geschichte von gefundener und wieder verlorener Liebe erzählt, die im Kern von ihrer Alltäglichkeit lebt. Surrealismus wird hier immer wieder ein-, und anschließend wieder von ihm weggeführt, manche Aspekte, die zu Beginn wie kontextlose Schnittricks zur Evozierung einer traumhaften Atmosphäre erscheinen, werden im Verlaufe des Filmes
emotional und narrativ eingerückt, andere werden stehen gelassen und bleiben bloße Versatzstücke und Pointen. Sie sind Teile eines Ganzen, welches jedoch durch bewusste Desorientierung und deplatziert wirkende Sequenzen nie ganz greifbar wird. Stattdessen machen sie die Rezeption des Werkes durch Reaktionen, die von Viszeralität, Emotionalität und Ambivalenz durchzogen sind, so persönlich wie nur möglich. Alltagsszenen des Kennenlernens wechseln sich mit Genreparodien und symbolisch-traumhaften Sequenzen ab.
Identifikation wird möglich gemacht, anstatt direkte Erlebnisse zu vergleichen und das Publikum wird so eingeladen, die Entrückung nachzuvollziehen, die in Momenten des Kennenlernens und des Abschieds entstehen kann und wird gleichzeitig auf die zweite Hälfte des Films vorbereitet, die in ihren Schnittentscheidungen besonders experimentell ist. Hier wird die subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum instabil, ohne jedoch jemals arbiträr zu werden. Stattdessen nutzt Richtung Zukunft durch die Nacht Entrückung, um einen unterbewussten Horror der Misskommunikation und des Verlusts nachzufühlen, und dennoch Trost in diesen zu finden – Erlebtes und Nostalgie werden zu Traum und Trauma zugleich. Musikalische Motive wiederholen sich und werden fallen gelassen und an manchen Stellen spielt die Musik durch ironische Cover von älteren Klassikern mit ihrer eigenen Historizität. Auch hier bleibt die Zeit stehen – oder eben nicht. Szenen doppeln sich, ob implizit oder explizit und Charaktere begegnen sich wieder und verpassen sich, in einem Rückwärtsgang, der genau so vorwärts gelesen werden kann und dem Titel entsprechend Richtung Zukunft durch die Nacht läuft. Ähnlich wie in der Anfangssequenz bleibt Stringenz und Konsequenz auch in Momenten der gefühlten Diskontinuität möglich, wenn nicht sogar unausweichbar.

Dies wird auch durch das Format des Filmes möglich gemacht, denn Richtung Zukunft durch die Nacht ist mit einer Stunde Laufzeit verhältnismäßig kurz. So muss der Film keine narrativen Pausen machen und kann in jeder Sequenz seine eigene Absurdität, seine maximalistischen Schnitt-, Licht-, und Musikentscheidungen und emotionale Tragweite in einer Ballung hinweg exerzieren, die über gewohnte Spielfilmgrenzen hinweg geht, ohne jedoch überfordernd und unnachvollziehbar zu werden. Die kurze Spielzeit erlaubt es, sich als Zuschauer*in komplett im Geschehen und Exzess zu versenken und mit dem schnellen Pacing mitzugehen, ohne sich in Reizüberflutung, Sinneskrise, Langeweile oder komplett persönlicher Retrospektive zu verlieren. Diese Prozesse können stattfinden, laufen während des Films nebenbei, treten aktiv wahrscheinlich jedoch erst nach Ende des Filmes ein, vor allem, da dieses in seiner Bezugnahme zum Anfang einen Denkansatz bietet, an dem sich das
Publikum entlangarbeiten kann, jedoch nicht muss. Dazu schneidet der Film zu viele Themen an, lässt sie zu sehr offen oder beantwortet sie an anderen Stellen dennoch explizit.

So ist Richtung Zukunft durch die Nacht nicht nur in seiner intradiegetischen Nutzung von Zeit, als Katalysator und Entfremdungsinstanz zugleich, transgressiv, auch Filmische Mittel der Raumgestaltung, Montage und Musik zielen auf eine ambivalente Zeitwahrnehmung abdies alles zugunsten eines Films, der sich seiner eigenen Laufdauer bewusst ist und geschickt damit arbeitet, indem dezidiert gegen die Pacingkonventionen des Spielfilms erzählt wird, Charakterentwicklungen asynchron ablaufen und Akte übersprungen werden können. Zeitliche Entrückung und Dissonanz werden hier zu den Hauptmotiven, um keine Zeit für rationale Erkläransätze des Geschehens zu lassen. Stattdessen lässt man sich vom Film, der erzählten Liebesgeschichte nicht unähnlich, intensivst emotional mitreißen, nur um dann wieder auseinander gehen zu müssen. Vielleicht etwas unerwartet und zu abrupt, dafür aber im Guten.

Zwei Filme, Eine Jugend: Spätadoleszenz und Coming of Age auf der Diagonale 23. Eine vergleichende Kritik zwischen Wer wir einmal sein wollten und Breaking the Ice

Tobit Levi Rohner

Auf der diesjährigen Diagonale liefen zwei Filme im Programm, die sich einer ähnlichen Grundprämisse bedienen: Eine junge Frau, irgendwo in ihren frühen Zwanzigern zu verorten, geht zwei verschiedenen Tätigkeiten nach, die ihre Lebenszeit beanspruchen und definieren. An der Schwelle des Erwachsenwerdens nehmen ihre Träume und Ziele, die hilfsbedürftige Familie, die ihre Aufmerksamkeit beansprucht, und eine generelle Orientierungslosigkeit wichtige wie erniedrigende Rollen ein. Die typischen Motive der Spätadoleszenz und der Coming of Age-Trope werden also in beiderlei Filmen verarbeitet. Selbst so manche Nebenfiguren haben in ihren Konzepten identische Charakterisierungen.

Wer wir einmal sein wollten
Breaking the Ice

Während Wer wir einmal sein wollten seine Protagonistin Anna als Aushilfe in einer Schauspielschule arbeiten und die Matura nachholen lässt, widmet sich Mira in Breaking the Ice ihrer Eishockeykarriere, ohne das Familienunternehmen der Weinherstellung zu vernachlässigen. Beide Leben sind geprägt vom Wunsch nach vollständiger Autonomie und den zurückhaltenden Regulierungen der familiären Bindung. Beide Filme verfolgen auf einer ästhetischen Ebene einen Inszenierungsstil des trockenen Realismus. Aber wo der eine Film visuell und inhaltlich Langeweile evoziert, baut der andere sein Leitmotiv erfolgreich aus.

Film besitzt die Möglichkeit, Lebensrealitäten nahezubringen, die ansonsten gemeinhin untergehen. Anna aus Wer wir einmal sein wollten befindet sich stets im Umfeld der Schauspielerei – dadurch wird klar, wie nah und zugleich fern sie dem Traum ihrer Kindheit ist und in dieser Distanz verharrt. Sicherlich mag das vielen nachvollziehbar erscheinen. Allerdings wurde die Wunschvorstellung, die nicht erfüllt werden kann, auch in der zeitnahen Filmgeschichte ausgearbeitet. Wer wir einmal sein wollten verpasst es, etwas neues oder interessantes zu zeigen, etwas, das die dröge Erzählweise legitimiert. Breaking the Ice hingegen wählt einen anderen Ansatz. Dieser Film beginnt mit einer Einstellung, die ein Eishockeystadion zeigt, wobei die Wandfassade zusammen mit der spiegelnden Eisfläche eine zugespitzte, ovale Form ergibt. Eine Form, die an ein Auge erinnert. Und sogleich wird ein Puck Richtung Kamera geschossen, als handle es sich um einen direkten Angriff auf die Netzhaut. Auch wenn Breaking the Ice sicherlich nicht allzu radikal ist, so formuliert der Film seine eigene Aufgabe, eine Lebensrealität zu zeigen, die medial untergeht. Hier spielen Frauen auf dem Eis – in einem spärlich besuchten Stadion. Bezahlt werden sie im Gegensatz zu den männlichen Gegenparts nicht, müssen selbst für das Training aufkommen und nebenbei
hauptberuflich einer Tätigkeit nachkommen. Auf Miras Schultern, der Kapitänin des Teams, lastet zusätzlich ein dementer Großvater, eine emotional verschränkte Mutter und ein weggelaufener Bruder. Zwischen den beiden Filmen steht also einerseits das oft gesehene Theaterspiel als Metapher unerreichter Träume und auf der anderen Seite mit Fraueneishockey eine selten veranschaulichte Lebensrealität.

Bezogen auf die Protagonistinnen beider Filme, so ist Anna bereits auserzählt. Viel mehr Charakterisierung als in dieser Kritik bereits angesprochen ist ihrer redundanten Figur nicht gegönnt. Mit Mira versucht sich Breaking the Ice hingegen an einem Charakterporträt, das – wie der Titel suggeriert – von einer emotional verschlossenen Person handelt. Sie ist aber nicht teilnahmslos. Über Dating-Apps trifft sie sich zum Beispiel mit etwas älteren Frauen für diskreten Sex, aber als eine neue Spielerin zum Team dazustoßt, bleibt Mira distanziert. Wenn auch an der eigenen Haltung scheiternd, sucht Mira nach persönlicher Freiheit und Emanzipation. Mit der queeren Facette Miras, die nicht allpräsent ist, sie als Person aber prägt, und der Zurückhaltung erhält die Figur nötige Charaktertiefe, um einen Film tragen zu können (was man bei Wer wir einmal sein wollten leider vermisst).

Verdächtig komische Ähnlichkeit haben aber beide Filme bei einer Nebenfigur aufzuweisen. Der verantwortungsscheue Bruder, der eigentlich die Familie verlassen hat, nun plötzlich beim Arbeitsplatz der Protagonistin erscheint und Unterkunft sowie finanzielle Mittel erfragt, ist in ihren Grundzügen zumindest die gleiche Persona. Allerdings finden sich Unterschiede in der Ausarbeitung. Die Charakterentwicklung des Bruders Patrick bei Wer wir einmal sein wollten
endet genau da, wo sie eingeführt wurde. Er startet mit Schulden bei zwielichtigen Personen, auf die er sich eingelassen hat, und verbleibt dann auch in der Kriminalität. Von einer Milieustudie kann man hier aber beim besten Willen nicht sprechen – Der Film bettet Patricks Verhalten nicht in gesellschaftliche Gegebenheiten ein oder findet andere interessante Ansätze. Bei Breaking the Ice flüchtet der Bruder Paul zwar auch vor Verantwortung, allerdings greift seine Charakterisierung komplexer. Er flüchtet vor allem vor einer dysfunktionalen Familie, die nicht in der Lage ist, Traumata aufzuarbeiten. Anstatt die ausgeleierte „Er ist jetzt Gangster“-Schiene abzufahren geht Paul einem alltäglichen Schauspiel nach: In Bars entwirft er seine Persona immer wieder neu, nennt sich mal Josef, mal Gustav und steckt Mitmenschen mit der Lust zum hedonistischen Spiel an – auch das Publikum. Damit verkörpert er den Ansatz, Identität multipel zu verstehen und lehnt es ab, nach der Essenz des Seins zu suchen, da sie sowieso nicht existiert. Welche Dynamiken dann durch das Treffen mit seiner Schwester entstehen, arbeitet der Film vielschichtig auf.

Mag man aber die Figuren im Gesamtkonstrukt genauer unter die Lupe nehmen, so fällt auf, dass sich Wer wir einmal sein wollten nicht nur im Inszenierungsstil, sondern auch bezüglich Geschlechterrollen versteift gibt. Mit Thesen und Aussagen von Feminism WTF im Hinterkopf (einem Film, der ebenfalls im Rahmen der Diagonale gezeigt wurde), verbleiben die Figuren in
ihren jeweiligen geschlechterkonformen Fracks. Patrick ist der aggressive, der entweder zu Gewalt oder einer mürrischen Ablehnung greift, denn er scheint nicht in der Lage zu sein, seine inneren Konflikte zu kommunizieren – typisch maskulin. Anna hingegen hat die sozial kompetenten Fähigkeiten vorzuweisen. Man könnte sagen, sie bemuttert ihren Bruder geradezu. Dabei wird keinerlei Lösung angeboten, auch kein Spiel findet statt, lediglich die Geschlechterregeln werden reproduziert. Nun kann man dies damit verteidigen, dass der Film einen Ansatz des Realismus wählt (wobei damit das Scheitern der Geschlechterrollen in der Realität ignoriert wird) oder dass eine Aufarbeitung von Geschlechternormen nicht das Ziel des Films ist. Vor allem aber unterstreicht damit Wer wir einmal sein wollten die Qualitäten bezüglich sex und gender in Breaking the Ice. Nicht nur sind hier die Rollen auf den Kopf gestellt – so steckt eher in Anna eine subversive Aggression und Paul ist der sozial offenere, der sich gerne feminin bewegt – es wird aktiv mit den Rollenbildern gespielt, um sie zu unterwandern. Anna posiert halbnackt vor dem Spiegel, in Positionen, die die Muskeln ihres Körpers betonen. Oder sie zieht sich in Bars männlich codierte Kleidung über und schmückt ihr Gesicht neben Eyeliner mit der Bemalung eines Vollbarts. Anna wird nicht einzig und allein auf diese Charakterzüge reduziert, vielmehr geschieht dies in einer Beiläufigkeit, die die queere Ader des Films authentisch stabilisiert und zeigt, dass die Regisseurin Clara Stern Ahnung von der Materie hat.

Damit lässt sich sagen, dass Wer wir einmal sein wollten, so nett er als Abschlussfilm eines Studenten erscheinen mag, vor allem in einer uninspirierten Belanglosigkeit verkümmert – er thematisiert einen Stoff, der weder inhaltlich noch formal erfrischend wirkt. Breaking the Ice arbeitet die gleichen Motive interessanter aus, weiß mehr mit der steiften Inszenierungsform anzufangen und bietet mehr Figurentiefe – auch wenn die Figuren auf den hölzernen Dialogen etwas ausrutschen, erweist sich dieser Film als wesentlich jugendlicher.

Eine kleine Welt, schön und voller Sorgen. No Name City – Eine Kritik

Jonas Platz

In einer Westernstadt ohne Namen: Der Hombre spricht niederösterreichisch, der Sheriff heißt Fritz, Winnetou, der Häuptling der Apachen sieht dem Schlagersänger Waterloo verdächtig ähnlich. Handys, Tetrapackmilch und Filterzigaretten sind selbstverständlich, im Saloon gibt es Ottakringer. Was zunächst nach einem Sketch aus einem Film von Michael „Bully“ Herbig klingt, ist in Wahrheit Florian Flickers Porträt eines Themenparks, der 2001 bei Wöllersdorf eröffnet wurde. Die Dokumentation No Name City (AUT 2006) zeichnet den verbissenen Kampf um die Existenz der gleichnamigen Westernstadt, obgleich die virtuose Verdichtung der zwischenmenschlichen
Konflikte einen bisweilen glauben lässt, man befände sich in einem Spielfilm.

No Name City

Denn rein auf die Handlung fokussiert, ist Florian Flickers Meisterwerk ein Melodram. Im Zentrum steht der Konflikt um die Machtstrukturen innerhalb der Westernstadt. Ursprünglich dort als Hausmeister angefangen, reißt der vormalige Abteilungsleiter Armin Groß die Verwaltung des Themenparks sukzessive an sich, was auf den Protest der anderen Bewohner stößt. Viele waren von Anfang an dabei: der Erlebnispark ist ihr Lebenswerk. Wir sehen Menschen, die sich für diesen Lebensstil abseits der sie belächelnden restlichen Welt entschieden haben und ihr Dasein vollumfänglich dem Erhalt der Stadt widmen, während wechselseitige Intrigen, kaputte Eisenbahnen und die ständige Sorge, die Pferde über den Winter zu bringen, das Idyll der Westernstadt stören.

Diese melodramatischen Konflikte innerhalb des alternativen Wild West Mikrokosmos stellen als solche in Zeiten immer fortwährender Reality-Soaps keine Besonderheit dar: entscheidend ist die Tatsache, dass es sich tatsächlich um einen rein dokumentarischen Film handelt, der so pointiert collagiert ist, dass man kaum glauben kann: Hier ist alles real, nichts ist gestellt. Dieses Wissen ist wesentlich für die außergewöhnliche Seherfahrung, die No Name City ermöglicht. „Film ist nicht nur das, was man sieht“, postuliert der Filmwissenschaftler André Bazin. In seinen Arbeiten hebt er immer wieder die besonderen Vorzüge des guten Dokumentarfilms hervor. Gut im Sinne Bazins meint eine wahrhaft immersive und glaubhafte Wirkung, die nur dann entstehen kann, wenn die Kamera wesentlicher Bestandteil des Geschehens wird und nicht von außen oder oben herab auf das Thema blickt.

Eben das ist bei No Name City der Fall. Dieser Eindruck wird durch den Umstand, dass Florian Flicker und sein Team sich bewusst für einen Monat in die Westernstadt einquartiert hatten, um somit hautnah am Geschehen beteiligt zu sein, nurmehr unterstrichen. Bestimmte Konflikte wurden durch die Anwesenheit der Kamera wohl erst möglich oder zumindest befeuert. Bemerkenswert, weil damit die Realisierung des Films „völlig identisch ist mit dem Geschehen von dem er […] berichtet: weil er selbst nur ein Aspekt dieses Abenteuers ist.“

In No Name City wird dies immer wieder deutlich: In einer relativ ausführlichen Szene sehen wir, wie Flicker selbst sich einkleiden lässt und zu einem von ihnen wird. Wir zum bloßen Zusehen verdammten Anderthalbstundentouristen – ein Schicksal, dass durch die Schließung der Stadt seit 2009 endgültig besiegelt ist – können dabei nicht umhin, uns über die schrulligen Individualisten, die über die symbolische Bedeutung von Adler- und Fasanenfedern philosophieren oder in Apachenkostümierung österreichische Chartschlager singen, zu amüsieren; und auch Flicker kann sich in manchen Szenen ein wenig trockene Süffisanz nicht verkneifen.

Dennoch – und das ist die große Stärke von No Name City – gelingt es dem Film, vom natürlichen Voyeurismus – der jedem Dokumentarfilm anhaftet – einmal abgesehen, das Schicksal der Stadt und der dort Lebenden in seiner ganzen Tragweite einzufangen, ohne zu verurteilen. Natürlich müssen wir lachen, wenn zwei Frauen im Gespräch anfangen, Männer mit Schuhen gleichzusetzen. Doch gleichzeitig spüren wir, dass die beiden viel Enttäuschung und Leid mit
Männern erlebt haben – die eine meint sogar, sie sei in die No Name City vor einem geflohen.

Auch dass sich der Untergang der Westernstadt 2009 als unheilvoller cantus firmus während des ganzen Films bereits prophetisch andeutet, wirkt an keiner Stelle fatalistisch oder zynisch. No Name City ist ein meisterhaftes Porträt über eine alternative Lebenswelt, in die viele Menschen all ihre Mühe gesteckt haben, auf der Suche nach einem gemeinsamen Zufluchtsort, der immer wieder von altbekannten Problemen des Alltags heimgesucht wird und die Utopie dieser Menschen zu zerstören droht. Gleichzeitig ist er ein virtuoses Beispiel, das die großartigen Möglichkeiten des Dokumentarfilms aufzeigt, wobei er stets im Dienste des Lebens steht.