Kurzspielfilme

Hurenkind & Schusterjunge
AT/DE/GB 2021
Farbe, 15 min., OmeU

Rain outside our window
AT 2021
Farbe, 17 min., OmeU

Topfpalmen
AT/DE 2020
Farbe, 20 min., OmeU

Diagonale Schwerpunkt: Spielfilm kurz

Reflektion zur kinematographischen Vergänglichkeit

Daniel Morawitz

Kinoerfahrungen sind immer etwas Besonderes, egal welche. Ob der Besuch bei einem lokalen Art-House Kino oder beim Multiplex, um den neuesten IMAX Film anzuschauen, jeder Kinobesuch ist mit einer Nervosität, einem Nervenkitzel, einer Erwartungshaltung verbunden. Man weiß nie genau was einem erwartet, was da auf einem zukommen wird. Man mag vielleicht die ein oder andere Rezension gelesen haben, vielleicht ein YouTube Review von einem der bekanntesten Movie-Spezialisten auf der Plattform gesehen haben, trotzdem weiß man, dass die Erfahrung und das finale Resultat im Endeffekt in den Sternen stehen.

Gerade bei Filmfestivals spitzt sich das besonders zu, bzw. man spürt es bei diesen Okkasionen noch intensiver. Viele Filme feiern bei Festivals ihre Premiere, das heißt es gibt meistens absolut kein Word-of-Mouth auf das man sich einlassen kann. Das Word-of-Mouth folgt nach dem Screening, die Erfahrung, die man bei der Uraufführung hat, und die man mit sich nimmt und teilt, wird das Fundament des Diskurses rund um den Film sein. Hört man, dass in Cannes bei der Premiere des neuen Gaspar Noé Films, oder des neuen Von Trier Films, Leute rausgestürmt sind, oder gar in Ohnmacht gefallen sind, so wird das einen grundlegenden Effekt auf die Erwartungshaltung gegenüber dem Film haben. Gerade diese Berichte sind für die Filmemacher der große Paukenschlag, oder der Anfang vom Ende.

Bei der diesjährigen Diagonale wurde einem wieder bewusst, welche Autorität der Zuschauende, die Audienz, tatsächlich hat. Mit einem Wort, einem Text, einer Geste, bestimmt der/die Filmschauende über das Leben des Films. Denn entweder die kollektive Meinung bringt ihn zum Erfolg, oder der Film verwest in der dunklen Kammer der Vergessenheit, dort wo viele Filme verweilen, die auf Festivals gezeigt wurden, aber nie Anklang bei der Masse gefunden haben. Dies wird der unausweichliche Fall für viele Filme sein, egal ob sie nun als „gut“ oder „schlecht“ im polemischen Sinne gewertet wurden, es ist heutzutage schwerer, aber auch leichter denn je seinen Film zu vermarkten und zu veröffentlichen. Besonders bei Kurzfilmen kommt der Gedanke auf: Wo wird man, in 20 Jahren etwa, diese kleinen Kulturartefakte jemals wieder sehen können? Spiel und Dokumentarfilme werden da ganz anders behandelt, denn diese wurden ja für einen Kino-Run konzipiert, danach leben sie in manchen Fällen auf physischen Medien weiter, oder wenn wir uns auf die moderne Mainstream Situation beziehen, auf etwaigen Streaming-Diensten.

Doch Kurzfilme haben selten diesen Luxus. Vor YouTube und Vimeo hatten sie bis auf Festivalsichtungen wenig Chance jemals das Licht der Welt zu erblicken. Nach dem Festival Run werden die Kurzfilme dann eben auf einer Plattform der Wahl hochgeladen. Für wie lange sie sichtbar sind, das kommt ganz drauf an. Wenn sie dann weg sind, sind sie weg, gelöscht von dem Bewusstsein der Filmosphäre. Dann muss man den Filmemacher fragen, ob man einen Link bekommt. Das Leben des Kurzfilms ist eine Momentaufnahme. Er lebt auf den Festivals, wo er von Lob nur so berieselt wird, das dauert maximal aber 2 Jahre. Dann landet er mit all den anderen Kurzfilmen im VOD Verein, ein Ort wo sich alle gegenseitig für paar Klicks bekämpfen, wo jeder auf sein Comeback sehnsüchtig wartet. Die meisten erhoffen sich ein Feature auf der Staff-Pick Seite von Vimeo, das ist schon die Große Liga der Kurzfilme, die sogar vor 5 Jahren ihre Uraufführung hatten. Die bekommen dort dann ihr 2. Leben, was aber auch nicht lange hält. Mubi zählt auch zu den großen dazu, aber um hier reinzukommen muss man bereits bei Festival einiges abgestaubt haben. Als Kurzfilm muss man sich beweisen können.

Wer auf der Diagonale im Kurzfilmprogramm 1 saß, sah einen Block mit viel Innovation, Mut und formalen Geschick. Die Kurzfilme in diesen Block waren allesamt auf dem Niveau eines Spielfilms. 17.000€ kostete der Kurzfilm Rain Outside Our Window von Simon Maria Kubiena. 1000€ pro Minute. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, technisch ist der Film nahezu einwandfrei. Die großen Widescreen Aufnahmen geben der Location tiefe, der Raum wirkt immens und immersiv. Man merkt, hier handelt es sich um etwas Aufwühlendes, auf der Makro als auch auf der Mikroebene. Es geht um ein Paar, kurz vor der Trennung. Die Emotionen sind dick aufgetragen, fast schon Hollywoodreif, die Plansequenzen sind nicht nur ein technischer Augenschmaus, sie geben der Zwischenmenschlichen Ebene Raum zum Atmen. Die Schauspieler dürfen hier wirklich spielen, die Emotionen ausarbeiten, kein Schnick-Schnack, es geht nur um diesen Moment. Wie ein choreographierter Tanz geht die Sequenz von statten. Die emotional dramaturgische Wirkung ist nicht ganz da, wo sie sein sollte, man könnte hier das Wort melodramatisch verwenden. Der Film will Aufmerksamkeit auf sich ziehen, tut dies über zugespitzte Emotionen und dynamische Kameraarbeit die miteinander nicht ganz harmonieren, jedoch ist die Arbeit letztlich absolut gelungen, denn hier geht es um junge 20- jährige Filmemacher, die zeigen was junges Kino kann, wenn man es nur richtig fördert. Film ist eine teure Kunst, die finanzielle Dimension ist bei allen Projekten nicht auszuschließen. Gerade wenn man mit solch einer audiovisuellen Präsentation auftrumpfen kann, ist es umso erstaunlicher, dass junges Kino auf dem Level nicht noch mehr im Rampenlicht steht.

Auch die Filmakademie darf bei der Diagonale, und bei all den anderen österreichischen Festivals, nicht fehlen. Man kann über die Hochschule sagen was man möchte, die filmische Messlatte, die sie mit ihren Projekten setzten, ist sehr hoch. Intellektuell als auch formalästhetisch merkt man bei Hurenkind und Schusterjunge von Niklas Pollmann, und bei Topfpalmen von Rosa Friedrich, dass eine Welle an jungen Filmemachern voranschreitet, die sich der Auteur-Betitelung alle Ehre machen wollen. Die Filme ziehen durch ihre eigene Stimme die Aufmerksamkeit auf sich: Bei Pollmanns Film ist es der Hang zur poetischen Struktur mit der Bildsprache aus der Nouvelle-Vague. Durch Guerilla-Stil Momentaufnahmen nimmt uns der Film auf eine parallel-montierte Reise durch London, bei der zwei unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinanderstoßen. Das Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten wird durch das Element des kinematografischen Auges zwischen dem Publikum und dem Regisseur geheim gehalten. Die beiden Figuren bleiben sich jedoch in ihrer perfekt konstruierten Diegese fremd. Kluges und elegantes Filmemachen.

Doch es ist Topfpalmen von Rosa Friedrich, der einen nach wie vor zum Nachdenken bringt. Wie kann es sein, dass in Österreich diese junge Regisseurin nicht schon die ganze Aufmerksamkeit der Filmindustrie auf sich gezogen hat? Spätestens mit „Topfpalmen“ sollte ihr dies gelingen, denn auf nationaler Ebene sieht man selten solch einen Hang zum schrillen, kunterbunten, Retro-Look, der gleichzeitig wie die Faust aufs Auge zur narrativen Evolution des Filmes passt. Hier wird regelrecht jeder Bildausschnitt zum Platzen gebracht, sei es durch die knallig, schrullige Mise-en-Scene, oder die Inszenierung der Komparsen, die sich nach und nach ins Bild schleusen und somit die gesamte Dynamik des Filmes in einen rigorosen Bann ziehen- es wird bis auf das kleinste Detail geachtet. Im Mittelpunkt steht die hochschwangere Betty, die die Hochzeit ihrer Tante besucht. Jedoch entpuppt sich nach und nach, dass es bei dieser wichtigen Nacht nicht mit rechten Dingen zugeht. Mehr muss man zu Friedrichs Werk auch nicht wissen, da der Reiz nicht an der dramaturgischen Entwicklung liegt, sondern an der Experimentierfreudigkeit mit der Textur und Form des Inhalts. Film nicht als narratives Medium, sondern als Medium der puren Erfahrung, als Erlebnis, wo die Sinne des Sehens und Hörens bis auf den maximalen Grad beansprucht werden.

Abseits der Kurzfilme sah man etliche Filme, die sich diese Form des Filmemachens verschrieben. Filme, die Mut haben neues zu versuchen, nicht dem didaktischen Ton des Narrativen Kinos verfallen, aber narrativ genug sind um nicht als Experimentalfilm betitelt zu werden. Filme die vielleicht gerade wegen ihrer komplizierten und unorthodoxen Art keinen Anschluss finden konnten. Liegt es vielleicht doch mehr an dem Publikum selbst, den Mut zu haben diese Art von Film zu Begrüßen? Das Publikum muss offen dafür sein auf Filme einzugehen, die auf einer fast schon spirituellen Metaebene navigieren. Erst durch Akzeptanz für die Evolution des Films als eigenständige Kunstform kann man sein Filmverständnis erweitern, und auf neue künstlerische Perspektiven eingehen.

Eine solche Perspektive auf wie ein innovativer österreichischer Spielfilm aussehen könnte, gibt uns Frederike Pezolds Canale Grande. Ein paradigmatisches Konzept der Post-Modernen Kunstgattung aus den 1980ern, welches durch eine wertende Position auf die Mediale Wirkungsebenen des Fernsehens, mit all seinen verschiedenen Facetten, eine kritische, jedoch gleichzeitig verspielte, surreal filmische Dimension zur Schau stellt. In diesen vergessen Filmjuwel, wird das Medien-Mammut Fernsehen zum Nahsehen verwandelt. Die Leute sollen gefälligst aufhören, sich von Öffentlichen oder Privaten Sendern mit „Scheiße“ berieseln zu lassen, heißt es in Pezolds frechen Statement. Stattdessen wird für ein individuelles Programmieren plädiert, eines wo jegliche Fernsehfreundliche Normen aus dem Fenster geworfen werden und stattdessen durch kunterbunter Ideenvielfalt dekonstruiert werden.

Pezolds Film vermittelt nicht nur eine bodenständige Sozialkritik, die sich vor allem auf kontemporäre Medienentwicklungen übertragen lassen, er präsentiert auch eine äußerst ausgeprägte Low-Budget Ästhetik, die den Freigeist der Inszenierung und der Hauptakteurin komplimentiert. In der Diegese vermischt sich einerseits die Abstrusität der Wirklichkeit mit der DIY-Mise-en-Scene Petzolds, die hier viele Details in der Ausstattung selbst zustande gebracht hat. Diese avantgardistischen Töne könnten für das eine oder andere Gemüt als „überinszeniert“, „prätentiös“ oder „elitär“ interpretiert werden, ein Argument, dass man im Zusammenhang mit Art-House Produktionen immer wieder aufschnappt. Tatsächlich wendet hier Petzold diese bourgeoisen Konationen mit Witz und Selbstreflektionen um, und verwirklicht dabei eine einzigartige Seherfahrung, die der Öffentlichkeit für lange Zeit verwehrt blieb. Wenn Filme wie Canale Grande in Vergessenheit geraten, keine Plattform zum (Wieder)Sehen gewährt wird, dann leidet vor allem unser kollektives Gedächtnis darunter, und Festivals wie die Diagonale leisten einen kunsthistorischen Beitrag, um diese Gedächtnislücken zu minimieren. Wer am Screening teilnahm, wurde Zeuge einer österreichischen Kulturlücke. Der einzige Beweis, dass dieser Film existiert, wird ihre Erinnerung sein, eine Erinnerung, die im Zeitalter des konstanten Flusses des sogenannten „Contents“, fast schon überflüssig zu sein scheint, und trotzdem in diesem Kontext den allerhöchsten Stellenwert verdient.

Es gab noch eine weitere Vorführung während des Festivals, die vielleicht eine ähnliche historische Bedeutung hatte, vielleicht nicht in der gleichen Dimension wie „Canale Grande“, jedoch mit einem minderen Effekt auf Körper und Seele. Give Me Liberty zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, und versetzte das Publikum in seinen Bann. Die Stille, sobald das Licht anging, sagte alles, was es zu sagen gab. Nach einer ausführlichen Einführung durch Alexander Horvath wuchs die Neugier, was dieser unbekannte Film wohl sein könnte. Was folgte, war eine hypertransfixierende Odyssee durch die Augen eines jungen Krankenwagenfahrers, dessen Job es ist, Menschen aus dem Behindertenspektrum von einem Ort zum anderen zu bringen – Stichwort: Pünktlichkeit.

Give Me Liberty ist ein Film, wie es ihn nur selten gibt. Einer, bei dem die Filmsprache so formenreich genutzt wird, um eine Vision zu ermöglichen, die sonst keine andere Kunstform bieten kann. Mikhanovskys Film besitzt Spuren und die DNA eines Dokumentarfilms, vor allem durch die Besetzung mit Laiendarsteller, fördert jedoch gleichzeitig eine lebendige, dynamische und desorientierende Erzählung durch die formale Herangehensweise des Regisseurs. Die Montage des Films gleicht einem Musikvideo, hier wird nicht aufgrund intellektueller Kontinuität geschnitten, sondern um eine Emotion zu artikulieren- Gefühle werden durch die audiovisuelle Erfahrung spürbar gemacht, denn der Film gibt uns keine Zeit, Handlungen zu hinterfragen, da die Charaktere ständig in Sprinttempo voranschreiten- Zeit wird relativiert, der springende Punkt ist, dass Mikhanovsky den Zuschauer:innen keine Luft zum Atmen geben möchte, damit man sich allzeit in der transzendentalen Energie des Films verliert.

Mit Give Me Liberty, Canale Grande und den Kurzfilmen aus dem ersten Block, sah man Werke, die zwar noch keinen öffentlichen Bekanntheitsgrad erreicht haben, aber dennoch in ihrem relativ kleinen Maßstab Innovation und große visionäre Präzision zeigen konnten. Aber eine große Frage bleibt immer noch offen: Was können wir als kollektive Zuschauer:innen tun, um die Existenzen dieser Filme nicht zu vergessen? Werden diese Werke nach einem Festival wie der Diagonale jemals wieder das Licht der Welt erblicken, oder werden sie von der großen Wolke des Vergessens verschlungen? Das Hindernis ist so groß wie eh und je, mit dem goldenen Zeitalter des Streaming ist die Diagonale eine der Erinnerungen daran, dass Filme über das Monopol von Hollywood hinausgehen – die Zukunft des Kinos liegt in den Händen derer, die einzigartige Erfahrungen wollen, die dafür kämpfen wollen, dass das Kinoerlebnis lebendig bleibt.