Lovely Rita, Dogtooth und der brutale Akt der Befreiung
TW: Gewalt, Blut, Mord
von Laura Ahammer
Ein Gewaltakt als Akt der Befreiung. Ein Ende, das offen lässt, ob dieser gelingt. Auf den ersten Blick scheinen Lovely Rita (2001) von Jessica Hausner und Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos nicht allzuviel gemeinsam zu haben. Der eine handelt von einem jungen Mädchen, das von den Eltern beinahe gleichgültig behandelt wird und nicht einmal in der Schule Freunde hat. Ihre einzigen guten Beziehungen scheint sie zu dem kranken Nachbarjungen und, sehr flüchtig, zu einem Busfahrer zu haben. Mit diesen Männerfiguren experimentiert sie auch ihre Sexualität. Der andere Film hingegen ist eine absurde, karikaturistisch auf die Spitze getriebene Geschichte einer Familie, deren drei Kinder vollständig abgeschottet von der Welt leben und die verdrehten Erklärungen und Lügen ihrer Eltern glauben. Das Meer ist ein Ledersessel mit hölzernen Armlehnen, Zombies sind kleine gelbe Blumen und der aus dem sicheren Zuhause ausgerissene Bruder lebt direkt hinter der Mauer, bis er von dem gefährlichsten Raubtier der Welt getötet wird – einer Katze. Dogtooth – wie auch später The Lobster (2015) – lebt von der absoluten Konzentrierung der Gesellschaft, sie wird destilliert bis ins Surreale, doch es wird kein abstraktes Bild erschaffen. Vielmehr ist es ein verzerrender Spiegel, der uns vorgehalten wird. Es ist nicht nur eine Überspitzung der Situation und der Handlung, sondern auch des Schauspiels, des Dialoges und der Bildsprache. Statische, geometrische Einstellungen begrenzen den Blick in das starre Leben der Familie. Non-diegetische Musik fehlt völlig. In diesem reduzierten Setting findet das Drama statt.
Hausner bricht das Gesellschaftsleben auf eine andere Art und Weise herunter. Gezeigt wird eine ganz normale Familie, wie sie jeder kennt, vielleicht sogar als die Eigene. Doch sie zeigt die Momente, in denen sonst weggeschaut wird. Nicht ganz so mikroperspektivisch wie Dogtooth (dessen Geschichte fast ausschließlich im Zuhause der Familie spielt; mit lediglich sechs Schauspieler_innen), aber trotzdem auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochen, wird ein Bild aus dem Alltag gezeichnet. Die Protagonistin ist gerade noch ein Mädchen, fast schon eine junge Frau; gezeigt werden die Konflikte mit den Eltern, die Freundschaft mit dem Nachbarn, die erste Liebe. Hoffnung blüht, nur um zubetoniert zu werden. Die Eltern bemühen sich nicht sie zu verstehen, die Freundschaft wird toxisch, ihr Schwarm lässt sie fallen. Jegliche emotionale Bindung franst langsam aus.
Hausner wie auch Lanthimos halten uns auf Armlänge, die Erzählungen sind nicht darauf aus, uns dazu zu bewegen, mit den Figuren zu sympathisieren. Es werden keine Erklärungen gegeben. Durch das Isolieren der Hauptfiguren wird zwar eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, sie bleiben jedoch schwer zu lesen und unser Wissen bleibt durch die interne Fokalisierung in der Gestaltung oft begrenzt. Die Beweggründe der Charaktere sind teilweise so unverständlich, wie sie für diese selbst zu sein scheinen.
Die Dialoge in Lovely Rita sind spärlich, vor allem Rita spricht kaum. Nur durch ihre Mimik und durch ihr Handeln lässt sich auf ihren inneren Zustand schließen. Jegliche Art von Voiceover oder Monolog wäre gänzlich unpassend in Hausners Film, er lebt geradezu von der Mehrdeutigkeit der Figur, dem Nicht-Erklären, dem bloßen Zeigen. Der Film entsteht bekanntlich erst in den Köpfen der Zuseher_innen, wodurch jede_r ein Stück von sich selbst in Rita hineinbringt. Die – teils namenlosen – Figuren in Dogtooth reden, als würden sie einen Text runterleiern. Sie sprechen schnell, direkt und ohne große Betonung. Das macht die ohnehin schon skurrilen und schockierenden Situationen noch etwas asynchroner von unserer Realität.
Aber was haben die beiden Filme gemeinsam? Sie liefern zwei mögliche Antworten auf eine Frage. Oder besser gesagt bieten sie zwei Übersetzungen zu einem Thema: Lanthimos überzeichnet; Hausner gibt realistisch wieder. Im Kern handeln beide Filme von Emanzipation, vom Finden und Definieren des Selbst, vom Navigieren und Ausbrechen aus einem Raum, der von Erwachsenen geregelt wird. Diese Flucht gelingt den jeweiligen Protagonist_innen auf unterschiedlichen Wegen.
In Dogtooth schlägt sich die namenlose ältere Tochter mit einer Hantel den „Hundszahn“ aus, dessen Ausfall ihre Maturität und somit Erlaubnis das Haus zu verlassen bedeutet – so hatten es ihr zumindest immer ihre Eltern erklärt. Voller Blut und mit drei ausgefallenen Zähnen lächelt sie ihr Spiegelbild strahlend an. Das Waschbecken gleicht einer Mordszene. Dann versteckt sie sich im Kofferraum des Autos ihres Vaters und wartet. Der Film endet schließlich damit, dass der Vater die Spuren der Gewalttat im Badezimmer entdeckt und nach der Tochter sucht. Er fährt mit dem Auto in die Stadt, parkt und steigt aus. Der geschlossene Kofferraum wird gezeigt. Dann: Cut auf Schwarz.
Genauso brutal und ambig ist das Ende von Lovely Rita. Der Film begann mit der Aufnahme einer silhouettenartigen Schießscheibe, auf die geschossen wird. Zum Schluss wird Tschechows Pistole nochmals abgefeuert. Rita erschießt erst ihren Vater, dann ihre Mutter. Wir sehen sie nicht sterben; es ist nicht deren Reaktion, die relevant ist. Nach einem kurzen Ausflug findet sich Rita wieder in ihrem Haus. Eine Fliege fliegt im Wohnzimmer herum. Die Handbewegung, mit der sie sie verscheucht, ist genauso uninteressiert wie ihr Gesichtsausdruck. Plötzlich geht die zeitgeschaltete Lampe neben ihr an. Die andauernde Präsenz der Mutter, die im Laufe des Filmes immer wieder ungefragt das Licht in Ritas Zimmer andrehte? Oder ein Überbleibsel des Vaters, der die Lampe mit Rita montiert hat? Falls man sich ein Ende denken will, so muss man es für sich selbst tun.
Dogtooth besitzt eine visuelle Rigidität, die bei Hausners frühen Filmen noch nicht so ausgeprägt ist. Es wird bloß angeschnitten – das Bild genauso wie die Handlung. Die Figuren sind in ihrer Rolle gefangen, ständig auf der Suche etwas zu fühlen. Schließlich häufen sich die kleinen Gewaltakte des Alltages, bis es zur Ekstase kommt. Dabei verweilt die Kamera auf den Figuren. Es bleibt beim Publikum, die unleserlichen Gesichter zu interpretieren.
Beide Filme lassen die Frage offen, ob die „Befreiung“ gelungen ist. Ob es die Opfer wirklich wert waren. Ob ein Durchbrechen der Struktur überhaupt möglich ist.
Freiräume im österreichischen Autorenkino
Jessica Hausner und die eindeutige Ungewissheit
von Alina Groer
Die österreichische Regisseurin Jessica Hausner erzählt in ihren Filmen Geschichten von jungen Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollen und einer abweisenden Umwelt, die ihnen auf diesem Weg begegnet. Dabei sind grundlegende Lebensfragen nach Wünschen und Erwartungen sowie Glaube und Zweifel zentrale Motive. Die Regisseurin spielt in ihren Filmen mit Konventionen und Brüchen ebenso wie mit der Frage nach der Wirklichkeit. Hausners besondere Erzählstruktur tritt vor allem in ihrem Film Lovely Rita (2001) hervor. Das Spiel mit der Ungewissheit was als Nächstes folgt, beherrscht die Regisseurin jedenfalls, denn sie lässt das Publikum bis über das Ende hinaus warten, worauf diese Geschichte eigentlich hinaus will. Ein junges Mädchen ist auf der Suche nach ihrem Weg und steckt neben Träumen, Vorstellungen, Sehnsucht und Erwartungen auch noch in verhärteten Strukturen der Familie fest. Der Film verwirrt, geht in verschiedenste Richtungen und lässt bis zum Ende nicht zu, ein eindeutiges Bild zusammenzufügen.
Durch ihren Kamerastil wirft die Regisseurin einen distanzierten, reflexiven Blick auf das Geschehen. Dieser Stil findet sich in anderen österreichischen Filmen wie von Michael Haneke oder Ulrich Seidl wieder. Die starren, langen Kameraeinstellungen sind sehr kontrolliert aufgebaut und das minimalistische Schauspiel sowie der reduzierte Dialog, tragen zu einer angespannten Stimmung bei. Mit einer unklaren doch sehr sensiblen Erzählweise, stellt Hausner noch mehr Fragen als sie Antworten gibt. Die dominante Stille, die in ihren Filmen herrscht, lässt eigene Gedanken lauter erscheinen, wodurch man sich nicht so leicht im Film verliert.
Barbara Albert bearbeitet in ihrem Film Nordrand (1999) ähnliche Themen, doch ihre Erzählweise vermittelt einen subjektiveren Einblick in das Geschehen. Während die Protagonistinnen sich ihren eigenen Lebensweg erkämpfen, stellt eine locker geführte Handkamera Stimmungen, Gefühle und Empathie in den Vordergrund. Obwohl Albert dabei auch Freiräume in ihrer Erzählstruktur schafft, ergreift ihr Film die Zuschauer_innen offensiver und hält weniger Abstand zu den Figuren. Auch Michael Hanke erzählt in seinem Film Der siebente Kontinent (1989) von verhärteten Strukturen und dem Grauen einer industrialisierten Kultur. Im Gegensatz zu Hausner und Albert, zeichnet er die Struktur eines Systems und fokussiert durch enge Kameraeinstellungen eine ganz bestimmte Sichtweise auf die Welt.
Im sogenannten Feel-Bad Cinema, eine bestimmte Kategorie, der viele österreichische Filme zugeordnet werden können, werden ähnliche Motive bearbeitet, doch durch unterschiedliche Darstellungsstile grundlegend anders vermittelt. Das Motiv, ein unwohles Gefühl erzeugen zu wollen, um das Publikum zum Nachdenken anzuregen, geht bei Hausner über ein Zur-Schau-Stellen einer schlechten Welt hinaus. Die Filme von Jessica Hausner, besonders Lovely Rita, stiften geschickt Verwirrung und transportieren ein eindeutiges Gefühl der Ungewissheit, dass nicht beklemmt, sondern Gedanken befreit. Indem sie jene Freiräume erschafft, gelingt es der Regisseurin, Verantwortung an die Rezipient_innen abzugeben. Das Publikum ist auf sich gestellt, das Gesehene einzuordnen oder zu bewerten. Hausner macht mit ihren Filmen vor, wie ein respektvoller Umgang mit der Macht der Deutungshoheit funktionieren kann.
Der Anfang einer großartigen Karriere
Von Anna Nimmervoll
Das Spielfilmdebüt Lovely Rita (2001) bildet den Grundstein von Jessica Hausners erfolgreichen Karriere als Regisseurin und Drehbuchautorin. In diesem Film, der in Cannes in der Kategorie „Un Certain Regard“ erstmals gezeigt wurde, liefert Hausner Motive, Themen, Strukturen und Figuren, die in all ihren nachfolgenden Filmen eine wichtige Rolle spielen.
Am Esstisch einer bürgerlichen Wohnung in einer kleinen Vorstadt erinnert sich eine Familie an ihren letzten Urlaub, während im Hintergrund leise klassische Musik ertönt. Die 15-jährige Tochter Rita widmet sich gelangweilt ihrem Essen und lauscht dem Gespräch ihrer Eltern. Rita ist der Prototyp des bockigen Teenagers: Sie widerspricht, muckt auf, ist mürrisch und gelangweilt, legt sich mit ihren Klassenkameradinnen an, raucht und schwänzt regelmäßig die Schule. In einem wilden Mix aus warmen grellen und kühlen blauen Tönen zeigt Hausner verschiedenen Momentaufnahmen im Leben des jungen Mädchens, das versucht aus dem bürgerlich-katholischen Regime ihrer Eltern und der gesamten Gesellschaft auszubrechen. In Lovely Rita zeigt Hausner ihr Gespür für stimmungsvolle Farbkonzepte, die sie auch in Filmen wie Little Joe (2019) und Amour fou (2014) beeindruckend zur Schau gestellt hat.
Hausner zeigt über die Jahre hinweg, dass sie jedem Genre ihre eigene Signatur verleihen kann. 2004 begibt sich mit ihrem Film Hotel in die Welt des Horror- und Mystery-Genres. In ihrem 2014 erschienen Film Amour fou inszeniert sie einen tragischen Historienfilm. Mit Lovely Rita erschafft Jessica Hausner einen Coming-of-Age Film, der scheinbar unbedeutenden, zerstückelten Szenen aneinanderreiht, die letzten Endes die Protagonistin und ihr Umfeld ins Chaos stürzen. Schon bei ihrem 1995 erschienen Kurzfilm Flora wagte sich Hausner auf das Territorium des Jugendfilm-Genres. Auch dort spielt das sexuelle Erwachen der jungen Teenagerin eine bedeutsame Rolle. Rita möchte ihre entdeckte Sexualität anhand zwei weit auseinanderliegender Extrema ausleben. Einerseits sammelt sie erste Erfahrungen mit dem deutlich jüngeren Nachbarsjungen Flexi. Andererseits verführt Rita einen deutlich älteren Busfahrer.
Bei den Darstellenden in diesem Film handelt es sich ausschließlich um Laiendarsteller_innen, die zuvor keine Erfahrung mit Schauspiel hatten. In einem Interview mit der Austrian Film Commission erklärte Hausner, dass das Finden der richtigen Darsteller_innen und vor allem das Drehen eine regelrechte Herausforderung waren. Aber gerade dieser Einsatz von nicht-professionellen Darstellenden verleiht Lovely Rita den Charme des Unausgereiften. Dadurch wirken die Szenen so lebensecht und realistisch. Um sich von diesem brutalen Realismus zu distanzieren, setzt Hausner eine Vielzahl an schnellen Zooms ein, welche die Gesichter der Figuren in bestimmten Situationen hervorheben. 18 Jahre später greift Hausner in ihrem ersten englischsprachigen Film Little Joe wieder auf das Motiv des ruckartigen Zooms zurück.
Aber nicht nur die Kameraführung von Lovely Rita weist Parallelen zu Hausners weiteren Arbeiten auf, sondern die Protagonistin selbst ist eine Figur, die sich in allen Filmen von Hausner wiederholt. Alle Hauptcharaktere in Hausners Filmen sind Frauen, die sich sehr ähneln. Die weiblichen Figuren scheinen jedoch mit der Zeit und mit der angehäuften Erfahrung von Hausner immer reifer, selbstbewusster und erfahrener zu werden. Trotzdem sind alle Frauen ‒ sei es nun die an den Rollstuhl gefesselte Christine, die im spukenden Hotel arbeitende Irene oder die alleinerziehende Mutter und Wissenschaftlerin Alice ‒ ähnliche Charaktere, die in sich gekehrt, unauffällig und normal sind.
Ritas grenzüberschreitendes Verhalten und ihre Ausbruchsversuche aus ihrem bürgerlichen, katholisch geprägten Leben führen dazu, dass sie die ultimative Sünde begeht: Sie ermordet ihre Eltern. Das Ende bleibt offen, unkommentiert. Rita sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, speist ein Butterbrot und sieht fern; die automatische Zeitschaltung bringt die Lampe im Raum zum Erstrahlen. Rita dreht sich um, blickt durch einen Türrahmen, die Kamera zoomt nah an ihr ausdrucksloses Gesicht. Fast scheint es so, als würde sie lächeln. Den Zusehenden stellt sich nun die Frage: Was geschieht mit Rita? Jessica Hausner beantwortet diese Frage nicht. Auch in ihren darauffolgenden Arbeiten schenkt Hausner ihren Zuschauer_innen nicht die Befriedigung eines abgeschlossenen Endes. Bei Lourdes bleibt das Publikum im Ungewissen, ob die gelähmte Protagonistin, die bei einer Pilgerfahrt eine Wunderheilung widerfährt, am Ende des Filmes wirklich geheilt ist oder es sich dabei nur um eine vorübergehende Verbesserung ihrer unheilbaren Krankheit handelt. Mit Hotel hat Hausner auch ein Ende erschaffen, bei dem mehr Fragen als Antworten aufgeworfen werden.In Jessica Hausners ersten Arbeiten ist noch ein österreichischer, amateurhafter Flair enthalten. Auch der Zeitgeist der Dreharbeiten ist in ihren frühen Filmen aufgrund des niedrigen Budgets und der begrenzten technischen Möglichkeiten deutlich spürbar. Mit ihrem ersten Langspielfilm hat Hausner Motive, Themen und Figuren erschaffen, die sie in ihren folgenden Filmen ausgebaut und perfektioniert hat. Über die Jahre hinweg wurden Hausners Werke internationaler, ausgereifter, zeitloser. Einer damals erst 29-jährigen aufstrebenden österreichischen Regisseurin ist mit Lovely Rita ein provokanter Durchbruch gelungen.
Lovely oder verrückt? Jessica Hausners Lovely Rita im Fokus
Von Kristina Seher
Lovely Rita (2001) ist der erste Langspielfilm der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner. Die Handlung spannt sich um die Hauptfigur Rita, eine junge Wienerin. Sie stammt aus einer durchschnittlichen Familie, zu der sie ein sehr kaltes Verhältnis pflegt. Ihr Vater ist streng und ihre Mutter scheint keine eigene Meinung zu haben oder diese zumindest nicht zu äußern. Auch in der Schule passt Rita nicht dazu. Sie ist sehr ruhig, schüchtern und verhält sich im Gegensatz zu anderen Gleichaltrigen eigenartig. Ihre Außenseiterrolle begründet sich durch ihr unangemessenes Verhalten, aufgrund dessen sie von anderen ausgeschlossen wird. Paradoxerweise scheint sie genau dies aber bewusst zu provozieren.
Zu Anfang beginnt Rita mit kleinen Rebellionen, wie Schule schwänzen, aufzufallen. Zu Beginn sind ihre Grenzüberschreitungen für das Publikum (möglicherweise) noch nachvollziehbar, im Laufe des Films werden diese jedoch immer extremer und irrationaler. Das auffälligste Element ihrer Rebellion zeigt sich in ihrer Beziehung zu Flex, einem 2 Jahre jüngeren, kranken Jungen, der sich in kurzer Zeit zum wichtigsten Menschen in Ritas Leben entwickelt. Zunächst führen sie ein unschuldiges, freundschaftliches Verhältnis und genießen die Nähe zueinander, bis ihre Beziehung schließlich eine unangemessene sexuelle Wendung nimmt. Schließlich geht Rita dann so weit, den kranken Sohn zu entführen, nachdem die Eltern von ihrem sexuellen Verhältnis erfahren haben und ihnen den Kontakt verbieten. Ritas Verhalten wird letztendlich immer weniger nachvollziehbar und endet damit, dass sie ihre Eltern erschießt.
Auffällig an Ritas Charakter ist, dass sie keine ihrer Handlungen zu bereuen scheint. Das anfängliche Mitleid für sie schwindet, nachdem sie immer mehr den Eindruck erweckt, völlig gefühlskalt zu sein. Einzig und allein Flex scheint ihr am Herzen zu liegen, wobei sie auch hier ihren eigenen Willen vor sein Wohl stellt, als sie mit der Entführung seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Dass die Schauspieler_innen in Lovely Rita Laien sind, begünstigt diesen Eindruck von Gefühlskälte zusätzlich.
Das Bemerkenswerteste an diesem Film ist jedoch, dass die Erwartungen der Zuschauer_innen bewusst gebrochen werden. Das Bedürfnis nach Erklärung und Rechtfertigung von Ritas Handlungen, was zu Beginn noch gelingt, fällt im Laufe des Films zunehmend schwerer. Auch die Dichotomie von Gut und Böse, von richtig und falsch, wird zunehmend aufgehoben. Der Film hinterlässt das Gefühl, nicht zu wissen, was nun die Moral der Geschichte war, obwohl man den ganzen Film über bewusst oder unbewusst nach einem tieferen Sinn gesucht hat. Lovely Rita erzeugt also eine gewisse Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit, und versucht nicht, die Erwartungen des Publikums zu befriedigen.
So verkörpert Rita zu Beginn des Films ein bemitleidenswertes, junges Mädchen, das von ihrem kalten, unnachgiebigen Umfeld geprägt und eingeschüchtert ist und sich möglicherweise nur nach Nähe und Zuneigung sehnt. Im Laufe des Films verwandelt sie sich jedoch in eine unberechenbare und irrationale Frau, die dem Publikum keine andere Wahl lässt, als die romantisierte Vorstellung von Rita und den Erwartungen an sie nach und nach aufzugeben.