2004 konnte Jessica Hausner mit ihrem Psychothriller Hotel bei den Filmfestspielen in Cannes begeistern. Sie erzählt eine Geschichte, die sich von anderen Genre-Vertretern inspirieren lässt, mit vielen bekannten Konventionen bricht und im Finale alles daransetzt, die eigene Geschichte zu dekonstruieren.
Hausner erzählt von der jungen Irene (Franziska Weisz), die als Rezeptionistin ihren neuen Job in einem abgelegenen Waldhotel beginnt. Dort kümmert sie sich um die Gäste und muss nachts im verlassenen Hotel eine Runde durch den Keller drehen. Zunehmend bekommt Irene das beklemmende Gefühl, dass irgendetwas mit diesem Ort nicht stimmt – etwas, das mit dem tragischen Schicksal ihrer Vorgängerin zusammenzuhängen scheint. Zur selben Zeit erfährt sie von Erik (Christopher Schärf), den sie in einer nahegelegenen Diskothek kennenlernt, von der Sage einer in einer Grotte lebenden Waldhexe. Diese Handlung ist in vielen Aspekten von anderen filmischen Werken mit einer ähnlichen Grundidee inspiriert: Zuerst einmal drängt sich das sehr ähnliche Setting aus Stanley Kubricks Meisterwerk The Shining (1980) auf. Aus Kubricks gewaltigen, verlassenen Berghotel macht Hausner ein kleineres, verlassen wirkendes Waldhotel. Auch die Stimmung fühlt sich in beiden Filmen sehr ähnlich an: Zu Beginn scheint alles lange Zeit sehr ruhig zu sein, doch die Bedrohung und die anbahnende Katastrophe erzeugen ein Gefühl der Beklemmung. Hausner folgt allerdings nicht blind den Spuren von Kubrick, sondern lässt andere Impressionen einfließen: Die Legende der Waldhexe aus dem Found-Footage Horrorfilm The Blair Witch Project (1999) scheint hier eine passende Ergänzung zu sein. Die Bedrohung beschränkt sich dadurch nicht auf das Hotel, sondern hüllt ebenfalls das Umland in einen Nebel des Schreckens. Wenn Irene in der scheinbar friedlichen Natur den Fängen des Hotels entkommt, bringt das keine Entspannung mit sich, sondern stößt einen in die nächste Bedrohung. Es ist schwierig auszumachen, welcher Ort die größere Bedrohung für Irene darstellt und Hausner bemüht sich, jeden Schauplatz gleichermaßen schauderhaft zu gestalten.
Die größte Inspiration holt sich Hausner dann allerdings in dem dänischen Thriller Nightwatch(1994). Der dortige Protagonist Martin (Nikolaj Coster-Waldau) beginnt seinen neuen Job als Nachtwächter in der Pathologie eines Krankenhauses. Jede Nacht wandert er mehrmals durch die Gänge des verlassenen Gebäudes und prüft, ob alles in Ordnung ist. Doch mit jedem Mal entsteht bei ihm der Eindruck, dass irgendetwas Schreckliches vor sich geht. Sowohl Martin als auch Irene werden beide ahnungslos in eine neue Situation geworfen und zunehmend psychisch an den Rand ihres Verstands gedrängt. Wo anfangs Freude über den neuen Arbeitsplatz vorherrscht, entsteht schnell ein Misstrauen gegenüber allen anderen, bevor am Ende nichts anderes mehr übrig zu sein scheint als Paranoia.
Hausner beschreitet in Hotel viele bereits betretene Pfade, was ein großes Problem mit sich bringt: Die Zuschauer_innen vermögen früh, das Rätsel des Films zu entschlüsseln. Denn entlang dieser Pfade wurde sich schon mehrmals bewegt und so wirken viele Elemente des Films altbekannt. Es ist wie eine Ausstellung von verschiedensten Szenarien, die uns in Filme zurückversetzen, in denen wir vor Angst kaum hinzuschauen vermochten, während dieser Film scheinbar nur von der Angst aus anderen Filmen lebt. Die Spannung verliert sich zunehmend; zu bekannt ist all das, was von statten geht. Und dennoch schafft es Hausner am Ende die Erwartungen zu unterwandern: Eigentlich verlangen die Genre-Konventionen, dass die dramaturgische Spannungskurve am Ende ihren Höhepunkt erreicht. Der Klimax erlöst die Zuschauer_innen und zeigt das, was den gesamten Film über angedeutet wurde – egal wie schrecklich der Ausgang ist, es entsteht ein Gefühl der Befreiung. Hausner gewährt den Zuschauer_innen dieses Gefühl nicht. Im Finale, dem Moment größter Spannung, nimmt sie das Tempo heraus und lässt den Film unspektakulär und bedächtig zu Ende gehen. Das hinterlässt ein unbefriedigendes Gefühl, zeigt aber auch, wie trotz vieler Inspiration etwas Eigenes entstehen kann. Damit all das funktioniert, braucht ein solcher Film eine Projektionsfläche für die Zuschauer_innen, auf die die eigene Persönlichkeit gespiegelt und durch deren Augen die Geschichte gesehen werden kann. In Hotel ist das Irene, die von Hauptdarstellerin Franziska Weisz verkörpert wird. Diese spielt die Rolle der jungen Rezeptionistin dermaßen unspektakulär, dass der Gedanke der „filmischen Realität“ immer wieder in den Hintergrund gerät. Wären da nicht die übernatürlichen Momente, könnte diese Geschichte im Hotel um die Ecke stattfinden. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass ihre Figur durch diese Schlichtheit sehr eindimensional bleibt. Sie bekommt keine weiteren Facetten, keine spannende Vorgeschichte, führt keine interessanten Beziehungen und darf kaum Gespräche führen. Es ist ein minimalistisches Bild einer Figur, beschränkt auf das Wesentliche: einer jungen Frau, die in einer neuen beruflichen Situation chancenlos wirkt und unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuert – all das in den Fußstapfen ihrer Vorgängerin und unter den wachsamen Augen des erfahrenen Personals.
Hausner ist bekannt für ihre weiblichen Hauptrollen, die immer wieder charakterliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Es sind introvertierte Figuren, mit zwischenmenschlichen Problemen, die an der Gesellschaft anecken. In Flora (1995) geht es um ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen Eltern und eine illusionistische Vorstellung von Liebe. In Lovely Rita (2001) sind diese beiden Gedanken ins Extreme weitergedacht. Mit Hotel verändert sich der Fokus etwas. Statt dem direkten Konflikt mit anderen, blickt Hausner hier vielmehr auf die Figur selbst und der Selbstwahrnehmung der jungen Frau. Eins haben jedoch all ihre Figuren gemeinsam: Es wirkt stets so, als würde Hausner Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit in ihre Figuren schreiben und so wirkt es auch bei Irene: Eine junge Frau, die in einem Beruf erfolgreich sein will, der von bestehenden „Größen“ dominiert wird, lebt mit der alltäglichen Angst, in den Fußspuren ihrer (weiblichen) Kolleginnen in Vergessenheit zu geraten.
Das unabwendbare Ende der filmischen Welt wirkt wie eine Warnung, die es zu verstehen gilt und der wir in der echten Welt entkommen müssen. So ist Hausners Film auch 16 Jahre später immer noch aktuell und kann als Aufruf gesehen werden, auszubrechen – raus aus den immer gleichen Mustern. Nur so kann der stets präsenten Tragik entgangen werden und wir sollten es wie Hausner machen: Auf den Spuren der Vergangenheit wandeln, aus gemachten Fehlern lernen und mutig neue Wege gehen.
Nordrand (1999) ist der Debütfilm von Barbara Albert, der sich dadurch auszeichnet, dass er der erste österreichische Film in 51 Jahren war, der für den Goldenen Löwen in Venedig nominiert wurde.
In dem Film geht es um drei verschiedene Individuen, deren Leben ‒ auf die eine oder andere Weise von den damaligen Ereignissen in Bosnien beeinflusst ‒ sich im Laufe einiger Monate überkreuzen. Jasmin stammt aus einer Familie mit zahlreichen Söhnen und Töchtern, wird von ihrem Vater und ihrem Verlobten regelmäßig geschlagen und geht ständig auf neue Beziehungen ein, in denen sie immer wieder schwanger wird. Tamara stammt aus einer serbischen Familie, die im ehemaligen Jugoslawien lebt und ist in eine stürmische Beziehung mit ihrem eifersüchtigen Verlobten Roman verwickelt, der als Grundwehrdiener die meiste Zeit an der österreichischen Grenze verbringt. Valentin ist ein Flüchtling aus Bosnien, der in Österreich einen Zwischenstopp auf seinem Weg nach Amerika macht. Das Werk ist wegen seiner narrativen Struktur bemerkenswert, die offensichtlich teilweise vom italienischen Neorealismus inspiriert ist, ohne aber dessen Atmosphären hundertprozentig nachzuahmen: extradiegetische Popmusik, die in gezielten Punkten die Bilder kommentiert, einige komplexe Kamerafahrten und Momente hektischer, dokumentarischer Montage verraten den modernen Ansatz der Regie. Trotzdem wird die soziale Realität dieser unglücklichen Figuren realistisch beschrieben, wobei die soliden Darstellungen der Schauspieler_innen eine große Hilfe sind. Dabei zeigen sich im Laufe der Sichtung einige erstaunliche, thematische Ähnlichkeiten mit Jessica Hausners Filmen: Der Großteil des Filmes ist den zwei jungen Frauen gewidmet, die versuchen, in einer feindseligen Welt zu überleben. Beide sind auf sich selbst gestellt und ihre Familien sind physisch oder geistig nicht für sie da.
Eine eigentliche Handlung wird nicht wirklich entwickelt. Albert beschränkt sich darauf, die Situationen für sich sprechen zu lassen und dem Publikum seine eigene Interpretation zu überlassen. Es ist eine Parabel von Außenseiterinnen, die versuchen, in den Tragödien des Lebens zu überleben; eine Parabel, die nicht unbedingt subtil die Probleme der Immigrant_innen (in diesem Fall aus Bosnien) im Blick hat und in der ein Happy End nicht das ideale Ziel zu sein scheint. Das zufällige Treffen dieser drei Figuren wird keines ihrer Leben zum Besseren beeinflussen. Falls es Änderungen gibt, sind sie genauso zufällig, wie alles andere im Rest des Films: Ganz gleich ob sie in Österreich bleiben oder es schaffen, wie im Falle Valentins, nach Amerika zu kommen, sind die Hauptfiguren hinter einem sozialen Gitter eingesperrt, aus dem sie vermutlich nicht entkommen können.
Ein Werk also, das vom Anfang bis zum Ende von einem pessimistischen Unterton durchzogen ist, sich doch im Endeffekt im Aufbau der Figuren und in der Darstellung (wenn nicht der Entwicklung) seines Themas sehr effektiv erweist. Nicht unbedingt ein Meisterwerk, trotzdem gut konzipiert und realisiert.
Nordrand: Das Ergebnis einer grausam genauen Beobachtung
Von Simon Spahn
Nordrand (1999) ist ein österreichischer Film, der nach einer erfolgreichen Uraufführung an den internationalen Filmfestspielen in Venedig in die österreichischen Kinos kam. Er gilt als besonders bedeutend für die österreichische Filmgeschichte und war für die Regisseurin Barbara Albert ein Durchbruch in ihrer Karriere.
Der Film erzählt keine Geschichte, sondern gibt den Zuschauer_innen vielmehr die Möglichkeit einen Einblick in das Leben verschiedener Menschen zu bekommen. Er zeigt das Privatleben und die Probleme von zwei jungen Frauen: Jasmin, die gemeinsam mit ihren vier Geschwistern bei ihren Eltern in relativ ärmlichen Verhältnissen am nördlichen Rand von Wien aufwächst, und Tamara, deren serbische Familie vom Krieg im damaligen Jugoslawien betroffen ist. Beide haben mit ähnlichen Situationen umzugehen, jedoch gibt es zwischen ihnen große familiäre Unterschiede. Neben Jasmin und Tamara nimmt auch Valentin eine zentrale Rolle im Film ein. Er ist ein rumänischer Flüchtling, der nur vorübergehend in Wien lebt und anschließend nach Amerika weiterreisen will.
Neben den privaten Umständen der Charaktere thematisiert Nordrand auch den Bosnienkrieg und zeigt seine Folgen in wiederkehrenden Fernsehaufnahmen. Tamara fürchtet um ihre Familie, während Jasmin mit der eigenen und besonders mit ihrem gewalttätigen Vater, zu kämpfen hat. Der Film zeigt immer wieder Szenen der häuslichen Gewalt, der damit verbundenen Trauer und Verzweiflung; dennoch kann das Publikum den Blick nicht abwenden. Erschreckend ist dabei der Gedanke, dass es sich hier nicht um außergewöhnliche Momente oder Ausnahmezustände handelt. Vielmehr zeigt der Film den Alltag dieser Familien, der den Zuschauer_innen im echten Leben verborgen bleibt. Albert thematisiert neben Liebe und Sexualität, vor allem Freundschaft und Familie und zeigt, dass besonders in schwierigen Zeiten zwischenmenschliche Beziehungen bedeutend und wichtig sind.
Nordrand lässt sich nur schwer mit Genrebegriffen definieren und so ist auch die Erzählstruktur sehr unkonventionell. Albert setzt darauf, dass die Umstände der verschiedenen Charaktere bei den Zuschauer_innen genug Interesse wecken, um deren Aufmerksamkeit zu behalten. Da der Film durch seine Narration kaum Spannung aufbaut und auch nicht wirklich auf etwas hinarbeitet, kann es sein, dass jene Zuschauer_innen, die von den Charakteren wenig beeindruckt sind, Interesse am Geschehen verlieren. Dies kann in Kombination mit den kalten Farben und der Melancholie, die der Film zweifellos ausstrahlt, dazu führen, dass Nordrand nicht bei jedem Publikum gut ankommt. Wer sich jedoch auf die Schicksale der Figuren einlässt und ihren Belastungen und Emotionen mitfühlend gegenüberstehen kann, wird merken, dass die Materie des Filmes, wie Rassismus, Armut und Migration, noch immer zeitgerecht ist. Die Probleme von Jasmin und Tamara existieren nicht nur in der heutigen Zeit immer noch, sondern sind sogar fast relevanter als je zuvor.
In TNT Boxerstory (2018) von Mark Gersthofer geht es um einen Boxer, der sich mit seiner Käuflichkeit und Entscheidungsfreiheit auseinandersetzt. Protagonist T – oder auch TNT – erklärt, er habe sich in seinem Leben nur zweimal bestechen lassen. Das ersten Mal wurde er von seinem Coach hintergangen, der ihn dazu überredete zu verlieren. Beim zweiten Mal wird er von seinem neuen Coach gefordert, dass er für einen Wetteinsatz verliert. TNT jedoch entscheidet sich dazu, den Kampf zu gewinnen, was er letzten Endes trotz eigener Überzeugung nicht schafft.
Dieser Kurzfilm übernimmt einige Elemente von anderen Filmen, die ebenfalls das Leben eines Boxers darstellen. TNT Boxerstory arbeitet mit der Geschichte eines Ex-Weltmeisters, so wie die letzten Filme der Rocky-Filmreihe. Gersthofer verpasst der Geschichte einen Twist, indem die Erfahrungen des Protagonisten am Ende kein positives Ende nehmen oder eine positive Nachricht zeigen. TNT’s Geschichte fängt mit Betrug und Käuflichkeit an und endet auch damit. Im letzten Boxkampf wird für kurze Zeit ein Happy-End angedeutet, indem mittels eines inneren Monologs TNT’s Überzeugung verdeutlicht wird, er könne den Kampf gewinnen. Das Blatt wendet sich jedoch: TNT wird bewusst, dass seine Überzeugungskraft allein den Kampf nicht gewinnen kann und sein Körper letztendlich aufgibt. Er verliert den Kampf, gewinnt dabei aber den versprochenen Anteil des Wetteinsatzes.
Ähnlich wie bei Southpaw(2015) wird der Protagonist ausgebeutet und verlassen, jedoch konzentriert sich Gersthofer nur auf die Wahrnehmung aus TNT’s Perspektive . Seine Freundin verlässt ihn nach dem ersten Kampf im Film, weil er sie wegen Untreue beschuldigt und sich später herausstellt, dass er sie deshalb geschlagen hat. Kurz vor dem letzten Kampf stoßen sie zufälligerweise aufeinander und er lädt sie ein, zu seinem Kampf zu kommen. T hat daraufhin den Einfall, das Schicksal bestimmen zu lassen, ob er gewinnt oder verliert. Sollte seine Ex-Freundin auftauchen, so holt er den Sieg. Als er während des Kampfes einsieht, dass sie nicht kommen wird, beginnt seine Niederlage. Nur als er seinen ehemaligen Coach im Publikum glaubt zu erkennen, kehrt seine Überzeugungskraft zurück. Dem Publikum wird vorgespielt, dass er – wie in so vielen Rocky-Filmen ebenfalls – entgegen aller Vorstellung den Kampf gewinnen kann. Deshalb kommt seine Niederlage umso überraschender. Diese erweist sich zwar als ein finanzieller Erfolg für TNT, anders als im ersten Kampf, bei dem sein ehemaliger Coach mit dem gesamten Gewinn verschwand. Dieser verlorene Boxkampf war nicht nur eine Niederlage im Ring, sondern auch in seinem Leben. Er erkennt, dass er keinen Menschen hat, der ihm nahesteht und ihn unterstützt. Was ihm bleibt, ist sein Coach, der ihn für Geld ausnutzt. In der letzten Einstellung ist an TNT’s besiegter Haltung und seinem leeren Blick zu sehen, dass er dieser Erkenntnis nun völlig erlegen ist. Nichtsdestotrotz gibt es aber ein mehrdeutiges Ende für die Geschichte, die erst im Abspann gezeigt wird. TNT tanzt in einer Bar gemeinsam mit seiner Ex-Freundin eng umschlungen. Dies könnte, wie auch der erste Kampf, eine Rückblende sein oder eine Vorstellung bzw. ein Traum. Die Existenz dieser Szene lässt die Möglichkeit einer Versöhnung von TNT mit seiner Ex-Freundin Vanessa zu.
Gersthofer schafft es zwar, in den Boxkämpfen die Spannung zu halten und den Konflikt TNT‘s zu verdeutlichen, indem sein innerer Monolog zu hören ist, jedoch sind die Kampfszenen nicht besonders überzeugend. Die Härte und Rohheit eines Rocky-Kampfes werden nicht erreicht und es ist mehrmals sichtbar, dass die Schauspieler ihre Schläge zurückhalten oder diese gar nicht ankommen. Hierbei fehlte es entweder an Kameraführung oder aber an schauspielerischen Einsatz. Somit leidet die Glaubwürdigkeit der Boxkämpfe: Das Publikum wird aus der Immersion herausgerissen, da es sich auf diese auffälligen Elemente konzentriert und nicht auf den Verlauf des Kampfes. TNT Boxerstory ist ein rührender und nihilistischer Film. Es wird der Zwiespalt eines Menschen dargestellt, der damit kämpft, sich selbst treu zu bleiben oder aber sich dem Opportunismus zu beugen. Dabei wird T von seinen Mitmenschen ungeachtet dessen, wofür er sich entscheidet, allein gelassen. Trotz den etwas unrealistischen Kampfszenen schafft es Gersthofer die Spannung bis zum Ende des Kurzfilms zu halten und eine packende Geschichte zu erzählen.
Nichts mit Kino. Eingesperrt wie die Kanarienvögel müssen die virtuellen Besucher der Diagonale ‘20 die diesjährigen Filme in den eigenen vier Wänden betrachten. Auch Sebastian Brauneis’ drittes und bisweilen größtes Filmprojekt 3Freunde2Feinde (2020) war für die Filmauswahl der Diagonale ‘20 vorgesehen und muss nun, aufgrund des pandemiebedingten Lockdown, im virtuellen Raum des Festivals wahrgenommen werden. Die Handlung der romantisch verspielten Screwball Komödie, in der die drei Protagonist_innen Johanna (Marlene Hauser), Franzi (Christoph Kohlbacher) und Emil (Noah L. Perktold) durch mehrere zufällige Verkettungen von Ereignissen und geplanten Intrigen eine tiefgreifende Leidenschaft und Freundschaft füreinander entdecken, ist einfach gestaltet und schnell umrissen.
Abgelenkt von dem lieblichen Spiel der Kanarienvögel wird Hannah Opfer eines Taschendiebstahls. Im Handgemenge mit dem Täter gelingt es ihr, die Plattentasche des Diebes zu entwenden, bevor dieser die Flucht ergreift. Ungefähr zur selben Zeit gehen Emil und Franzi einem aufwendig ausgeklügelten Plan nach, den verhassten Schwiegersohn ihres Firmenchefs, der zum Groll der gesamten Belegschaft die Firmenführung übernehmen soll, vor der ganzen Firma bloß zu stellen. Johanna, ohne eigene Tasche und deswegen ohne Wohnungsschlüssel und Geldbeutel, bittet nach getaner Arbeit bei den beiden Freunden um Hilfe. Die drei beschließen, gemeinsam den Dieb ausfindig zu machen und Johannas Besitz zurück zu erobern. Die Tasche des Diebes, ein Plattenkoffer, soll Aufschluss über die Identität des Übeltäters geben und die Überlegung liegt nahe, dass es sich bei dem Dieb um einen DJ handeln muss. So beschließen sie, die Wiener Club- und Barszene unsicher zu machen, um so auf die Spur des Unbekannten zu kommen. Entgegen der Bemühungen der drei Freunde, versuchen die zwei Feinde Karl (Christoph Radakovits), der Schwiegersohn des Firmenchefs und dessen Schwager Heinz (Lukas Watzl) die Urheber des Streiches dingfest zu machen.
Wie es sich für eine klassische Screwball Komödie gehört, spitzen jede Menge unerwartete Wendungen und Fügungen die Handlung weiter zu und kulminieren in einem unerwarteten, obwohl angedeuteten, tragischen Happy-End. Die sympathischen und charakterstarken Hauptdarsteller_innen funktionieren. Die Synergien zwischen den drei Hauptdarsteller_innen machen das Miterleben des Wiener Nachtlebens zur wahren Freude. Obwohl die drei Arbeitskolleg_innen eher einfach gestrickt und geradezu naiv dargestellt sind, besitzen sie im Gegensatz zu ihren Antagonist_innen Tiefe und Mehrschichtigkeit. Der simple Handlungsrahmen bietet den Darsteller_innen Möglichkeiten, ihre Figuren frei zu formen. Gerade Christopher Kohlbach in der Rolle des (ehemals) drogenabhängigen Franzi pariert als echter Wiener-Charakterkopf. Sudernd, derb aber auch voller Romantik und Schmäh, erinnert er in Ansätzen an bekannte ikonische Figuren der österreichischen Filmlandschaft wie beispielsweise Georg Friedrichs Schorschi. Die Darstellung der Wiener Seele, die durch die humorvollen, in Mundart gehaltenen Dialoge und die bekannten Wiener Schauplätze wie das Beisl und den Würstlstand, gekonnt in Szene gesetzt werden, bilden die starken Momente dieses Films.
Sebastian Brauneis zeigt sich nicht nur für Regie, sondern auch für Kamera, Drehbuch und Schnitt verantwortlich. Brauneis‘ filmwissenschaftlichen Background merkt man dem Film deutlich an. So versucht er, sein enormes Wissen über Montagetechniken und Kameraeinstellungen in diesem Film anzuwenden. Unzählige Verweise und Anspielungen, klassische Erzähltechniken und avantgardistische Ideen halten Einzug. Und genau das ist das Problem. Während die Handlung an sich zu Unterhalten vermag und es wirklich eine Freude ist, die drei gut geschriebenen und gespielten Protagonist_innen zu beobachten, wirkt Kameraarbeit, Schnitt und Regie zusammengewürfelt. Der Versuch eine eigene Handschrift zu etablieren, wird durch ein Konglomerat an abgeschauten Techniken und Strukturen ersetzt und lenkt teilweise durch unnötige Komplexität und Diversität von der einfachen aber guten Ausarbeitung der Handlung und der Figuren ab.
Lovely Rita, Dogtooth und der brutale Akt der Befreiung
TW: Gewalt, Blut, Mord
von Laura Ahammer
Ein Gewaltakt als Akt der Befreiung. Ein Ende, das offen lässt, ob dieser gelingt. Auf den ersten Blick scheinen Lovely Rita (2001) von Jessica Hausner und Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos nicht allzuviel gemeinsam zu haben. Der eine handelt von einem jungen Mädchen, das von den Eltern beinahe gleichgültig behandelt wird und nicht einmal in der Schule Freunde hat. Ihre einzigen guten Beziehungen scheint sie zu dem kranken Nachbarjungen und, sehr flüchtig, zu einem Busfahrer zu haben. Mit diesen Männerfiguren experimentiert sie auch ihre Sexualität. Der andere Film hingegen ist eine absurde, karikaturistisch auf die Spitze getriebene Geschichte einer Familie, deren drei Kinder vollständig abgeschottet von der Welt leben und die verdrehten Erklärungen und Lügen ihrer Eltern glauben. Das Meer ist ein Ledersessel mit hölzernen Armlehnen, Zombies sind kleine gelbe Blumen und der aus dem sicheren Zuhause ausgerissene Bruder lebt direkt hinter der Mauer, bis er von dem gefährlichsten Raubtier der Welt getötet wird – einer Katze. Dogtooth – wie auch später The Lobster (2015) – lebt von der absoluten Konzentrierung der Gesellschaft, sie wird destilliert bis ins Surreale, doch es wird kein abstraktes Bild erschaffen. Vielmehr ist es ein verzerrender Spiegel, der uns vorgehalten wird. Es ist nicht nur eine Überspitzung der Situation und der Handlung, sondern auch des Schauspiels, des Dialoges und der Bildsprache. Statische, geometrische Einstellungen begrenzen den Blick in das starre Leben der Familie. Non-diegetische Musik fehlt völlig. In diesem reduzierten Setting findet das Drama statt.
Hausner bricht das Gesellschaftsleben auf eine andere Art und Weise herunter. Gezeigt wird eine ganz normale Familie, wie sie jeder kennt, vielleicht sogar als die Eigene. Doch sie zeigt die Momente, in denen sonst weggeschaut wird. Nicht ganz so mikroperspektivisch wie Dogtooth (dessen Geschichte fast ausschließlich im Zuhause der Familie spielt; mit lediglich sechs Schauspieler_innen), aber trotzdem auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochen, wird ein Bild aus dem Alltag gezeichnet. Die Protagonistin ist gerade noch ein Mädchen, fast schon eine junge Frau; gezeigt werden die Konflikte mit den Eltern, die Freundschaft mit dem Nachbarn, die erste Liebe. Hoffnung blüht, nur um zubetoniert zu werden. Die Eltern bemühen sich nicht sie zu verstehen, die Freundschaft wird toxisch, ihr Schwarm lässt sie fallen. Jegliche emotionale Bindung franst langsam aus.
Hausner wie auch Lanthimos halten uns auf Armlänge, die Erzählungen sind nicht darauf aus, uns dazu zu bewegen, mit den Figuren zu sympathisieren. Es werden keine Erklärungen gegeben. Durch das Isolieren der Hauptfiguren wird zwar eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, sie bleiben jedoch schwer zu lesen und unser Wissen bleibt durch die interne Fokalisierung in der Gestaltung oft begrenzt. Die Beweggründe der Charaktere sind teilweise so unverständlich, wie sie für diese selbst zu sein scheinen.
Die Dialoge in Lovely Rita sind spärlich, vor allem Rita spricht kaum. Nur durch ihre Mimik und durch ihr Handeln lässt sich auf ihren inneren Zustand schließen. Jegliche Art von Voiceover oder Monolog wäre gänzlich unpassend in Hausners Film, er lebt geradezu von der Mehrdeutigkeit der Figur, dem Nicht-Erklären, dem bloßen Zeigen. Der Film entsteht bekanntlich erst in den Köpfen der Zuseher_innen, wodurch jede_r ein Stück von sich selbst in Rita hineinbringt. Die – teils namenlosen – Figuren in Dogtooth reden, als würden sie einen Text runterleiern. Sie sprechen schnell, direkt und ohne große Betonung. Das macht die ohnehin schon skurrilen und schockierenden Situationen noch etwas asynchroner von unserer Realität.
Aber was haben die beiden Filme gemeinsam? Sie liefern zwei mögliche Antworten auf eine Frage. Oder besser gesagt bieten sie zwei Übersetzungen zu einem Thema: Lanthimos überzeichnet; Hausner gibt realistisch wieder. Im Kern handeln beide Filme von Emanzipation, vom Finden und Definieren des Selbst, vom Navigieren und Ausbrechen aus einem Raum, der von Erwachsenen geregelt wird. Diese Flucht gelingt den jeweiligen Protagonist_innen auf unterschiedlichen Wegen.
In Dogtooth schlägt sich die namenlose ältere Tochter mit einer Hantel den „Hundszahn“ aus, dessen Ausfall ihre Maturität und somit Erlaubnis das Haus zu verlassen bedeutet – so hatten es ihr zumindest immer ihre Eltern erklärt. Voller Blut und mit drei ausgefallenen Zähnen lächelt sie ihr Spiegelbild strahlend an. Das Waschbecken gleicht einer Mordszene. Dann versteckt sie sich im Kofferraum des Autos ihres Vaters und wartet. Der Film endet schließlich damit, dass der Vater die Spuren der Gewalttat im Badezimmer entdeckt und nach der Tochter sucht. Er fährt mit dem Auto in die Stadt, parkt und steigt aus. Der geschlossene Kofferraum wird gezeigt. Dann: Cut auf Schwarz.
Genauso brutal und ambig ist das Ende von Lovely Rita. Der Film begann mit der Aufnahme einer silhouettenartigen Schießscheibe, auf die geschossen wird. Zum Schluss wird Tschechows Pistole nochmals abgefeuert. Rita erschießt erst ihren Vater, dann ihre Mutter. Wir sehen sie nicht sterben; es ist nicht deren Reaktion, die relevant ist. Nach einem kurzen Ausflug findet sich Rita wieder in ihrem Haus. Eine Fliege fliegt im Wohnzimmer herum. Die Handbewegung, mit der sie sie verscheucht, ist genauso uninteressiert wie ihr Gesichtsausdruck. Plötzlich geht die zeitgeschaltete Lampe neben ihr an. Die andauernde Präsenz der Mutter, die im Laufe des Filmes immer wieder ungefragt das Licht in Ritas Zimmer andrehte? Oder ein Überbleibsel des Vaters, der die Lampe mit Rita montiert hat? Falls man sich ein Ende denken will, so muss man es für sich selbst tun.
Dogtooth besitzt eine visuelle Rigidität, die bei Hausners frühen Filmen noch nicht so ausgeprägt ist. Es wird bloß angeschnitten – das Bild genauso wie die Handlung. Die Figuren sind in ihrer Rolle gefangen, ständig auf der Suche etwas zu fühlen. Schließlich häufen sich die kleinen Gewaltakte des Alltages, bis es zur Ekstase kommt. Dabei verweilt die Kamera auf den Figuren. Es bleibt beim Publikum, die unleserlichen Gesichter zu interpretieren.
Beide Filme lassen die Frage offen, ob die „Befreiung“ gelungen ist. Ob es die Opfer wirklich wert waren. Ob ein Durchbrechen der Struktur überhaupt möglich ist.
Freiräume im österreichischen Autorenkino
Jessica Hausner und die eindeutige Ungewissheit
von Alina Groer
Die österreichische Regisseurin Jessica Hausner erzählt in ihren Filmen Geschichten von jungen Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollen und einer abweisenden Umwelt, die ihnen auf diesem Weg begegnet. Dabei sind grundlegende Lebensfragen nach Wünschen und Erwartungen sowie Glaube und Zweifel zentrale Motive. Die Regisseurin spielt in ihren Filmen mit Konventionen und Brüchen ebenso wie mit der Frage nach der Wirklichkeit. Hausners besondere Erzählstruktur tritt vor allem in ihrem Film Lovely Rita (2001) hervor. Das Spiel mit der Ungewissheit was als Nächstes folgt, beherrscht die Regisseurin jedenfalls, denn sie lässt das Publikum bis über das Ende hinaus warten, worauf diese Geschichte eigentlich hinaus will. Ein junges Mädchen ist auf der Suche nach ihrem Weg und steckt neben Träumen, Vorstellungen, Sehnsucht und Erwartungen auch noch in verhärteten Strukturen der Familie fest. Der Film verwirrt, geht in verschiedenste Richtungen und lässt bis zum Ende nicht zu, ein eindeutiges Bild zusammenzufügen.
Durch ihren Kamerastil wirft die Regisseurin einen distanzierten, reflexiven Blick auf das Geschehen. Dieser Stil findet sich in anderen österreichischen Filmen wie von Michael Haneke oder Ulrich Seidl wieder. Die starren, langen Kameraeinstellungen sind sehr kontrolliert aufgebaut und das minimalistische Schauspiel sowie der reduzierte Dialog, tragen zu einer angespannten Stimmung bei. Mit einer unklaren doch sehr sensiblen Erzählweise, stellt Hausner noch mehr Fragen als sie Antworten gibt. Die dominante Stille, die in ihren Filmen herrscht, lässt eigene Gedanken lauter erscheinen, wodurch man sich nicht so leicht im Film verliert.
Barbara Albert bearbeitet in ihrem Film Nordrand(1999)ähnliche Themen, doch ihre Erzählweise vermittelt einen subjektiveren Einblick in das Geschehen. Während die Protagonistinnen sich ihren eigenen Lebensweg erkämpfen, stellt eine locker geführte Handkamera Stimmungen, Gefühle und Empathie in den Vordergrund. Obwohl Albert dabei auch Freiräume in ihrer Erzählstruktur schafft, ergreift ihr Film die Zuschauer_innen offensiver und hält weniger Abstand zu den Figuren. Auch Michael Hanke erzählt in seinem Film Der siebente Kontinent (1989) von verhärteten Strukturen und dem Grauen einer industrialisierten Kultur. Im Gegensatz zu Hausner und Albert, zeichnet er die Struktur eines Systems und fokussiert durch enge Kameraeinstellungen eine ganz bestimmte Sichtweise auf die Welt.
Im sogenannten Feel-Bad Cinema, eine bestimmte Kategorie, der viele österreichische Filme zugeordnet werden können, werden ähnliche Motive bearbeitet, doch durch unterschiedliche Darstellungsstile grundlegend anders vermittelt. Das Motiv, ein unwohles Gefühl erzeugen zu wollen, um das Publikum zum Nachdenken anzuregen, geht bei Hausner über ein Zur-Schau-Stellen einer schlechten Welt hinaus. Die Filme von Jessica Hausner, besonders Lovely Rita, stiften geschickt Verwirrung und transportieren ein eindeutiges Gefühl der Ungewissheit, dass nicht beklemmt, sondern Gedanken befreit. Indem sie jene Freiräume erschafft, gelingt es der Regisseurin, Verantwortung an die Rezipient_innen abzugeben. Das Publikum ist auf sich gestellt, das Gesehene einzuordnen oder zu bewerten. Hausner macht mit ihren Filmen vor, wie ein respektvoller Umgang mit der Macht der Deutungshoheit funktionieren kann.
Der Anfang einer großartigen Karriere
Von Anna Nimmervoll
Das Spielfilmdebüt Lovely Rita (2001) bildet den Grundstein von Jessica Hausners erfolgreichen Karriere als Regisseurin und Drehbuchautorin. In diesem Film, der in Cannes in der Kategorie „Un Certain Regard“ erstmals gezeigt wurde, liefert Hausner Motive, Themen, Strukturen und Figuren, die in all ihren nachfolgenden Filmen eine wichtige Rolle spielen.
Am Esstisch einer bürgerlichen Wohnung in einer kleinen Vorstadt erinnert sich eine Familie an ihren letzten Urlaub, während im Hintergrund leise klassische Musik ertönt. Die 15-jährige Tochter Rita widmet sich gelangweilt ihrem Essen und lauscht dem Gespräch ihrer Eltern. Rita ist der Prototyp des bockigen Teenagers: Sie widerspricht, muckt auf, ist mürrisch und gelangweilt, legt sich mit ihren Klassenkameradinnen an, raucht und schwänzt regelmäßig die Schule. In einem wilden Mix aus warmen grellen und kühlen blauen Tönen zeigt Hausner verschiedenen Momentaufnahmen im Leben des jungen Mädchens, das versucht aus dem bürgerlich-katholischen Regime ihrer Eltern und der gesamten Gesellschaft auszubrechen. In Lovely Rita zeigt Hausner ihr Gespür für stimmungsvolle Farbkonzepte, die sie auch in Filmen wie Little Joe (2019) und Amour fou (2014) beeindruckend zur Schau gestellt hat.
Hausner zeigt über die Jahre hinweg, dass sie jedem Genre ihre eigene Signatur verleihen kann. 2004 begibt sich mit ihrem Film Hotel in die Welt des Horror- und Mystery-Genres. In ihrem 2014 erschienen Film Amour fou inszeniert sie einen tragischen Historienfilm. Mit Lovely Rita erschafft Jessica Hausner einen Coming-of-Age Film, der scheinbar unbedeutenden, zerstückelten Szenen aneinanderreiht, die letzten Endes die Protagonistin und ihr Umfeld ins Chaos stürzen. Schon bei ihrem 1995 erschienen Kurzfilm Florawagte sich Hausner auf das Territorium des Jugendfilm-Genres. Auch dort spielt das sexuelle Erwachen der jungen Teenagerin eine bedeutsame Rolle. Rita möchte ihre entdeckte Sexualität anhand zwei weit auseinanderliegender Extrema ausleben. Einerseits sammelt sie erste Erfahrungen mit dem deutlich jüngeren Nachbarsjungen Flexi. Andererseits verführt Rita einen deutlich älteren Busfahrer.
Bei den Darstellenden in diesem Film handelt es sich ausschließlich um Laiendarsteller_innen, die zuvor keine Erfahrung mit Schauspiel hatten. In einem Interview mit der Austrian Film Commission erklärte Hausner, dass das Finden der richtigen Darsteller_innen und vor allem das Drehen eine regelrechte Herausforderung waren. Aber gerade dieser Einsatz von nicht-professionellen Darstellenden verleiht Lovely Rita den Charme des Unausgereiften. Dadurch wirken die Szenen so lebensecht und realistisch. Um sich von diesem brutalen Realismus zu distanzieren, setzt Hausner eine Vielzahl an schnellen Zooms ein, welche die Gesichter der Figuren in bestimmten Situationen hervorheben. 18 Jahre später greift Hausner in ihrem ersten englischsprachigen Film Little Joe wieder auf das Motiv des ruckartigen Zooms zurück.
Aber nicht nur die Kameraführung von Lovely Rita weist Parallelen zu Hausners weiteren Arbeiten auf, sondern die Protagonistin selbst ist eine Figur, die sich in allen Filmen von Hausner wiederholt. Alle Hauptcharaktere in Hausners Filmen sind Frauen, die sich sehr ähneln. Die weiblichen Figuren scheinen jedoch mit der Zeit und mit der angehäuften Erfahrung von Hausner immer reifer, selbstbewusster und erfahrener zu werden. Trotzdem sind alle Frauen ‒ sei es nun die an den Rollstuhl gefesselte Christine, die im spukenden Hotel arbeitende Irene oder die alleinerziehende Mutter und Wissenschaftlerin Alice ‒ ähnliche Charaktere, die in sich gekehrt, unauffällig und normal sind.
Ritas grenzüberschreitendes Verhalten und ihre Ausbruchsversuche aus ihrem bürgerlichen, katholisch geprägten Leben führen dazu, dass sie die ultimative Sünde begeht: Sie ermordet ihre Eltern. Das Ende bleibt offen, unkommentiert. Rita sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, speist ein Butterbrot und sieht fern; die automatische Zeitschaltung bringt die Lampe im Raum zum Erstrahlen. Rita dreht sich um, blickt durch einen Türrahmen, die Kamera zoomt nah an ihr ausdrucksloses Gesicht. Fast scheint es so, als würde sie lächeln. Den Zusehenden stellt sich nun die Frage: Was geschieht mit Rita? Jessica Hausner beantwortet diese Frage nicht. Auch in ihren darauffolgenden Arbeiten schenkt Hausner ihren Zuschauer_innen nicht die Befriedigung eines abgeschlossenen Endes. Bei Lourdes bleibt das Publikum im Ungewissen, ob die gelähmte Protagonistin, die bei einer Pilgerfahrt eine Wunderheilung widerfährt, am Ende des Filmes wirklich geheilt ist oder es sich dabei nur um eine vorübergehende Verbesserung ihrer unheilbaren Krankheit handelt. Mit Hotel hat Hausner auch ein Ende erschaffen, bei dem mehr Fragen als Antworten aufgeworfen werden.In Jessica Hausners ersten Arbeiten ist noch ein österreichischer, amateurhafter Flair enthalten. Auch der Zeitgeist der Dreharbeiten ist in ihren frühen Filmen aufgrund des niedrigen Budgets und der begrenzten technischen Möglichkeiten deutlich spürbar. Mit ihrem ersten Langspielfilm hat Hausner Motive, Themen und Figuren erschaffen, die sie in ihren folgenden Filmen ausgebaut und perfektioniert hat. Über die Jahre hinweg wurden Hausners Werke internationaler, ausgereifter, zeitloser. Einer damals erst 29-jährigen aufstrebenden österreichischen Regisseurin ist mit Lovely Rita ein provokanter Durchbruch gelungen.
Lovely oder verrückt? Jessica Hausners Lovely Rita im Fokus
Von Kristina Seher
Lovely Rita (2001) ist der erste Langspielfilm der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner. Die Handlung spannt sich um die Hauptfigur Rita, eine junge Wienerin. Sie stammt aus einer durchschnittlichen Familie, zu der sie ein sehr kaltes Verhältnis pflegt. Ihr Vater ist streng und ihre Mutter scheint keine eigene Meinung zu haben oder diese zumindest nicht zu äußern. Auch in der Schule passt Rita nicht dazu. Sie ist sehr ruhig, schüchtern und verhält sich im Gegensatz zu anderen Gleichaltrigen eigenartig. Ihre Außenseiterrolle begründet sich durch ihr unangemessenes Verhalten, aufgrund dessen sie von anderen ausgeschlossen wird. Paradoxerweise scheint sie genau dies aber bewusst zu provozieren.
Zu Anfang beginnt Rita mit kleinen Rebellionen, wie Schule schwänzen, aufzufallen. Zu Beginn sind ihre Grenzüberschreitungen für das Publikum (möglicherweise) noch nachvollziehbar, im Laufe des Films werden diese jedoch immer extremer und irrationaler. Das auffälligste Element ihrer Rebellion zeigt sich in ihrer Beziehung zu Flex, einem 2 Jahre jüngeren, kranken Jungen, der sich in kurzer Zeit zum wichtigsten Menschen in Ritas Leben entwickelt. Zunächst führen sie ein unschuldiges, freundschaftliches Verhältnis und genießen die Nähe zueinander, bis ihre Beziehung schließlich eine unangemessene sexuelle Wendung nimmt. Schließlich geht Rita dann so weit, den kranken Sohn zu entführen, nachdem die Eltern von ihrem sexuellen Verhältnis erfahren haben und ihnen den Kontakt verbieten. Ritas Verhalten wird letztendlich immer weniger nachvollziehbar und endet damit, dass sie ihre Eltern erschießt.
Auffällig an Ritas Charakter ist, dass sie keine ihrer Handlungen zu bereuen scheint. Das anfängliche Mitleid für sie schwindet, nachdem sie immer mehr den Eindruck erweckt, völlig gefühlskalt zu sein. Einzig und allein Flex scheint ihr am Herzen zu liegen, wobei sie auch hier ihren eigenen Willen vor sein Wohl stellt, als sie mit der Entführung seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Dass die Schauspieler_innen in Lovely Rita Laien sind, begünstigt diesen Eindruck von Gefühlskälte zusätzlich.
Das Bemerkenswerteste an diesem Film ist jedoch, dass die Erwartungen der Zuschauer_innen bewusst gebrochen werden. Das Bedürfnis nach Erklärung und Rechtfertigung von Ritas Handlungen, was zu Beginn noch gelingt, fällt im Laufe des Films zunehmend schwerer. Auch die Dichotomie von Gut und Böse, von richtig und falsch, wird zunehmend aufgehoben. Der Film hinterlässt das Gefühl, nicht zu wissen, was nun die Moral der Geschichte war, obwohl man den ganzen Film über bewusst oder unbewusst nach einem tieferen Sinn gesucht hat. Lovely Rita erzeugt also eine gewisse Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit, und versucht nicht, die Erwartungen des Publikums zu befriedigen.
So verkörpert Rita zu Beginn des Films ein bemitleidenswertes, junges Mädchen, das von ihrem kalten, unnachgiebigen Umfeld geprägt und eingeschüchtert ist und sich möglicherweise nur nach Nähe und Zuneigung sehnt. Im Laufe des Films verwandelt sie sich jedoch in eine unberechenbare und irrationale Frau, die dem Publikum keine andere Wahl lässt, als die romantisierte Vorstellung von Rita und den Erwartungen an sie nach und nach aufzugeben.
Amour fou, The Lobster und die gesellschaftlichen Grenzen der Liebe
von Jakob Bierbaumer
Was braucht es für die Liebe? Dieser Frage und vielem mehr widmet sich Jessica Hausner in ihrem Film Amour fou (2014). Der Dichter Heinrich von Kleist will nicht mehr leben, er ist des gutbürgerlichen Lebens im Preußen des Jahres 1811 leid. Sein Traum ist es, mit einer geliebten Person gemeinsam zu sterben. Als er Henriette Vogel, die das klassische Biedermeier-Leben mit Mann und Kindern führt, kennenlernt, sieht er in ihr eine ideale Partnerin. Es beginnt ein Spiel aus Einbildung, Wunschdenken und der Suche nach dem, was man noch nicht hat.
Jessica Hausner skizziert in Amour fou die Biedermeiergesellschaft in starren Bildern. Die Kamera von Martin Gschlacht ist dabei so ruhig und gleichzeitig einengend, wie das Leben der beiden Hauptfiguren. Die Menschen platziert Hausner so in ihren Bildern, als wären es Gemälde aus dieser Zeit. Sie inszeniert dieses historische Ereignis allerdings ohne Anspruch auf geschichtliche Korrektheit und nimmt sich die Freiheiten einer filmischen Adaption. Gleichzeitig greift sie auf den Briefverkehr der beiden Personen zurück und gestaltet die Dialoge im selben Stil. Der Film kann durch seine Sprache, sowohl der Worte als auch der Bilder, starr und künstlich wirken. Dieser Effekt ist jedoch gewollt und legt gekonnt die Rahmenbedingungen einer konservativen und gefühllosen Gesellschaft offen, der die Protagonisten zu entfliehen suchen.
Die Liebe zweier Menschen im Rahmen einer Gesellschaft, die diese Liebe strukturell verhindert, ist kein seltenes Motiv in der Filmgeschichte. Zwei Jahre nach Amour fou erschien Yorgos Lanthimos Film The Lobster (2015), der von einer Welt handelt, in der das Single-Leben als schlimmstes Übel angesehen wird. In der Stadt dürfen sich nur Paare aufhalten und alle Singles kommen in ein Hotel, in dem sie 45 Tage Zeit haben, ein_e Partner_in zu finden, ansonsten werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Die Parallelen zu Amour fou sind klar ersichtlich. Beide Filme verhandeln eine Beziehung in ihrem gesellschaftlichen Kontext, bei Amour fou ist es eine historische Epoche und bei The Lobster eine Dystopie.
Auch The Lobster wirft die Frage auf, was es für die wahre Liebe braucht und was wir alles bereit sind zu tun, um diese Liebe zu bekommen. Lanthimos inszeniert seinen Film jedoch mit viel Dynamik, Gewalt und dominanter Musik. Hausner hingegen gestaltet die Bilder ohne extradiegetische Musik, mit viel Ruhe und durchdachten Figurenanordnungen, die den Fokus auf das Verhalten der einzelnen Menschen legen. Es schleicht sich das Gefühl ein, dass die Figuren den komplex strukturierten Bildern ebenso wenig entkommen können, wie das Publikum. Wer es dennoch schafft, aus dem Hotel oder dem Biedermeier-Leben zu entkommen, findet sich jedoch schnell in einer ähnlich strukturierten Welt wieder. Denn eine einzige Gemeinsamkeit ist scheinbar noch keine Liebe.
Das Thema, das die beiden Filme verhandeln, ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung und Hausners Film hat einiges über die heutige Zeit zu sagen, auch wenn er im 19. Jahrhundert spielt. So kann man ihren Film durchaus als feministisches Plädoyer und als Gegenstimme zur männlichen Vorherrschaft lesen. Ambivalent bleibt die Geschichte durch Figuren wie Henriettes Mann, der sie nicht unterdrückt, sondern ihr die Freiheit lässt, mit wem sie wie leben möchte. Bei The Lobster ist die Botschaft ebenfalls ambivalent, der Film lässt sein Ende sogar offen. Das Liebespaar hat sich zwar gefunden, aber es scheint auch hier so als wäre es eine keine echte Liebe. So wie Amour fou lässt The Lobster die Zuseher_innen mit der Frage zurück, was sie selbst als Liebe definieren und wie das Konzept der Liebe in unterschiedlichen Zeiten konstruiert wird.Beide Filme zielen nicht auf eine eindeutige Botschaft ab, sondern stellen die Ambivalenz der behandelten Materie selbst ins Zentrum der Verhandlung. Diese Tendenz lässt sich im gesamten Filmschaffen von Jessica Hausner wiederfinden. Sie forciert gekonnt die Uneindeutigkeit und lässt Dinge im Raum stehen, damit die Zuseher_innen sie betrachten. Diese Uneindeutigkeit ist auch eine große Stärke von Amour fou, da sie die Welt plausibel erscheinen lässt und außerdem zu einer tiefergehenden Reflexion anregt. Am Ende bleibt die Frage, was es für die Liebe braucht.
Die Liebe nach dem Tod
von Nikodemus Murnberger
„Etwas zu lesen was einem selbst nie widerfahren möchte, was man aber dennoch umso gieriger sich vorzustellen sucht“ – solche Wünsche sollten mit Bedacht geäußert werden, vor allem wenn die Einbildungskraft in der Lage ist den eigenen Körper zu manipulieren. Henriette, die preußische Vorzeigefrau aus Amour Fou (2014) lebt ihrem Mann untergeordnet. Sie selbst akzeptiert dieses Schicksal – ihre Phantasie, ihr Unbewusstes und schließlich auch ihr Körper sehnen sich jedoch nach einer Veränderung.
Es sind Heinrich von Kleists Gedichte, die sich in Henriettes Gedankenwelt einnisten, in ihr eine emotionale Umwälzung verursachen und sich schließlich in einem Geschwür abzeichnen. Kleists Weltbild ist radikal und destruktiv: Seinem Verständnis nach muss die Liebe zu einer anderen Person wichtiger sein als das Leben selbst, und verlangt stets nach Gegenliebe, sonst erlischt die eigene. Seine Intention ist es eine Partnerin zu finden, mit der er sich durch den gemeinsamen Tod für die bedingungslose Liebe opfern kann. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch seine Schwester zum kollektiven Selbstmord zu überreden, versucht Kleist sein Glück bei Henriette. Er gibt ihr zu verstehen, dass sie in Wirklichkeit einsam, ungeliebt und unglücklich ist und nur wenige Stunden später erlebt sie ihr erstes körperliches Gebrechen. Ihr Körper versteht nun, dass Henriette das Leben einer untergeordneten Frau lebt, ihr Kopf aber hält diese Erkenntnis noch in ihrem Unbewusstsein verschlossen. Doch je stärker ihr Leiden voranschreitet, desto besser blickt sie durch ihre illusionierte Welt hindurch und erkennt langsam alle Unwahrheiten, an die sie vorher geglaubt hatte. Hausner verleiht dieser dramatischen Geschichte eine ironische Würze, indem sie für das ‘todbringende’ Geschwür die Einbildung selbst verantwortlich macht. Nur weiß Henriette jedoch nicht ob sie in Wirklichkeit krank ist oder sich ihren Zustand nur einbildet. Das resultierende Spiel aus Einbildung, Perspektivenwechsel und Realität selbst lehrt uns, dass die Illusion so wirklich sein kann wie die Wirklichkeit selbst.
Während die einzelnen Charaktere versuchen den Sinn ihres Lebens und der Liebe zu begreifen, können wir ihrem vornehmen Habitus und ihren dichterischen Gedankengängen lauschen. So erlaubt die Poesie der Sprache mehrere Assoziationen mit dem Sinn des gesprochenen Wortes. Indes gleicht die malerische Ästhetik einer Galerie aus komponierten Bildern, in denen jede Figur einem festen Platz zugewiesen ist. So werden sie visuell in ihre gesellschaftlichen Normen eingeschlossen und bewegen sich auch nur dann, wenn es ihnen ihre Choreographie erlaubt. Durch den lakonischen Schauspielstil wird die Emotionslosigkeit in der abstrakten und scheinbar abgeschotteten Welt unterstrichen. Deren statische Inszenierung im Raum entspricht ihrer Gefangenschaft im preußischen Palast – trotz allen Reichtums, stets nur Tristesse. Man könnte schon meinen die Figuren seien zu statisch in ihre festgefrorenen Normen inszeniert, jedoch umso größer ist die Dynamik in der philosophischen Bandbreite ihrer Dialoge. So führt uns Hausner anhand widersinniger Konversationen die preußische Kritik an der Gleichheit und der Freiheit vor Augen, damit wir erkennen wie irrational es sei über Grundrechte zu streiten. Hausners Philosophien, die sie mit Amour Fou anzureißen versucht, sind vielseitig und vor allem durch die Vorzüge der literarischen Sprache möglich. So verkündet sie ihre Sichtweise auf tiefgründige Existenzfragen des Menschen: Sie ordnet die Wirklichkeit der Illusion unter, setzt Freiheit und Gleichheit voraus und erweitert das Leben durch die Liebe nach dem Tod. Zu guter Letzt gesteht sie sogar ihre Vorstellung von der Liebe – diese sei nämlich nur ein individuelles Erlebnis.
Die zwei hier besprochenen Werke spielen beide an erzreligiösen Schauplätzen. In Lourdes (2009) leuchtet der Pomp des Katholizismus in Form von Neon-Marienstatuen und goldenen Kruzifixen. Im unwirtlichen, schottisch-calvinistischen Küstendorf, in welchem sich die Geschichte von Breaking the Waves (1996) zuträgt, ist jegliche Zierde und Glorifizierung einem spartanischen und karg-verbissenen Glaubensbekenntnis gewichen. Vor allem auf inhaltlicher Ebene finden sich viele Gemeinsamkeiten, die nahelegen die beiden Filme als zwei Seiten derselben Medaille zu lesen. Während Lourdes die Desillusion und die Erwartung der Zuschauer_innen intelligent in der Schwebe hält, lässt von Trier’s Anti-Märchen sein Publikum bis auf den letzten Tropfen ausbluten, um es am Ende kathartisch zu erlösen.
In beiden Fällen gelingt das Kunststück primär aufgrund der jeweils grandiosen, schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin: Emily Watson, die in Breaking the Waves die vermeintlich naive Bess spielt, trat damit als absolute Newcomerin aufs internationale Parkett und heimste gleich mehrere Preise, plus eine Oscar-Nominierung ein. Die bereits hochdotierte Sylvie Testud erhielt für ihre Verkörperung der Multiple-Sklerose-Patientin, Christine in Lourdes den Europäischen Filmpreis. Watson und Testud verkörpern in ihren Rollen unterschiedliche Formen des Martyriums. Was uns auf einen basalen, gemeinsamen Nenner der beiden Filme bringt: Carl Theodor Dreyer’s La passion de Jeanne d’Arc. Dieser stellt einen der gewichtigsten Archetypen des weiblichen Opfers im europäischen Kino dar. Sowohl Lourdes als auch Breaking the Waves rekurrieren gleichermaßen auf dieses Schlüsselwerk aus dem Jahr 1928.
Beginnen wir mit dem älteren der beiden Filme, Breaking the Waves: Noch vor dessen Veröffentlichung1996, hatten diedänischen Filmemacher Lars von Trier und Thomas Vinterberg ihr Manifest zur radikalen Erneuerung des Films, das Dogma 95 verlautbart. Obwohl das schwer einzuordnende Werk, Breaking the Waves, z.B. hinsichtlich seines naturalistischen Duktus (für die Kamera zeigt sich der legendäre Robby Müller verantwortlich) Dogma-Züge aufweist, wird er insgesamt nicht dieser Gattung zugeordnet. Er stellt jedoch offiziell den ersten Teil aus von Triers „Golden-Heart“-Trilogie dar, in welche sich später auch Idioterne(1998) undDancer in the Dark(2000)einreihen sollen. Die Handlung spielt im streng-protestantischen, maritimen Schottland der 70er-Jahre. Die junge, liebenswürdige, aber auch etwas eigene Bess heiratet den Gemeinde-externen Bohrinsel-Arbeiter Jan. Dies geschieht unter zögerlicher Billigung der dogmatischen Dorfältesten. Bei der Trauung fällt auf, dass sogar die Glocken am Dorf-Kirchturm aus Überzeugung entfernt wurden. Als Jan saisonbedingt kurz nach der Eheschließung das Dorf und Bess in Richtung der Bohrinsel verlassen muss, fällt seiner zurückgelassenen Braut das Leben ohne ihn sehr schwer. So betet sie inbrünstig zu Gott, er möge ihr den Gemahlen bald zurückbringen. Auf unerwartet unglückliche Weise geschieht wie von ihr verlangt: Jan muss nach einem schweren Betriebsunfall, mit schwerer Lähmung aufs Festland gebracht und im Spital geborgen werden. Bess wähnt sich und ihre Gespräche mit Gott verantwortlich dafür. In der Folge entsteht eine Abwärtsspirale, in welcher der schwer medikamentierte Jan versucht Bess emotional von sich wegzustoßen. Nach verdrehter Logik treibt er seine Frau in die Arme fremder Männer: er behauptet, es hielte ihn körperlich am Leben, wenn sie ihm vom Sex mit Anderen berichte. Die mädchenhafte und gutherzige Bess nimmt das Unsägliche auf sich, und gerät sowohl in kommunale Ungnade, als auch in große Gefahr beim Versuch Jan auf diese magische Weise zu retten. Die Geschichte von Bess ist selten schwere Kost. Dass der Film, ästhetisch gesehen, körnigen Realismus und Kitsch konterkariert, macht die Mischung dabei nur noch explosiver. Von Trier stellt einer verhärteten und brutalen Wirklichkeit eine magische Ebene entgegen. Unter anderem, verweisen die, von Per Kirkeby kolorierten, bewegten Landschaftsgemälde auf etwas immanent Zauberhaftes. Diese lumineszenten Panoramabilder unterteilen den Film in Kapitel und ragen zunehmend, wie Inseln des Trosts, im unheilvollen Verlauf der Narration auf. Nur die Protagonistin scheint im Kontakt mit diesem Leuchten zu stehen. Von Trier lässt das Publikum aber im Ungewissen, ob die Vorstellung dieser Magie, nicht sogar die tragischste Fehlleitung religiöser Verblendung überhaupt sei. Bess McNeill ist dabei eine Märchenfigur, die nicht Sittlichkeit, sondern genuine Unschuld in sich trägt. Sie martert diese Unschuld aus einem für ihre Mitmenschen unsichtbaren Grund, eine übergeordnete Kraft, die zügellos und an sich unmoralisch ist: die Liebe. Man könnte Breaking the Waves Sentimentalität und Plakativität unterstellen. Unterm Strich muss man den Juroren von Cannes jedoch beipflichten, welche den Film 1996 mit dem Grand Prix bedachten. Dem dänischen Regie-Enfant-Terrible ist mit Breaking the Waves ein dramaturgisch zwingendes und epochales Werk gelungen, welches bei genauerer Betrachtung etwas Enigmatisches aussagt.
Nun, Lourdes spricht Ähnliches auf einer etwas subtileren Ebene an: Man leidet hier nicht gleichermaßen stark mit dem Figuren mit, wie bei Breaking the Waves – und trotzdem zeugt Jessica Hausners preisgekröntes Drama im Ton von höchster Konsequenz und Empathie. Lourdes reiht sich, stilistisch nachvollziehbar, ins österreichische Kino der letzten zwanzig Jahre ein. Hausners Film verfügt aber zusätzlich über Nuancen und eine Offenheit, welche die Beiträge eines Haneke oder Seidl, öfter haben vermissen lassen. Lourdes führt uns, dem Namen nach, an den französischen Wallfahrtsort, an welchem nebst dem täglichen Betrieb rund um Seelsorge und Betreuung, im Ausnahmefall auch Wunderheilung in Aussicht gestellt wird. De facto schöpft die südfranzösische Stadt ihre Anziehungskraft aus dem Versprechen des Wunders. Die historische Marienerscheinung prägt seit 1858 Lourdes‘ Mythos und weiht es zur heiligen Stätte der Gnade. In Hausners semi-dokumentarischen Porträt (es durfte am Originalschauplatz gedreht werden), offenbart dieser Ort zuerst einmal einen schmerzhaften Zusammenprall: jugendliche Unbeschwertheit trifft auf die Schwere der körperlich Eingeschränkten. Das Interesse der jungen Hilfsschwestern gilt in erster Linie dem Flirt mit ihren attraktiven Malteser-Kollegen, und nicht den „Bedürftigen“. Die Betreuung wirkt in ihrer Abwicklung irritierend pragmatisch.
Es wäre ein Leichtes für Hausner gewesen, Lourdes bei einer subtilen Religionskritik, bzw. Kritik am Geschäft mit der Hoffnung, bewenden zu lassen. Gerade ein eher atheistisch eingestelltes Publikum wird das Phänomen Lourdes a priori verurteilen und sich dessen Dekonstruktion angeregt mitansehen. Doch die Darstellung welche Hausner bietet ist vielschichtiger und urteilt nicht. So gelingt Hausner die gegenseitige Aufhebung des Sakralen und Weltlichen. Die an Multiple Sklerose erkrankte Protagonistin, Christine (großartig minimalistisch verkörpert von Testud) steht eines Nachts aus ihrem Bett auf und kann wieder gehen. Plötzlich steht ihr alles offen: sie wird gefeiert, ihr wird allseits applaudiert und sogar der umschwärmte Malteser Max verliebt sich in die von Gott Gestreifte. Doch auch die Schlechtigkeit der Menschen zeigt sich in der gegebenen Situation. Die Neider_innen stecken ihre Köpfe zusammen. Es wird gelästert und erörtert, weshalb ausgerechnet die wenig devote Christine Gottes Gnade erfahren sollte. Einige Besucher_innen und Mitarbeiter_innen fangen gar an an Gott zu zweifeln; andere scheinen dessen Tragweite und somit die wahre Bedeutung von Lourdes nun erst zu erraten.
Doch es wäre kein Jessica Hausner Film, wenn nicht am Ende der Schrecken aufwarten würde: bei der Kür, dem eng umschlungenen Tanz Christine’s mit Max, bricht „die Geheilte“ vor der gesamten Gästegesellschaft wieder zusammen. Die Art und Weise wie sich Sylvie Testud danach in ihren Rollstuhl zurück begibt, hat etwas zutiefst Sublimes. In dieser leisen Schlussszene und der damit getroffenen Aussage, unterscheidet sich Lourdes nicht nur von Kollegen wie Haneke und Seidl, sondern auchsignifikant von anderen Filmen aus dem Hausner-Oeuvre (wie Hotel(2004) oder Amour Fou(2014)). Es gelingt der Regisseurin hier, die Theodizee-Frage auf interessante Weise zu stellen. Hausner lässt offen, ob Christine’s temporäre Heilung nur ein Effekt der Bühnenmaschinerie Lourdes war, ob alles den Launen eines kosmischen Marionettenspiels geschuldet oder ob es letztlich nicht doch, schlicht selbst suggestiver Wille war, welcher die Kranke aus ihrem Rollstuhl erhob. Von Trier hingegen enthüllt die Fäden seines Marionettenspiels dezidiert in der letzten Sequenz von Breaking the Waves. Nachdem die Heldin Bess bereits einen schändlichen Tod erlitten hat, kommt die nicht mehr erwartete Heiligsprechung spät, aber nicht nie: bei der inoffiziellen Seebestattung Bess‘ durch ihren tatsächlich wieder genesenen Geliebten, Jan, läuten endlich die Glocken im Himmel.
Warten auf Wunder
Von Henri Höbel
Die ersten Bilder von Lourdes (2009) zeigen Malteserschwestern in ihren traditionellen Uniformen, wie sie Rollstuhlfahrer_innen in einen Speisesaal schieben und humpelnde Senior_innen auf ihre Plätze weisen. Dazu hört man Ave Maria, während die Kamera ruhig und bewegungslos das Geschehen abbildet. Selbst wenn man vorher noch nie vom Wallfahrtsort Lourdes im Südosten Frankreichs gehört hat, wird einem ab der ersten Szene von Jessica Hausners Film klar, dass der Ort religiöse Bedeutung hat.
Der Film ist keine Dokumentation über den Ort, an dem vor circa 160 Jahren ein Junge eine Marienerscheinung gehabt haben soll, sondern ein Spielfilm mit nahezu dokumentarischen Szenen. Er zeigt leidende, auf Besserung hoffende Menschen und ihre Isolation. Die Protagonistin des Films ist die im Rollstuhl sitzende Christine (Sylvie Testud), die hofft, vom Wasser der heiligen Quellen geheilt zu werden. Sie begibt sich zum wiederholten Male auf eine Pilgerfahrt in der Spekulation auf Heilung, wirkt aber im Gegensatz zu den Menschen in ihrer Umgebung nicht so, als würde sie noch an ein Wunder glauben.
Den Blicken, denen sie, an den Rollstuhl gefesselt, ausgesetzt ist, begegnet Christine mit Schweigen und melancholischer Introvertiertheit. Sie ist nicht die Einzige, die unzufrieden scheint. Auch ihre schweigsame Betreuerin Maria (Léa Seydoux) verrät durch ihre traurige Miene, dass sie unglücklich ist. Sie lächelt nur, wenn ihr einer der männlichen Maltesterhelfer (Bruno Todeschini) einen Blick zuwirft. Für den Malteser scheint sich jedoch auch ihr Schützling Christine zu interessieren. In Lourdes ist Maria gelandet, weil sie mal etwas „Anderes“ machen wollte; wichtig sei ihr ein „Sinn im Leben“, wie sie Christine anvertraut. Die im Schweigen versteckte Unzufriedenheit und Nicht-Kommunikation darüber erinnert an die Beziehungen der Figuren in Filmen wie Michael Hanekes Der siebente Kontinent (1989). Auch der nüchterne Blick der unbewegten Kamera gleicht dem von Hanekes Filmen.
Die Sicht des Films auf das Geschehen am Wallfahrtsort ist aber nicht so neutral, wie es zuerst durch die Ruhe und Distanz der Kamera scheint. Vielmehr verdeutlicht der Film den absurden Gegensatz von Kommerz und Religion, dargestellt zum Beispiel durch das in Plastik abgepackte heilige Wasser der Quelle oder die Neonreklame für die Marienstatuen, die man als Souvenir kaufen soll. Am stärksten jedoch durch den Preis der „Pilgerin des Jahres“, den eine_r der Pilgernden zum Schluss überreicht bekommt. Dass der Film an den Originalschauplätzen der Pilgerstätte gedreht wurde, macht Hausners Werk authentischer, war jedoch natürlich, wie Hausner selbst erklärt hat, mit gewissen Auflagen verbunden: Eine gewisse Offenheit des Films gegenüber der Religion ist im Film erkennbar, auch die Frage nach der Wunderwirkung des Wassers wird letztlich unbeantwortet gelassen. Das macht das Ende des Films aber umso interessanter.
Hausner zeigt in ihrem Film, wie schon in Hotel (2004), dass sie sehr sorgfältig durchdachte Bilder komponiert. Durch die starre Kamera tritt die Dynamik der Menschengruppen, die sich durchs Bild bewegen, noch deutlicher hervor. Der starre Vordergrund und die Bewegung im Hintergrund vieler Bilder verleihen diesen eine spannende Tiefe. Der trockene Humor und kritische Blick Hausners zeigt sich in Szenen wie einem Diskotanz zu italienischen Schlagern, die in einem Film über einen Wallfahrtsort überrascht. Das hat etwas angenehm Erfrischendes und gleicht die Neutralität der Kameraperspektive aus. Der Film zeigt immer wieder, wie viel Missgunst mit der Erfahrung eines „Wunders“ verbunden sein kann und behält so einen realistischen Blick bei. Ein gutes Beispiel für Hausners Witz ist der Satz der Empfangsdame auf der Krankenstation, als eine Geheilte zu ihr gebracht wird: „Sie sind heute aber nicht die Einzigen.“
“Lourdes” – Eine Reise in die Tiefen unserer Seele
von Johanna Wölger
Planimetrische Bildgestaltung, bewegende Thematiken wie Glaube, Krankheit, Angst und eine starke, coole, selbstironische Hauptdarstellerin. Ein Pilgerausflug an den französischen Wallfahrtsort Lourdes und, dazu passend, eine zusammengewürfelte Pilgergruppe aus Österreich – Hausners Lourdes (2009) ist sowohl eine ästhetische als auch seelische Reise, die uns, ohne es beabsichtigen zu wollen, an tiefere Stellen unseres Selbst bringt.
Im Zentrum der Geschichte steht die an Multiple Sklerose erkrankte Christine, die sich zusammen mit anderen hoffnungsvollen Menschen auf eine Pilgerreise nach Lourdes begibt. Sie sitzt im Rollstuhl, kann weder Hände noch Füße bewegen und wird von Schwestern des Malteser Hilfsdienstes betreut. Das Interesse an Heilung ist bei den Pilgernden groß. Verschiedene religiöse Stationen werden durchlaufen, um jener wundersamen Genesung ein Stückchen näher zu kommen. Und tatsächlich: Protagonistin Christine erwacht eines Nachts – nachdem ihr die Jungfrau Maria im Traum erscheint – und kann plötzlich wieder gehen. Doch das Wunder führt zu neidischen Gefühlen anderer und auch Christine fragt sich, warum ausgerechnet sie kuriert wurde. Bis zum Ende bleibt unklar, ob es sich um eine endgültige Heilung oder eine bloße kurzzeitige Verbesserung der Krankheit handelt. Hausner lässt ihr Publikum somit im Unklaren. Damit eröffnet sie aber eine Welt der Interpretationen und das, obwohl ihr Film eigentlich von der anti-symbolischen Bedeutung lebt. Wir sehen Christine, wir sehen die Pilgernden, wir sehen die Schwestern und Begleiter_innen – wir sehen aber nicht, was sich hinter der oberflächlichen Fassade verbirgt, was im Inneren der Charaktere vorgeht. Und genau hier setzt die Fantasie des Publikums ein: Was denken die Personen? Was ist wirklich wichtig im Leben? Gesundheit, Liebe, Freiheit? Was bedeutet wahrer Glaube? Ist man glücklicher, wenn man gehen kann? Wird man mehr geliebt, wenn man gesund ist? Oder wird man mehr geliebt, wenn man zuerst krank war und dann gesund wird?
Die starre Kamera erfüllt eine gottähnliche Aufgabe: sie beobachtet, greift jedoch nicht ein. Die planimetrische Bildgestaltung dient dem stets präsenten Agnostizismus, wobei der Fokus dabei nicht auf einer einzelnen Person, sondern auf dem Kollektiv liegt. Totalen, durch die sich Menschen fußeln; Halbnahen, die ironische Gespräche zeigen und für Hausner typische Zooms, die gekonnt eingesetzt werden. Traditionelle Gegensatzpaare wie weiblich-männlich, krank-gesund, gläubig-atheistisch und dokumentarisch-fiktiv werden zuerst explizit voneinander getrennt, um anschließend aufgebrochen und aufgelöst zu werden. Besonders die weiblichen Figuren werden nicht als Frauen objektiviert, sondern als fühlende, denkende und agierende Menschen skizziert.
Lourdes gibt Hoffnung. Lourdes beschäftigt sich mit fundamentalen Fragen des Lebens und beleuchtet verschiedene Perspektiven auf Religion, Krankheit und den Ängsten davor. Lourdes gibt als „böses Märchen“ aber auch einen Einblick auf die Pilgerwelt und wirkt trotz des utopischen Wunders – oder vielleicht gerade deswegen, weil es so im Kontrast zu uns steht – völlig menschlich. Und spätestens hier wird bewusst, dass es dabei gar nicht um das Wunder selbst geht, sondern viel mehr um dessen Problematik; die Angst vor der Krankheit, die Angst vor dem Tod.
„I can handle the unpredictable.“ Das meint die Pflanzenzüchterin Alice zu ihrer Psychologin, als sie von ihrem neuesten Erfolg redet. Ihr neuester Erfolg ist nämlich eine Pflanze, welche ihre Besitzer_innen glücklich machen soll. Durch regelmäßiges Wässern, Wärme zuführen und gutes Zureden fühlt sich die Pflanze geborgen, empfindet Liebe und bedankt sich mit der Freisetzung ihres Duftes, welches Oxytocin beinhaltet. Oxytocin, erklärt Alice dem Gremium, das sich die Pflanze für den bevorstehenden Wettbewerb ansieht, ist ein sogenanntes Mutterhormon, welches das Band zwischen Mutter und Kind festigt. Wie stark sich dieses zwischen Pflanze und Besitzer wirklich festigt wird im Verlauf des Filmes fraglich. Durch das Jinxen, welches Alice bei ihrer Psychologin vollzieht, trifft genau das zu, gegen was sie sich durch das Klopfen auf Holz beschützen will: das Unvorhergesehene.
An ihrem eigenen Sohn wird klar, wie sehr der Schein trügt. Denn die Schönheit der Blüten können nicht über deren Gefährlichkeit hinwegtäuschen. Als Geschenk bringt Alice ihm die Blume nach Hause und benennt sie sogar nach ihm. «Little Joe». Wenig später stellt Alice fest, dass sich das Verhalten ihres Sohnes kontinuierlich verändert. Er scheint glücklich. Ob seine Verhaltensänderung auf den Duft der Blume rückzuschließen ist, oder Joe einfach eine pubertäre Phase durchmacht bleibt schleierhaft. Aber auch an den Arbeitskollegen merkt Alice, dass der Kontakt mit der Blume nicht spurlos an ihnen vorbeizieht. Allen voran Bella, eine Wissenschaftlerin, die der Überzeugung ist, dass die Pflanze aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit Rache nehmen will. Doch eine Nacht im Gewächshaus, den Duftstoffen der roten Blüte ausgesetzt, lässt Bella mit einem Lächeln im Gesicht all ihre Zweifel dem Gewächs gegenüber fallen. Und trotzdem: Man ist sich nie vollständig sicher, wem man Glauben schenken darf und was man glauben soll. Mit dem spielt Jessica Hausner allgemein gerne, mit der Unsicherheit. Auch in ihren vorangegangenen Filmen herrscht Ungewissheit. Man befindet sich auf einer ständigen Gratwanderung zwischen dem Unterbewusstem und dem Offensichtlichem, wobei sich solche Momente wie ein roter Faden durch den Film ziehen.
Diese Ambivalenz wird auch durch die Musik des verstorbenen japanischen Komponisten Tejij Ito unterstrichen. Die Sterilität des Labors wird durch ein Pfeifen untermalt, das im Publikum Unwohlsein auslöst. Eine Art Warnzeichen, dass etwas mit den Pflanzen nicht in Ordnung sein kann. Zusätzlich suggeriert aggressives Hundegebell die Größe der von der Pflanze ausgehenden Bedrohung. Im Kopf aufsteigende Bilder von gebleckten, Speichel triefenden Reißzähnen vermischen sich mit den auf der Leinwand ersichtlichen, scheinbar betörenden Blütenblättern. Somit wird dem Film durch die Soundeffekte etwas Künstliches, fast schon Abgestorbenes, gegeben. Als befinde man sich in einer Geisha- oder Theater-Vorführung, bei der nichts so ist wie es scheint.
Das Künstliche zeigt sich auch in den knalligen Farben der Einrichtung, der Kleidung und den Plastikverpackungen des Essens. Genau diese synthetischen Aspekte geben den Anschein, man befände sich in einem futuristischen Setting. Aber auch da grüsst wieder die Widersprüchlichkeit, denn das knallige Bühnen- und Kostümbild schreit 70er Jahre. Nur die wortkargen Dialoge wirken durch ihre Aussparungen authentisch. Auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn scheint herzlich und warm. Erst die Blume entzieht der Beziehung nach und nach jegliche Nähe, bis zu dem Grad, dass der Sohn seine eigene Mutter nicht mehr auf der Straße erkennt. Und auch da lässt uns Hausner in Ungewissheit: Der Sohn schreibt die Wahrnehmung der Mutter als Hirngespinst ab und meint sachlich und bestimmt, sein Verhalten sei eben normal für sein Alter. Ob die Blume nun der wahre Übeltäter ist, oder ob die Mutter ihre unausgesprochenen Sehnsüchte nach Freiheit auf ihren Sohn und dessen eigenartige Beziehung mit der Pflanze abwälzt, bleibt unbeantwortet.
Hausner schafft es mit ihrem neuen Film Verwirrung und Beklemmung ohne explizite Inhalte hervor zu rufen. Immer auf der Hut, nie ganz schlüssig, ein Horror-Erlebnis ohne Gemetzel. Und trotzdem liegt dem Schluss eine scheinbar eindeutige Interpretation auf. Durch die kleine, aber bedeutende Anwesenheit der Pflanze in dem Büro der Psychiaterin erhält sie den endgültigen Stempel des Bösewichts. Ein Bösewicht, ähnlich wie ein Virus, welcher sich allmählich verbreitet und sich in immer mehr Köpfen einnistet. Durch die schlussendlich fehlende Ambivalenz büßt der Film seine großartige Unvorhersehbarkeit ein, welche sich normalerweise immerwährend durch Hausners Filme und deren Enden zieht.
Die Pflanze in Jessica Hausners Jurassic Park
Von Dennis Ritter
Jessica Hausners Science-Fiction-Drama Little Joe (2019) transferiert bekannte Prämissen aus der filmischen Kreidezeit in die Moderne – ackert sich dabei aber stellenweise an den Reliquien vergangener Zeiten zugrunde.
Die Idee zum Film ist in der Filmografie von Hausner erfrischend und entfernt sich auf den ersten Blick von ihren bekannten Pfaden. Alice (Emily Beecham) ist im doppelten Sinne eine alleinerziehende Mutter: Sie kümmert sich voller Fürsorge um ihren Sohn Joe (Kit Connor) und er ist der Mittelpunkt ihres Lebens. Doch dann ist da noch ihr zweites „Baby“, die genetisch gezüchtete Pflanze „Little Joe“ – benannt nach ihrem Sohn. Alice arbeitet als Pflanzenzüchterin bei Planthouse Biotechnologies, die daran forschen, eine genetisch mutierte Pflanze zu erschaffen, die glücklich macht. Sie und ihr Kollege Chris (Ben Whishaw) betreuen die roten „Little Joe“-Pflanzen. Abseits der Arbeit bahnt sich zwischen Chris und Alice eine romantische Beziehung an, als es auf der Arbeit zu beunruhigenden Entwicklungen kommt: Bella, eine Kollegin von Alice und Chris, äußert den Verdacht, dass die Pflanze extrem gefährlich sei. Eine schwierige Situation für Alice, da ihr gesamter beruflicher Erfolg an diesem Projekt hängt und sie sich nicht erlauben kann, dass es zu Komplikationen mit der Pflanze kommt. Gleichzeitig muss sie die Gefahr dennoch ernst nehmen, da sie eins der Exemplare heimlich entwendet und es ihrem Sohn geschenkt hat.
Die Idee, die dieser Handlung zugrunde liegt, ist spannend und fühlt sich zeitgemäß an. Das Thema Genmanipulation war in den vergangenen Jahren regelmäßig in den Medien präsent und stößt immer wieder den Gedanken an, wie weit die Menschen in ihrem eigenen Schöpfungsprozessen gehen dürfen. Zur Darstellung dieses Gedankens bedient sich Hausner eines cineastischen Meilensteins, mit dem bereits in den 90ern gezeigt wurde, was dabei herauskommt, wenn die Menschen „Gott“ spielen wollen: Steven Spielbergs Jurassic Park(1993). In diesem hatte der Multimilliardär John Hammond ebenfalls eine gut gemeinte Vision: Einen Freizeitpark mit „echten“ Dinosauriern, um die Menschen zu begeistern, sie glücklich zu machen. Seine Kreation widersetzte sich den Fesseln ihres Schöpfers, brach aus und bedrohte alles Leben, was ihr im Weg stand – sinnbildlich ausgedrückt durch den ausgebrochenen T-Rex. Für Hausner ist die „Little Joe“-Pflanze dieser T-Rex; eine Gefahr, die im Verborgenen angreift und sich nach und nach die Menschen einverleibt. Beide Filme transferieren das Thema Genmutation in ein Horrorszenario und die Zuschauer_innen fiebern mit, ob die Figuren unbeschadet davonkommen.
Dass Jurassic Park einen prägenden Einfluss auf den Film hat, wird auch an anderer Stelle deutlich: Planthouse Biotechnologies ist der Überzeugung, ihre Schöpfung kontrollieren zu können. Sie ermöglichen der Pflanze keine natürliche Fortpflanzung. Der gleiche Ansatz wurde auch in Jurassic Park präsentiert, in dem alle erschaffenen Dinosaurier ein weibliches Geschlecht hatten. Die Population der Saurier sollte im Labor gesteuert werden. In beiden Fällen hat die Natur jedoch einen Weg gefunden, ihre eigenen Gesetze zu machen und zeigt, dass es Dinge gibt, die der Mensch lieber unberührt lässt. Ein wiederkehrendes Motiv in der Filmlandschaft, welches oftmals schlecht für die Vertreter der menschlichen Spezies ausgeht, so auch in David Cronenbergs Horrorfilm The Fly(1986): Dieser handelt von einem Wissenschaftler, der der Überzeugung ist, sich teleportieren und sich damit über die materiellen Grenzen seiner irdischen Existenz hinwegsetzen zu können.
Inszenatorisch und atmosphärisch ist Hausners Film aber ein ganz anderer als der actionreiche Jurassic Park. Die Bedrohung liegt im Stillen, der Horror findet im Verborgenen statt. Die Pflanze holt sich einen nach dem anderen, wobei nie wirklich klar ist, wer von den Menschen bereits ihr Opfer geworden ist. Denn diese bleiben augenscheinlich dieselben Personen, lediglich die veränderte Persönlichkeit gibt einen Hinweis darauf, dass es bereits zu spät ist. Diese Art der Erzählung erinnert an John Carpenters The Thing (1982) oder den 1978 erschienen Invasion of the Body Snatchers, in denen stets die Figuren nach und nach einer größeren Bedrohung zum Opfer fallen – ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel gegen einen scheinbar unsichtbaren Feind. Little Joe fühlt sich dadurch zwar in Hausners Filmographie nach etwas Neuem an, verliert dieses Innovative allerdings, wenn der Film in den gesamten filmischen Kosmos eingebettet wird. Die zahlreichen Bezüge und Parallelen zu anderen Filmen reduzieren die Spannung im Laufe des Films, da die Entwicklungen vorhersehbar sind. Die vielen interessanten Nebenhandlungen, die Hausner eröffnet, um ihre filmische Welt zu erweitern, werden ebenfalls am Ende des Films an der Seite liegen gelassen. Das hinterlässt ein Gefühl der Enttäuschung, wirken diese dadurch lediglich wie Täuschkörper, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer_innen fordern, das Mysterium des Films weiter aufbauschen, letzten Endes aber nichts anderes als eine uninspirierte Ablenkung sind. Trotz dessen macht Hausner in diesem Film vieles richtig und muss sich im internationalen Vergleich nicht vor den „Größen“ der Filmwelt verstecken. Vollkommen zurecht wurde ihre Hauptdarstellerin Emily Beecham bei den Filmfestspielen in Cannes als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Sie kann in der Rolle der innerlich verunsicherten Alice den Film alleine tragen. Hausner entwirft für ihre Alice ein eigenes Wunderland, eine auf den ersten Blick vollkommene und sorglose Welt, nur um diese dann zugrunde zu richten. Beecham verdeutlicht diesen Prozess durch den seelischen Verfall ihrer Figur und verschmilzt mit ihrer Rolle.
Das Drehbuch kann ihre schauspielerische Performance leider nicht sicher auffangen: In dem Moment, in dem ihre Figur beginnt, mehr und mehr fernab jeder Logik zu agieren, gerät der Film ins Straucheln. Speziell Filme, die sich so intensiv mit der Psyche ihrer Hauptfigur beschäftigen, brauchen eine logisch agierende Figur. Schließlich sollen sich die Zuschauer_innen in die Lage hineinversetzen können: Wir verstecken uns und fliehen vor dem gefährlichen T-Rex, wir überlegen, wer von dem Ding in The Thing besessen ist und wem wir trauen können und wir müssen uns in Alice hineinfühlen können, damit wir dieselbe Spannung verspüren, wenn wir rätseln, wie der Konflikt des Films zu lösen ist. Wenn genau diese Figur sich dann in der eigenen Wahrnehmung „falsch“ verhält, dann versperrt der Film jeglichen Zugang und es fehlt genau das, was diese Art Drama braucht: Eine Identifikationsfigur.
Ein Aspekt, der dann aber auf ganzer Linie begeistern kann, ist die technische Inszenierung in Little Joe. Hausner entfernt sich hier weit von ihren bisherigen Werken und zeigt, dass sie für dieses Filmprojekt deutlich mehr Budget hatte, als bei ihren vorherigen Filmen. Die Optik von Little Joe ist faszinierend und vermittelt das Gefühl, in den sterilen Weiten des Bildes zahlreiche Details entdecken zu können. Das beginnt bei den sehr kraftvollen Farben der „Little Joe“-Pflanze, die in jeder Szene ins Auge springen und sich wie wohlüberlegt gesetzte Akzente vom klinischen Gesamtlook des Films abheben. Generell ist zu erwähnen, wie grandios die Farbgestaltung des Films konzipiert ist: Ein sehr klares Weiß wechselt sich durchweg mit satten Farben ab. Die Kamera bewegt sich dabei ruhig und doch dynamisch durch die Settings, welche gerade in der Nacht zur Geltung kommen: Die rosa Beleuchtung ist wunderschön und wirkt wie eine Traumwelt – in Kombination mit dem Soundtrack des Films entspringt diese aber eher einem Albtraum. Und dieser Soundtrack ist das ganz große Highlight. Hausner jongliert hierbei zwischen einem angenehmen Rhythmus, der mit dem passenden Schnitt durch den Film gleitet und einer zu Ton gewordenen Hölle: Hohe Frequenzen, plötzliche Geräusche, Schreie und vieles mehr kreieren eine verstörende Klangkulisse, die einen in Angst und Schrecken versetzt. Eine Stimmung, die so sehr ins Mark der Zuschauer_innen geht, dass es egal ist, vor welcher Bedrohung sich versteckt wird: T-Rex, Körperfresser, Alien oder einer mordenden, kleinen Pflanze mit dem Namen „Little Joe“.
“Little Joe” Glück ist ein Geschäft Ein Film der in seiner Undurchsichtigkeit Knospe bleibt
von Lea Rizzi Ladinser
Eigentlich ist der Film in seiner Sprache sehr klar: es geht um die Blume, die die Welt verändern könnte, um Mutter und Sohn, um Arbeit und Ethik. Trotzdem, nach einigen Monaten des Wiederkäuens, des Reflektierens und darüber Sprechens bleibt der Film seltsam zweideutig und deshalb irgendwie unheimlich. Das Interessante, wenn man über Filme diskutiert, sind die dabei gewonnenen Eindrücke, die von Ablehnung, zu Ungläubigkeit ob der allzu glatten Oberfläche, bis hin zu tiefer Rührung reichen: „Wie ein Fernsehfilm vom Bayerischen Rundfunk…“ wurde da gesagt, oder „Ich weiß noch gar nicht wirklich warum, aber ich musste einfach weinen“. Andere waren einfach ganz still und wollten erstmal den Film auf sich wirken lassen.
Little Joe (2019) ist, wie alle Jessica Hausner Filme, ein bis ins Detail inszenierter Film, synthetisch und durchgeplant. Schon während der ersten Einstellungen denkt man an die heterotypischen Inszenierungen von Wes Anderson und seine perfekt abgestimmten Farbstimmungen. In Türkis und Orange-Rot gehaltene Akzente unterstreichen die futuristische Anmutung des Films. Es stimmt, durch die allzu glatte Ausleuchtung der Szenen wirkt der Film oft etwas flach und vielleicht alltäglich. Genau diese Lichtstimmung ist es aber, die die unheimliche Anmutung vieler Momente ausmacht. Man ist sich nicht sicher wann der Klimax der Geschichte stattfinden wird, erwartet das Schlimmste und bleibt später mit seinen unbehaglichen Erwartungen allein. Jessica Hausner Liebhaber_innen werden dieses Gefühl bereits kennen und sich gut darauf einlassen können. Ein ständiges Unwohlsein, ob der Gefühlskälte und Distanz der Protagonist_innen, ein Warten darauf, ob sich die Charaktere nicht doch noch öffnen und ihre Motive enthüllen. Interessant ist dabei die gleichzeitige Durchsichtigkeit vieler Szenen. Vieles, eigentlich mit Bildern darstellbares, wird wörtlich ausgesprochen und dem Publikum sehr offensichtlich serviert. Trotzdem: als Beobachter_in in der Ferne, oft von der Kamera hinter eine Glasscheibe, eine Tür oder ein Fenster gesetzt, darf man nicht ganz in die Geschichte eindringen.
„Little Joe“ und das Streben nach Glück
von Marlene Scheuch
Was ist Glück wirklich? Mit dieser Frage beschäftigt sich Jessica Hausners erster englischsprachiger Film Little Joe (2019) und der deutsche Zusatz „Glück ist ein Geschäft“ gibt auch sofort die Antwort darauf. So erinnert nicht nur die futuristische Handlung des Films, sondern auch die Wirkung auf sein Publikum an die ebenfalls britische Serie Black Mirror (2011-). Denn auch in Little Joe wird der Gesellschaft auf futuristische Weise ein Spiegel vorgehalten.
Im Zentrum von Hausners Science-Fiction Dramas stehen Wissenschaftlerin Alice und ihre neu entwickelte Pflanze „Little Joe“. Im Vergleich zu herkömmlichen Pflanzen benötigt sie außergewöhnlich viel Aufmerksamkeit. Diese wird jedoch belohnt, denn die Pflanze löst Glücksgefühle bei ihren Besitzer_innen aus. Im weiteren Verlauf des Films wird klar, dass „Little Joe“ weitaus größere Veränderungen bewirkt: Die anderen Pflanzen im Gewächshaus verwelken und auch der Hund von Alices Kollegin Bella ist plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. In Folge dessen werden einige Tests an Menschen durchgeführt, um zu sehen, ob „Little Joe“ Nebeneffekte hervorruft. Obwohl keine der Testpersonen allergische Reaktionen aufweist, bemerken die Angehörigen subtile Änderungen in den Persönlichkeiten der Testpersonen. Dabei bleibt es jedoch nicht nur bei den Testpersonen, sondern diese Änderungen in den Persönlichkeiten weiten sich auf Alices ganzes Umfeld aus und befallen schlussendlich auch ihren Sohn Joe. Alle infizierten Personen weisen außerdem einen großen Beschützerinstinkt gegenüber der Pflanze auf. Auch Alice, die es zu Beginn nicht wahrhaben wollte beginnt diese Änderungen zu bemerken und versucht ihre Pflanze zu zerstören. Schlussendlich wird jedoch auch sie infiziert und der Film endet mit einer Nominierung der Pflanze für einen internationalen Preis, was ihre Verbreitung nun endgültig unvermeidbar macht.
Der Film selbst beginnt mit einem unangenehm schrillen Ton, der sofort die Stimmung der nächsten 105 Minuten festlegt. Den Zuschauer_innen ist dabei klar, dass diese Glück bringende Pflanze etwas Düsteres an sich hat. Die Protagonist_innen tappen vor allem zu Beginn jedoch im Dunkeln und sind überzeugt von ihrer Kreation. Im weiteren Verlauf des Films tritt dieser Ton ausschließlich in Verbindung mit der Pflanze auf. Gleich zu Beginn fällt auf, dass die Hauptpersonen nicht die für Jessica Hausner typischen Charakterzüge aufweisen, sondern zugänglich wirken. In Hausners früheren Filmen zeichneten sich die Protagonist_innen vor allem durch Emotionslosigkeit und Distanziertheit aus. Alice hat jedoch ein etabliertes soziales Umfeld und obwohl sie sich in ihre Arbeit stürzt, hat sie soziale Kontakte und Menschen, die ihr etwas bedeuten. Alice erscheint nicht besonders extrovertiert, man sieht sie jedoch das ein oder andere Mal lächeln. Selbst der Dialog wird von ihrer Seite nicht absichtlich auf ein Minimum reduziert. Generell gibt es wenige Gemeinsamkeiten zu Hausners älteren Werken, denn auch ihren häufig verwendeten Themen der Rebellion und der Einsamkeit wird keine große Rolle im Film zugesprochen. Das hängt ebenfalls mit den Persönlichkeiten der Protagonist_innen zusammen. Die, für Hausner durchaus typische, trockene Erzählform fällt in Little Joe weg. Erst gegen Ende des Films erkennt man bei genauem Hinsehen eine Kamerabewegung, die als eine kleine Hommage an Lovely Rita (2001) gedeutet werden kann. Als Alice den Schrei ihrer Arbeitskollegin Bella wahrnimmt, wird sehr schnell auf Alices Gesicht gezoomt, eine Bewegung, die aus Lovely Rita nur allzu gut bekannt ist.
Bemerkenswert ist vor allem die dargestellte Mutter-Sohn Beziehung zwischen Alice und Joe. Schon in Alices Therapiesitzungen schlägt ihre Therapeutin vor, dass sie sich möglicherweise eine distanziertere Beziehung zu ihrem Sohn wünscht. Zu Beginn wirkt das sowohl für Alice als auch für das Publikum nahezu absurd, denn objektiv betrachtet haben sie eine sehr enge Beziehung. Im Verlauf des Films erscheint diese Vermutung jedoch immer plausibler und man denkt zurück an die erste Szene der beiden. Man beobachtet sie dabei beim Essen, wobei sich die Personen gegenübersitzen und durch den zwischen ihnen liegenden Vorhang getrennt werden. Man könnte sich dabei nun fragen, ob mit dieser Trennung der weitere Verlauf des Films schon vorhergesehen wird. Sollte die Hypothese der Therapeutin nun stimmen und Alice wünscht sich tatsächlich mehr Distanz von ihrem Sohn, bekommt Alice nun am Ende doch ihr Happy End? Führt die Pflanze tatsächlich nur ihre Pflicht aus, ihre Besitzerin glücklich zu machen, indem sie diese Distanz verursacht?
Hausner schafft es mit Little Joe nicht nur ein Unbehagen herzustellen, indem man die wachsenden Selbstzweifel der Protagonistin verfolgt, sondern bringt auch die Zuseher_innen selbst dazu, an ihrem Verstand zu zweifeln. Alice erwähnt eingangs, dass sie echte Gefühle einer „Fake Happiness“ vorzieht und der gleichen Meinung ist das Publikum. Doch gerade durch die Subtilität der Persönlichkeitsänderungen wird man als Zuschauer_in aus objektiver Perspektive misstrauisch. Vor allem Alices Aussage, dass keine Viren auf der Pflanze gefunden wurden trägt zu diesem Misstrauen bei. Ist „Little Joe“ nun gefährlich oder nicht? Auch Alices Persönlichkeitsänderungen sind so subtil, dass man sich nie ganz sicher sein kann, ob es sie nun tatsächlich gibt, oder ob man ihr doch vertrauen kann und tatsächlich keine Viren auf der Pflanze gefunden wurden, wie sie gegen Ende des Films behauptet. Antworten darauf werden keine geboten. Little Joe lässt sein Publikum schlussendlich mit unzähligen Fragen zurück und sorgt so für ein Filmerlebnis, das so schnell nicht vergessen werden kann.
One is to look back whilst moving forward, keep in step yet innovate – they demand hardness as shins break on wooden floors.
History and time seep through Levan Akin’s sophomore picture AND THEN WE DANCED (2019), a film about dance, love and tradition, perhaps in opposite order. In a time when the old is increasingly being labelled as outdated and formerly secure identities continuously lose their grounding, the public reaction to this film in its home country, Georgia, is symptomatic of the fear turned violence from those, who feel the world is leaving them behind. In advance of the premiere, multiple far-right and conservative groups proclaimed their intentions to stop the three national screenings, even going as far as saying they were prepared to take on police forces. They created a corridor of shame for audience members to walk through before entering the cinemas, burned pride flags and led nationalist and homophobic chants. But despite all this, they did not to succeed. All three screenings were sold out within minutes and the film is now being distributed in many countries for many more people to see.
Deep stillness: neither sounds
nor cries—
Like parent to child, my
Country told me little.
From time to time I heard an
anguished sigh,
Sobs while a Georgian man
slept and dreamt.
(Excerpt: Ilia Chavchavadze,
Georgian poet, Elegy, 1859)
Merab (Levan Gelbakhiani), a young man in Georgia who has been training
from a young age to become a professional traditional dancer, finds himself at
odds with his surroundings as he pursues an exploration of his sexuality, after
a new member joins his dancing troupe (Bachi Valishvili). The film takes the
audience from this starting point through the various steps and possible
missteps of navigating non-heterosexual desire in a deeply traditional country,
all the way to Merab’s final dance of empowerment. While this is not a traditional
dance film per se – there are neither dance offs nor complete performances –
dance is still integral to this film. It reflects values and tradition, values
Merab aspires to, despite being told multiple times he was ‘too soft’ for
traditional Georgian dance. This is one way history is trying to get hold of
him, another is through his absent father, a former dancer himself, who
discourages him to pursue this career altogether. Dangling in between multiple
points of discouragement, Merab lacks the clarity to find his
own path, illustrated
by the film through handheld
camera and a quick
disjointed editing style.
Over the course of the narrative, as Merab gives into his romantic desires, the
editing becomes steadier, the shots become longer, Merab finds his solid ground.
One must only compare the introductory and the closing dance sequence – the
former full of jump cuts and quick, sudden pans, the latter fluid and elegant
in its movement.
As his
sexuality is being involuntarily disclosed to his dancing group, this offers
the film the possibility to present the audience with different reactions by
his peers, ranging from outright instant marginalisation to initial shock
leading to loving encouragement. This beautifully culminates in perhaps the
greatest shot in the film. While most of the film is almost exclusively centred
around Merab – with many close-ups focused on him or the camera following
closely behind him as he moves – for maybe the only time in the film, the
camera breaks loose during a wedding celebration and freely roams the party in
a long dolly shot, being witness to a sequence of images, which equate to the
most sobering love letter to the Georgian nation: a banquet of food, a group of
men fighting, a dancing bride, and in the background, seen through a window, Merab’s female dancing partner chasing after him and
mending former wounds — in other words, tradition, violence, beauty and
kindness, all contained within one shot.
Furthermore is to mention how the film elegantly connects
Merab’s sexuality, his dancing, and the ‘Georgian spirit’. Early on in the
movie we are presented with the dancing troupe’s dance instructor, who boldly
states that, ‘there was no sex in Georgian dance’ and ‘Georgian dance
represented the Georgian spirit’. The film goes on to prove him wrong by the
use of stark yellow light for the Tbilisi night streets, intimate dance scenes, as well as Merab’s and Irakli’s first sexual
encounters. One should notice that all LGBT-friendly locations are colour coded
differently, the bar burning red, the club blinding white. It is the streets of
Georgia which are yellow, and remain yellow. Georgian dance can include sex,
and all kinds of sexualities.
Wretched, black—be whoever you
can;
Oh life, I hold the reins in
my hands
To transform you, this hell,
into heaven.
(Excerpt:
Titsian Tabidze, Georgian poet, Self-portrait, 1916)
Just as Merab
dons a traditional robe for his final dance, which stems from a time before the
hailing of ultra-masculinity in Georgian dance and culture, the film reminds us
of an alternative to the unbridled pursuit of strength and rigour. It reminds
us that the Georgian spirit goes beyond insecure notions of ultrahard masculinity.
Georgia is, in fact, older than hardness.
In closing, an
appeal to emotionality and softness through the words of Paolo Iashvili:
Where the pyramids stand in
silence,
when the sun is being married,
I shall lie down on the
sun-coloured sand,
where the pyramids stand in
silence,
I shall want you,
your eyes,
your arms,
your tenderness…
(Paolo Iashvili, Georgian poet, In
The Pyramids, undated)