Wolfgang Tillmans „Schall ist flüssig“

von Antonia Luka Gottwald und Teresa Wagenhofer

Kleine und große Fotografien, abstrakte Abzüge, gerahmt und ungerahmt, mit Klebeband und Heftklammern an die Wände angebracht: Scheinbar frei von allen Konventionen, erstreckt sich im zweiten Obergeschoss des Museums moderner Kunst (mumok) Wolfgang Tillmans Schall ist flüssig. Die Ausstellung übergießt den gesamten Raum mit einer Variation von Bekanntem und Unbekanntem, Natur und Architektur, stellt Portraits neben grafische Abzüge und widmet sich in liebevollem Detail dem Alltag des Künstlers und seiner Motive. Tillmans lädt die Besucher*innen ein, sich die selbstkritischen Fragen zu stellen, von denen auch er sich bei seiner Arbeit leiten lässt: „What do I really see? What do I see, and what do I want to see? What is in the picture?” [1]

Ausstellungsansicht: „Schall ist Flüssig“ im mumok Wien.

Wolfang Tillmans wurde 1968 in Remscheid geboren, lebt und arbeitet in Berlin und London, wo er 2006 auch den Ausstellungsraum Between Bridges eröffnete. Seit seiner frühen Jugend befasst sich der Künstler mit der Fotografie und so entstanden auch einige der in der Ausstellung zu sehenden, wegweisenden Bilder schon in seinen jungen Jahren. Bekanntheit erlangte Tillmans in den 1990er-Jahren als Fotograf der Subkultur und Musikszene – eine Auswahl der in dieser Zeit entstandenen Bilder ist auch Teil der Ausstellung. Auch die Beschäftigung mit Astrologie, welche sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht, geht bis auf seine ersten Fotografien zurück. Das Bild Mond in Erdlicht etwa, welches sowohl das Plakat der Ausstellung als auch das Cover seiner neuesten Platte ziert, machte er schon im Alter von 12 Jahren – damit ist es das älteste der hier ausgestellten Werke. Durch Platzierung und Größe hervorstechend, steht im Kontrast dazu die jüngste fotografische Arbeit Tillmans’, die gleichzeitig Namensgeber der Ausstellung ist: Schall ist flüssig zeigt eine Dschungellandschaft im Platzregen.

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Nicht nur die Natur mit ihren Gegensätzen von flüssig und fest – besonders eindrucksvoll in Concrete Column III, einer vergrößerten Nahaufnahme von noch flüssigem Beton, zu sehen – sondern vor allem auch die ungewöhnliche und fluid wirkende Anordnung und Zusammenstellung seiner Werke lässt Betrachter*innen das Thema förmlich spüren. Die Nahaufnahme eines Ohres, mittig, 13 x 18 cm, ist neben einem chemisch bearbeiteten und vergrößerten, abstrakten Ornament auf Fotopapier in der Ausstellung genauso zu finden wie politische Statements, die, in DIN A4-Format ausgedruckt und provisorisch wirkend an die Wand geklebt, intime Einblicke in den Alltag und das Leben der LGBTQI-Szene geben.
Tillmans fokussiert auf das, was uns verbindet, nicht was uns trennt. Es geht darum, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen, die er den Betrachter*innen greifbar macht.

Tillmans‘ Vorstellung einer idealen Welt, in der persönlicher Freiheit zentrale Bedeutung zukommt, ist nicht nur in der unkonventionellen, fast schwerelosen Anordnung seiner Werke zu erkennen, sondern zieht sich auch als wiederkehrende Thematik durch die Arbeiten. Er porträtierte schon früh die lokale Rave-Szene und Subkultur Hamburgs und Londons, von der er selbst Teil war, und wurde durch seine Abbildungen der hedonistischen Queer- und Partyszene der 90er-Jahre bekannt. Auch im mumok ist dieser Aspekt anhand von Werken wie corridor, room und kitchen (alle 1992) zu sehen, die zugleich nüchtern und melancholisch Relikte rauschender Partys in Form von herumliegendem Müll und kaputten Möbeln zeigen. Die abgebildeten Räume sind menschenleer und lassen den vorausgegangenen Exzess erahnen.

Wolfgang Tillmans, Smoker (Chemestrie) 1992.

Tillmans Ausstellung beugt sich keinem zeitlich linearen Ablauf, wodurch ein übergreifendes Bild seines künstlerischen Oeuvres erkennbar wird. Man fühlt sich wie in einer Zeitblase, in der zentrale Geschehnisse der letzten Jahrzehnte sichtbar werden. So sind hier etwa die Themen AIDS und LGBTQI allgegenwärtig. Fotos von ugandischen LGBTQI-Flüchtlingen samt Interviews aus dem Jahr 2013 werden durch Textfragmente ergänzt: „15 Jahre nach den ersten AIDS-Fällen in 1981 machte die Einführung der Dreifachtherapie AIDS in den Ländern der ersten Welt zu einer behandelbaren chronischen Krankheit. 15 Jahre danach, im Jahr 2011, starben weltweit 1,7 Millionen Menschen weltweit [sic!] an den Folgen von AIDS.“ [2] Ihre Geschichte sowie das damit verbundene Leid werden durch die Kombination aus in Textform gebrachten Fakten und intimen, zärtlichen Porträts wie etwa Smoker (Chemistry) von 1992 nachvollziehbar. Tillmans‘ Verständnis von Freiheit als etwas, das immer wieder erkämpft werden muss, erkennt man in Fotografien wie Stop the War Demo von 2003 und Anti Travel Ban Demo von 2015.

Auch Tillmans‘ neuere Porträts wirken stets sehr persönlich und zeigen oft Menschen, die ihm nahestehen. Vergleicht man diese mit seinen Aufnahmen berühmter Schauspieler*innen und Musiker*innen wie Tilda Swinton oder Lady Gaga, die auf den Fotos trotz ihrer Berühmtheit nichts an Verletzlichkeit und Nahbarkeit einbüßen, wird Tillmans‘ fotografisches Talent für Zwischenmenschliches sichtbar.

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Mit Book for Architects ist schließlich ein Raum betitelt, in dem eine auf zwei Wände gleichzeitig projizierte Diashow zu sehen ist, die vollständig aus Architekturaufnahmen besteht. Zwischen 2004 und 2014 fotografierte Tillmans in 37 Ländern unterschiedlichste Gebäude und übersetzte diese dabei in seine ganz persönliche Perspektive. Mitunter handelt es sich um Details, mitunter um Totale. Ein roter Faden ist dabei nicht zu erkennen, doch genau das scheint Tillmans’ Ziel gewesen zu sein. „Meine Absicht ist es viel mehr, in Sequenzen Bilder zu arrangieren, die wiedergeben, wie die gebaute Umwelt auf mich wirkt.“ [3] Seine Architekturfotografien widmen sich damit – so wie auch alle anderen seiner Fotografien – der Form des Zusammenlebens und den Räumen, in denen wir uns alltäglich begegnen.

Zwischendurch verlässt Tillmans die Welt der Fotografie und verwirklicht sich in seiner Musik, die – in Kombination mit einem seiner Filme – im mumok-Kino für das Publikum zugänglich ist. Das Album Moon in Earthlight aus dem Jahr 2021 ist nicht nur eine Referenz an seine Faszination für das Weltall, sondern untermalt den gezeigten Film – einen Zusammenschnitt aus scheinbar alltäglichen Szenen und Landschaften – mit nahezu außerirdischen Melodien, Sounds, Live-Aufnahmen und Tillmans‘ eigener Stimme. Wenn Lichtspiegelungen auf einer dunklen Wasseroberfläche tanzen, dabei an Schallwellen denken lassen und dadurch den Ausstellungstitel Schall ist flüssig in Erinnerung rufen, singt Tillmans „There is more that connects us than divides us.“ [4] Für einen Moment lässt Tillmans uns Teil seiner Utopie sein.

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[1] museum moderner kunst stiftung ludwig wien, „Wolfgang Tillmans. Schall ist flüssig“, mumok, 11.12.2020, https://www.mumok.at/de/wolfgang-tillmans-schall-ist-fluessig, 24.03.2022.
[2] Wolfgang Tillmans, Schall ist flüssig, kuratiert v.: Matthias Michalke, Wien: mumok, 27. November 2021 bis 28. August 2022.
[3] Wolfgang Tillmans, Book for Architects. two channel 4K still video installation, 2014.
[4] Wolfgang Tillmans, Moon in Earthlight. Music on vinyl, Berlin, 2021.