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Vorgekaut und halbgebacken
Péter Rácz
Was haben die blutige Kolonialgeschichte der USA, die Corona-Pandemie und Hacker-Workshops miteinander zu tun? Ziemlich viel, behauptet Johannes Grenzfurthner mit seinem neusten Dokumentarfilm Hacking at Leaves, der diese drei Themen informativ und appellierend zu verarbeiten versucht. Das Endprodukt ist eine Reihe an zwar interessanten, aber unscharfen Einblicken und Zusammenhängen. Die Narration ist durch eine ermüdende Rahmenerzählung von dem Schutzanzug-tragenden Regisseur vorgestellt, als er einer Uncle Sam Karikatur zu erklären versucht, warum die USA dringende systematische Änderungen benötigen.
Der Film beginnt mit der Genozid-gefolgten Gründung und dem konsequenten wirtschaftlichen und militaristischen Aufschwung der Vereinigten Staaten. Die Geschichtsschreibung geht wesentlich tiefer, als die meisten schulischen oder journalistischen Strebungen danach, diese Historien beizubringen. Der Film macht mediale Repräsentation, Ausbeutung und Vernichtung indigener Menschen in Amerika sichtbar. Der Fokus liegt dabei auf der Navajo-Gemeinschaft, die sich hauptsächlich im mittleren Südwesten der USA befindet. Grenzfurthner schafft durch Interviews mit Native Americans einen persönlichen Einblick in die durch Privatisierung und Ignoranz oft lebensbedrohlich gemachten Situationen der Einwohner:innen. Die Überleitung von Vergangenheit in die Gegenwart schafft der Regisseur einzigartig und beeindruckend über die Auswirkungen des Atombomben-Tests auf die Einheimischen.
Auch von den heutigen Lebensumstände, bis zu den Wirkungen der COVID-19 Pandemie erzählen die Interviewten. Beispiele wie Verfilmungen von Karl May Büchern, Videospiele mit indigenen Bösewichten, Werbungen und Statuen verdeutlichen die vorherrschende mediale Repräsentation in den USA. Insbesondere wirksam gilt die Präsenz der Narrative, dass Native Americans eine aussterbende, naturnahe, und unzivilisierte Bevölkerung sind, für die die moderne Welt keinen Platz mehr hat.
Sie sind aber immer noch am Leben und entsprechen einer der Gruppen, die von amerikanischen Krisen und Ausbeutung am meisten betroffenen sind. Die größte Krise der letzten Jahren war das Coronavirus, welches eine hohe Zahl an Opfern forderte. Die Ausbreitung war rasant, die Bekämpfung fast unmöglich. Die interviewten Personen erzählen über Mängel an Wasser, Internet und Infrastruktur in ihrer Umgebung. Der Regisseur macht hier eine wichtige Entscheidung: alle Informationen und Geschichten werden von Betroffenen selber erzählt, Statistiken werden durch persönlichen Interviews kontextualisiert.
In der Nähe der Navajo-Region liegt die Kleinstadt von Durango, Colorado, mit der das andere große Thema von Hacking at Leaves eingeführt wird. Grenzfurthner erzählt hier die Geschichte von Hackerspaces: globale Werkstätten für Informatik, Internet und Maschinenbau-interessierte Menschen. Diese präsentiert er mit hoher Geschwindigkeit und wenig bis keiner Beziehung zu den vorigen Kapiteln. Neben der geographischen Lage gilt die Pandemie als Zusammenhang, als Menschen aus Hackerspaces Schutzanzüge für Krankenhäuser in der Region entwickelten.
An dieser Stelle wird die Gier der Gesundheitsindustrie in den USA thematisiert: Macht der Privatfirmen, Untätigkeit der Regierung und das Stören der Arbeit unabhängiger Freiwilligen, wie den Hackerspaces.
Dieses Segment wirkt besonders irritierend, da die Hackerspace-Geschichte anscheinend der Ausgangspunkt des Filmemachers ist. Dadurch scheint die Erzählung der Ureinwohner als bloße Einführung für das „wirkliche“ Kernthema: eine klassisch amerikanische Erfolgsgeschichte, deren Umstände zwar kritisiert, aber das Endprodukt gelobt wird.
Aus der Rahmenerzählung des Kampfes zwischen Erzähler und Uncle Sam entsteht ein oft peinlicher als schlauer Humor, der nicht nur den Rhythmus der Erzählung bremst oder sogar stoppt, sondern auch stilistisch stark von den ideologiekritischen und antikapitalistischen Ansichten, die Grenzfurthner präsentiert, abweicht. Interviews und Erklärungen werden von Uncle Sams Grimassen und unkreativen One-Linern unterbrochen und Sekunden länger gehalten, vermutlich als Pause für Lachen oder sogar Applaus. Das Vertrauen des Regisseurs in sein komödiantisches Talent untergräbt oft die Botschaften der Erzählungen und behandelt Zuschauer*innen herablassend. Er tut so, als ob das präsentierte Material ohne dem billigen Sarkasmus durch die veraltete Uncle Sam Karikatur nicht verständlich genug wäre.
Grenzfurthner präsentiert seine Thesen in einem Stil, der an YouTube Video-Essays und journalistische Kurzdokumentarfilme von Kanälen wie Vox oder Vice erinnern. In solchen Arbeiten entdeckt und erzählt eine Person teilweise aus dem Off, teilweise vor der Kamera historische Hintergründe und Auswirkungen eines Phänomens oder Ereignisses durch Interviews mit Expert*innen und Analysen von Studien.
Hacking at Leaves basiert ebenfalls auf einer großen Menge an Recherche und organisiert sie auf der Leinwand in einer nachvollziehbaren und beeindruckenden Weise. Die Zoom-Interviews, Quellen und Zitaten werden durch einen alten Fernsehen auf einem unordentlichen Schreibtisch gezeigt. Mit den verpixelten Buchstaben weist diese Inszenierung auf bestimmte Ästhetik und Zeitalter hin, die aber wenig Rolle im Gesamtfilm und seinen Argumenten spielen. Ein, mit der Geschichtsschreibung gleichzeitig wechselndes oder die Themen kombinierendes Aussehen, hätte einen klareren Zusammenhang zwischen Form und Inhalt. Die kreative Bildgestaltung mittels alter Medien bezieht sich nur auf mediengeschichtliche Repräsentation von Native Americans und Hackerkultur, was ohne den historischen und kontemporären Themen nicht irritiert hätte.
„By and for Johannes Grenzfurthner“ steht auf den Credits für den Regisseur, was noch keinem gültigen Zielpublikum entspricht, weil der Film nach einem nichtgelungenen Netflix-Verkauf auf dem Diagonale-Filmfestival gelandet ist. Hacking at Leaves ist dem Titel nach eine Reihe von Symptomanalysen, bei denen das benötigte Vorwissen Kapitel für Kapitel so schwankt, dass die Frage nach potenziellen Adressat*innen immer problematischer wird.
Für Zuschauer*innen ohne Vorwissen bietet der Film zu wenig Einführung in die teilweise überflüssigen Themen und Geschichten, weshalb die Botschaft halbgebacken ankommt.
Ein Publikum mit Vorwissen wird von dem Vorkauen des bekannten Inhalts schnell abgelehnt. Für sie bleibt nur noch der wenig authentische Südstaatenakzent des Uncle Sams als offensichtliche Verkörperung der USA als billige Unterhaltung übrig.
Hacking at Leaves ist ein frustrierender Film in dem der Regisseur das Publikum und sich selbst stetig zu überlisten versucht. Die teilweise informativen und kreativen Segmente werden von irritierender Narration und offensichtlichem Sarkasmus überschattet, das Ergebnis sind langgezogene und ermüdende 108 Minuten.
Hacking at Leaves: Eine Wurzelbehandlung
Marie Krebs
Johannes Grenzfurthners Dokumentar-Spielfilm-Hybrid Hacking at Leaves (2024) erklärt seinen Titel in den letzten zehn Minuten des Films. Grenzfurthner, der den Film selbst in einem Voiceover moderiert, wird von Uncle Sam, der Ikone des amerikanischen Militarismus des frühen 20. Jahrhunderts[i], in einem See ertränkt. Uncle Sam fragt kurz, bevor er den Mann im knallgelben Strahlenschutzanzug ins Wasser jagt, was der Filmtitel bedeute. Grenzfurthner erklärt sinngemäß: „It means that we should attack problems at the root rather than hacking at leaves”, dass also nicht mehr nach symptomatisch-individuellen Lösungen für strukturelle Probleme gesucht werden soll, sondern dass sie systemisch erklärt werden müssen. Somit macht der Film explizit, dass er sich mit der Schwierigkeit befasst, in einem von neoliberalen Werten getränkten und gekränkten Umfeld nicht auf individuelle Verantwortung zu bauen, sondern Strukturwandel anzustoßen. Dass dieses Statement am Schluss mit einer derartigen Klarheit gemacht wird, steht aber mehr oder weniger widersprüchlich zu der mäandernden, fragmentierten Erzählweise des Films, die sich letztendlich nicht auf eine klare Aussage festnageln lässt.
Dies zählt zu den größten Stärken von Hacking at Leaves: Der Film schlägt keine einfache Antwort auf eine komplizierte Frage vor. Stattdessen verfängt er sich in einer ausartenden Komplexität, die sichtlich an einem Ast eines riesigen Baumes angesetzt hat, ihn aber in seiner Einbettung in einem riesigen Wurzelwerk nicht ausgraben konnte, ohne dabei die Wurzeln anderer Narrative auszureißen oder abzuschneiden. Es ist ein Film der multiplen Thesen, dem Streben nach der Darstellung von Komplexität, ein Film ohne Sicherheit und ohne klare Aussage. Hacking at Leaves stellt verschiedenste Thesen auf, die einander teilweise widersprechen, sich gegenseitig beflügeln, ausschließen, die eigene ästhetische Wirkmacht einerseits aushebeln und andererseits weiterkatapultieren.
Die Thesen werden festgemacht an der Geschichte von einem Makerspace[ii] in Durango, Colorado, 2020 geleitet vom Unternehmer und Bastler Ryan Finnigan. Das Durango MakerLab wurde während der COVID-19-Pandemie angesichts der Knappheit von persönlicher Schutzausrüstung selbst tätig und stellte tragbare Luftfiltergeräte für medizinische Einrichtungen her. Dies ist aber bei weitem nicht die einzige Geschichte, die der Film erzählt; er berichtet von Siedlungskolonialismus, andauernder struktureller Diskriminierung gegenüber indigenen Gemeinschaften, dem Ende der amerikanischen Demokratie, und vielem mehr. Hier werden nur vier der Thesen, die Hacking at Leaves aufstellt, kurz angeschnitten.
These 1: Sich wiederholende Ausbeutung
Das Pandemiemanagement der USA im Zuge der COVID-19-Pandemie ähnelt schauderhaft dem Projekt des Siedlungskolonialismus; indigene Gemeinschaften fallen der Seuche unproportional zum Opfer. Die Geschichte wiederholt sich.
Die Kolonialgeschichte Nordamerikas hat definitiv kein Unterangebot an blutigen Episoden, die erzählen, auf wie viele verschiedene Arten die Verdrängung Indigener Gemeinschaften genozidale Ausmaße annahm. Jedoch lassen sich die meisten populären Narrative über die Besiedelung der USA und Kanadas auf eine sehr einfache Binärität herunterbrechen, in der die Kolonialherren gleichermaßen grausam, gewalttätig, und überwältigend stark sind und die indigenen Akteur:innen zu ewigen Opfern werden, sterbend, stoisch ihrem Untergang entgegenblickend, keinen Schmerz kennend. Eines dieser Narrative beschreibt das Einschleppen von Krankheiten unter den Siedler:innen, gegen die sie selbst aufgrund vermehrter Aussetzung immun waren, die sich aber unter indigenen Stämmen lauffeuerartig verbreiteten; traditionelle Medizin hätte dann den Gesamtzustand der Erkrankten verschlechtert. Dies entspricht aber nur teilweise der Wahrheit[iii] – es ist nicht zu leugnen, dass das Einschleppen von Krankheiten zu unzähligen Opfern unter indigenen Communities führte und dies von den Kolonialmächten billigend zur Kenntnis genommen wurde. Trotzdem ist es schwierig, über Native Americans als einen Monolithen zu sprechen, da es momentan 574 Tribal Nations allein in den USA gibt, die verschiedenste Geschichten, Kulturen, und Bräuche haben[iv]. In vielen nordamerikanischen Kontexten war die Antwort von indigenen Gruppierungen auf Epidemien nämlich durchwegs resilient und innovativ; beispielsweise entwickelten die Cherokee eigene Quarantänemaßnahmen[v]. Somit ist die Positionierung von First Peoples als passive Opfer nicht nur faktisch falsch, sondern auch reduktionistisch und gewaltsam.
In Hacking at Leaves dreht sich ein Teil der Erzählung um die Navajo Nation nahe des Vierstaatenecks zwischen Colorado, Utah, Arizona und New Mexico, deren Gemeinschaft von COVID-19 besonders stark heimgesucht wurde. Die Sterblichkeitsrate unter den Navajo People war in den ersten Monaten der Pandemie überproportional hoch; trotz der Tatsache, dass es sich hierbei um ein hauptsächlich ländliches und daher weniger dicht besiedeltes Gebiet handelte[vi]. Das kann auf viele verschieden Faktoren zurückgeführt werden, aber im Endeffekt führen die Erklärungen unweigerlich zu der Tatsache, dass US-Amerikanische Medizin größtenteils anhand Klassen- und ethnischen Zugehörigkeitsgrenzen verläuft, und dass das Krankenhauswesen der USA schon jahrelang an der Grenze zum Kollaps steht, besonders nachdem das Kabinett Trump sein Bestes tat, um sämtliche einem Sozialstaat anmutende Strukturen dem Erdboden gleichzumachen. Dies sind aber alles keine neuen Informationen; der Rassismus, der in die Fundamente des Staates einzementiert ist, muss nicht mehr erklärt werden.
Vielmehr ist aber zu bemerken, dass Hacking at Leaves sich in Form und Inhalt teilweise widerspricht: Die Navajo Nation erhält eine signifikante Rolle im ersten Drittel des Films; einige Navajo-Stimmen füllen das Voiceover und erklären aus der Perspektive der Betroffenen, wie die Pandemie das alltägliche Leben auseinanderriss. Trotzdem fällt auf, dass die meisten Stimmen der indigenen Communities im Laufe des Films immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden, um für das Narrativ des MakerLab Platz zu machen. Sie fallen schließlich durch ihre auffällige Abwesenheit auf; primär wird über ihren Tod und ihr Verschwinden berichtet. Kurz tauchen die Stimmen Stefan Yazzies und Morningstar Angelines gegen Ende wieder auf, aber im Endeffekt dürfen sie nicht Erzähler:innen ihrer eigenen Geschichte werden, und schon gar nicht die Retter:innen ihrer eigenen Situation. Nein, für die Rettung braucht es etwas ganz Bestimmtes: einen Helden.
These 2: Der Amerikanische Traum ist tot; lang lebe der Amerikanische Traum!
Es gibt noch Helden (!), die die Welt retten. Indigene Communities spielen hierbei eine Hintergrundrolle; sie sind die historischen Opfer, denen ein mutiger DIY-Spirit zu Hilfe eilt.
Ryan Finnigan sieht ein Problem; Ryan Finnigan löst das Problem. Der Chef des MakerLabs rettet wahrscheinlich Menschenleben damit, dass er mit seinen Kolleg:innen und freiwilligen Helfer:innen in seinem Makerspace medizinische Schutzausrüstung produziert, die in Krankenhäusern und anderen medizinischen Kontexten eingesetzt wird[vii]. Es handelt sich um die klassische Geschichte eines Machers, der dort ansetzt, wo die Mühlen der demokratischen Institutionen ins Stocken geraten sind.
Einerseits ist es eine rührende Geschichte eines Mannes, der sich verantwortlich fühlt, wo sich der amerikanische Staat – berühmt-berüchtigt für seine Apathie gegenüber dem auseinanderfallenden Gesundheitswesen – aus der Affäre zieht. Finnigan hat sicherlich alles, was er tat, aus hehren Motiven und humanistischen Bestreben getan. Andererseits ist es eine Horrorgeschichte, in der ein Einzelner plötzlich für das Überleben von Tausenden verantwortlich gemacht wird: Entweder er geht nachhause, erinnert sich Finnigan gedacht zu haben, oder er bleibt hier, arbeitet mehr als 16 Stunden am Tag, um den Tod Tausender zu verhindern. Er hat somit die Last seiner Community und später auch der amerikanischen Nation auf den Schultern. Der Film erwähnt zwar ansatzweise, wie schwierig diese Zeit für Finnigan (dessen Mitstreiter:innen übrigens kaum zur Sprache kommen) war, aber letztendlich bleibt er der Held seiner Geschichte.
Das ist nicht fundamental falsch – es soll nicht infrage gestellt werden, dass Finnigan sich philanthropisch engagiert und etwas Gutes getan hat. Was jedoch hinterfragt werden sollte, ist, bis zu welchem Grad der Heldenmythos des Amerikanischen Traums von Hacking at Leaves weitergesponnen wird. Es handelt sich hier um ein Individuum, dessen Geschick und Fähigkeiten (wenn dem Narrativ des Films Glauben zu schenken ist) einer ganzen Gemeinschaft von Menschen Gutes getan hat. Es handelt sich aber auch, wenn mehr Skepsis an den Tag gelegt wird, um die Geschichte eines Technikers, dessen heroische Schaffensgeschichte vor dem Hintergrund sterbender Navajo abgehandelt wird, die im Laufe der Geschichte kaum zu Wort kommen. Vielleicht aber ist dies eine ehrlichere Version des Amerikanischen Traums, in dem auf dem Rücken indigenen Leids große Geschichten des Individualismus erzählt werden.
These 3: Kultur ist eine Kreislaufwirtschaft ohne Brache
Kultur ist ein ewiger Kreis; der Mainstream schluckt die Randkultur, woraufhin am Rand, in den Ecken und Enden, Neues entsteht. Dies wird aber dann wieder vom Mainstream geschluckt, verdaut, und ausgespuckt.
Was haben die Punklegende Jallo Biafra von den Dead Kennedys, die Star Trek-Ikone Chase Masterson und der Indie-Filmmacher Michael J. Epstein gemeinsam? Sie sind alle in Hacking at Leaves. Und sie sind alle Metonymien für ihre respektiven Subkulturen: die Matrix aus dem Anarchismus früher Punkbewegungen, der Nische des Nerdtums und die Kunst-Intelligentsia des 21. Jahrhunderts legt sich über Hacking at Leaves und verleiht dem scheinbar unstrukturierten Film zumindest die Erscheinung einer Ordnung.
Unter Anderem ist dieser Film nämlich ein Lobgesang auf Hacker:innen und DIY-Kulturen am Rande der Legalität, das kollektive Agieren und Finden von Subkulturen, die sich bewusst vom Mainstream abwenden. Es ist aber auch eine Geschichte der Einverleibung; des endlosen Kreislaufs von Kultur: Die Sprache der punkigen Hacker-Outlaws haben sich längst die Tech Bros von Silicon Valley einverleibt; nun muss eine neue Peripherie gefunden werden, die sich wie ein konzentrischer Kreis um die Mitte der Gesellschaft legt und dort bleibt, bis sie ebenfalls geschluckt wird.
Hier wäre es interessant gewesen, auf Kollektive wie INDIGINERD, A Tribe Called Geek oder vielleicht sogar den wachsenden Kanon an Werken der Indigenous Futurisms in Kulturproduktionen hinzuweisen – Podcasts wie Métis in Space, Cowboys and Indians, Bücher von Chelsea Vowel oder Louise Erdrich, Videospiele und Medienkunst von Elizabeth LaPensée. Das tut der Film aber nicht. Gerade angesichts der Tatsache, dass gerade unter indigenen Gemeinschaften die Tradition von Nerdtum und Science Fiction eine lange und aufregende Geschichte hat[viii], wäre hier eine Möglichkeit gewesen, mehr indigene Stimmen in den Vordergrund zu bringen.
These 4: Der Amerikanische Traum ist tot, aber diesmal wirklich
Die Demokratie zerfällt in ihre Einzelteile und es liegt an uns, die Scherben aufzuheben und daraus etwas Neues zusammenzukleben.
Es ist nicht einfach, genaue Aussagen über Hacking at Leaves zu treffen. Wie schon erwähnt handelt es sich um einen Film, der sich nicht genau auf eine Aussage reduzieren lässt, worin definitiv eine seiner größten Stärken liegt. Trotzdem bleibt nach dem Films ein fahler Geschmack zurück, eine gewisse Unsicherheit, die nur bis zu einem gewissen Teil gewollt wirkt. Am Ende der Geschichte des mutigen Einzelnen, der sich gegen das System durchsetzt, wird trotzdem der Erzähler des Films in einem See ertränkt. Uncle Sam, mit einer abgesägten Schrotflinte, hat im Endeffekt immer noch die Macht über das Narrativ. Trump wird (wahrscheinlich) 2024 wiedergewählt werden, deshalb bleibt eigentlich nur Verzweiflung.
Hacking at Leaves stößt sich an seiner eigenen Produktionsgeschichte. Das Material wurde komplett 2020 gedreht, während den schlimmsten Monaten der Pandemie, als alle noch Klopapier hortend dem Untergang entgegen Sauerteigbrot backten. Es herrschte Aufbruchsstimmung; es wurde schlagartig klar, dass Regierungen im Falle einer Krise schnell handeln können, wenn sie das denn wollen – die Allmacht des Polizeistaats wird schmerzlich spürbar, wenn plötzlich verboten ist, Freund:innen in deren Wohnungen zu besuchen. Öffentliche Diskurse befanden sich in einem Kreislauf der Panik, wild umherschreiend und unsicher, was die Zukunft bringen würde. Es schien, als würden wir einem Ende von einer Ära entgegenrattern: das Ende der Demokratie, das Ende der Freiheit, das Ende der politischen Lethargie. In diesem Kontext etwas zu schaffen, was den Zeitgeist einfängt, ist schwer, aber Hacking at Leaves hat das eindeutig geschafft.
Leider fehlt dem Filmmaterial die Distanz, die in der Postproduction langsam entstand. Geschäfte öffneten wieder, die Demokratie hat sich scheinbar erholt. Egal wie schrecklich die Pandemie war, vier Jahre später bleiben nur mehr FFP2-Masken in der bröseligen untersten Schublade im Vorzimmerkasten zurück. Es hätte sich alles ändern können; für kurze Zeit hat sich Alles geändert, aber auf die Gesamtheit des 21. Jahrhunderts gedacht waren die 2-3 Jahre Lockdown leider nichts als ein Steinchen im Getriebe des Spätkapitalismus, das relativ schnell zermahlen wurde. Hacking at Leaves verliert den Fokus auf COVID-19, je länger er andauert, genauso wie wir. Wie könnte es auch anders sein, wenn immer eine neue Krise auf uns wartet?
Synthese?
Es bleibt eine gewisse Frustration zurück. Hacking at Leaves ist konzeptuell extrem dicht (vielleicht zu dicht?) und hätte ausreichend Material für eine mehrteilige Dokuserie beinhaltet. Gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass im deutschsprachigen Raum immer noch kulturell höchst unsensible Strukturen wie ‚Indianervereine‘ bestehen[ix] und bis vor wenigen Jahren noch „Ein Ibumetianer kennt keinen Schmerz“ von großen Pharma-Firmen in Fernsehwerbungen gebetet wurde[x], wäre hier Bildungspotential dagewesen. Hacking at Leaves aber scheint, als hätten in einem Prozess nicht unähnlich der Herstellung eines Smoothies mindestens vier Filme versucht, zu einem zu verschmelzen. Leider sind die Klingen des Mixers stumpf und letztendlich schwimmen Fetzen von Spinatblättern im Apfel-Trauben-Kiwi-Saft. Auf dem Vitamix bleiben Fingerabdrücke.
Hacking at Leaves ist eine ambitionierte, komplexe, und teilweise lustige Zeitkapsel des Wahnsinns der frühen Pandemietage, deren Referenzhumor wahrscheinlich primär für Amerikaner:innen oder Amerika/Politkultur-Interessierte geeignet ist. Grenzfurthner schafft es, die Beklemmung und Furcht dieser Zeit einzufangen, was sicher keine Zuseher:innen kaltlässt. Möglich ist, dass der Film etwas zu nahe an seinem Material ist – vielleicht muss für richtige Reflexion noch etwas Zeit verstreichen; oder vielleicht ist es großartig, ein Kunstwerk zu haben, dass sich derartig zeitgeistig mit der Materie beschäftigt.
Johannes Grenzfurthner scheint letztendlich einfach nicht recht zu wissen, ob er Ayn Rand oder John Steinbeck sein will. Möchte er schreiend das Ende amerikanischer Demokratie verkünden, oder möchte er ein Loblied auf die DIY-Kultur von individuellen Akteuren singen, die dort eingreifen, wo die trägen Wurstfinger der Gesetzgebung noch zu fettig sind, um anzupacken? Einerseits ist diese Unklarheit aufregend; und die Unruhe, die beim Zusehen empfunden wird, könnte auch gut sein. Vielleicht sind wir von narrativen Strukturen in Film und Fernsehen zu sehr daran gewöhnt, dass es einfache Antworten auf schwierige Fragen gibt, und dass im Endeffekt die Guten gewinnen, obwohl das im echten Leben nicht immer so ist. Trotzdem stellt sich die Frage, ob Hacking at Leaves wirklich die Wurzel findet oder sich doch im Geflecht verliert.
[i] Vgl. Encyclopedia Britannica, „Uncle Sam.“ Encyclopedia Britannica, nicht datiert, https://www.britannica.com/topic/Uncle-Sam, 25.04.2024.
[ii] Ein Makerspace ist ein „kollaborativer Arbeitsbereich in einer Schule, Bibliothek oder separaten öffentlichen / privaten Einrichtung für kreatives Schaffen, Lernen, Erforschen und Teilen, der [meistens] High-Tech Geräte [wie 3D-Drucker, Lasercutter] benützt.“
Makerspaces.com, „What is a Maker Space?”, Makerspaces, nicht datiert, https://www.makerspaces.com/what-is-a-makerspace/, 18.04.2024 [Übers. M.K.].
[iii] Vgl. Liza Piper, When Disease Came to this Country, Cambridge:Cambridge University Press 2023, S. 12.
[iv] Vgl. National Congress of American Indians, „Trival Nations & the United States: An Introduction“, NCAI.org, Februar 2020, https://archive.ncai.org/about-tribes, 25.04.2024.
[v] Vgl. Piper, When Disease Came to this Country, S. 12.
[vi] Vgl. Betsy Ladyzhets, Shaena Montanari, „Community Response Helped Reverse COVID’s Devastating Toll on Indigenous Communities in Arizona”, AZ Mirror, 06.01.2023., https://azmirror.com/2023/01/06/community-response-helped-reverse-covids-devastating-toll-on-indigenous-communities-in-arizona/, 25.04.2024.
[vii] Vgl. Emily Hayes, „MakerLab Praised for COVID-19 Response, Prevention Efforts“, Durango Herald, 17.06.2020, https://www.durangoherald.com/articles/makerlab-praised-for-covid-19-response-prevention-efforts/, 25.04.2024.
[viii] Vgl. Suzanne Newman Fricke, „Introduction: Indigenous Futurisms in the Hyperpresent Now“, World Art 9/2, 2019, S. 107-121, hier: S 109.
[ix] Siehe z.B.: Merkur.de, „Der letzte Sommer in Weichs mit Cowboys und Indianern“, Merkur Nachrichten, 27.06.2022, https://www.merkur.de/lokales/dachau/weichs-ort375072/der-letzte-sommer-weichs-mit-cowboys-und-indianern-91634132.html, 25.04.2024.
[x] Vgl. Österreichischer Werberat, „Werbung der Medikamentenfirma Ibumetin“, Werberat.at, 28.03.2012, https://www.werberat.at/beschwerdedetail.aspx?id=3596, 25.04.2024.
Zwischen Reform und Moral. Ruth Beckermanns „Favoriten“
Andrea Szabo
Ruth Beckermanns Favoriteni hat für begeisterte Gesichter bei der Eröffnung der Diagonale am 04.04.2024 gesorgt. Vielleicht zu begeistert? Die Dokumentation über die herzigen Grundschulkinder der größten Volksschule Wiens im zehnten Bezirk scheint zunächst ein leichtes Thema. Beckermann öffnet den Zuschauer*innen zwar nur eine Tür zum Klassenzimmer, auf den zweiten Blick jedoch eine Tür in eine ganz andere Welt, die so nah und doch so weit entfernt von uns liegt. Nämlich in der „lebenswertesten“ Stadt der Weltii – Wien. Und genau deshalb ist es so befremdlich eine so andere Seite der eigenen Stadt kennenzulernen. Ein Ort, an dem vermeintlich nicht nach den Spielregeln gespielt werden muss. Eine Schule, an der Bildung an zweiter Stelle steht.
Regisseurin Ruth Beckermann versucht in ihrer Dokumentation die Krise des österreichischen Bildungssystems und die Schwierigkeiten der migrierten Kinder, die kaum Deutsch sprechen, aufzudecken. Indem sich Beckermann phantomhaft hinter die Kamera zurückzieht, lässt sie den Alltag der Kinder für sich selbst sprechen. Hoffentlich muss das im Nachhinein auch keiner der Angehörigen bereuen…
Ruth Beckermann und ihr Kameramann Johannes Hammel begleiten die Kinder einer Grundschulklasse über einen Zeitraum von drei Jahren, und dennoch scheint lediglich die Oberfläche eines komplexen Problems berührt worden zu sein: einem bedauerlich schlechten Lehrplan und einer unsicheren Lehrerin gegenüberstehend die Tränen der Kinder in Close-ups. Ist das genug für eine Dokumentation? Ja und Nein. – Die Qualität der geäußerten Inhalte wurden stets vom Kamerateam beeinflusst. Vor allem aber, weil es Kinder schwer haben, sich vor der Kamera zu präsentieren. Die Aufnahmen scheinen überwiegend realitätsgetreu, doch merkt man schnell, dass die Kinder durch die Kamera auch verunsichert wirkten, vielleicht sogar unter Druck standen. Es wäre wichtig gewesen zu wissen, wie häufig das Kamerateam da war. Jeden einzelnen Schultag? Einmal die Woche? Oder nur einmal im Monat? Haben es bewusst nur polarisierende Szenen in den Schnitt geschafft? Umso essenzieller für die Glaubwürdigkeit der Aufnahmen wäre gewesen herauszufinden, wie sehr sich die Kinder dem Team fremd gefühlt haben. Beckermanns Dokumentation hat es trotz dieser Mängel geschafft, dem Publikum einen ganz persönlichen und hautnahen Zugang zu der Welt dieser Kinder zu verschaffen. Durch ihren Stil, sich selbst und die Kamera so gut es geht aus dem Vordergrund
zu halten, fühlte sich der Alltag echt und roh an. Auch, wenn nur wenig gezeigt wurde. Schließlich beschränkt sich unser Blick eigentlich nur auf das Klassenzimmer. Trotzdem bekommt man durch die Kamera das Gefühl, mit den Kindern zu spielen, zu lernen und zu leben. Camouflage-artig nimmt uns die Handkamera auf Augenhöhe mit durch den Alltag der Schüler*innen. Aber was bedeutet es, Kinder sprechen zu lassen?
Die Kinder des Favoriten sprechen für alle, die von ihrer Realität betroffen sind. Sie sprechen für die, die es schwer haben, sich in einer neuen Kultur zu etablieren. Sie sprechen für die, die vom österreichischen Bildungsstandard ausgegrenzt werden. Sie sprechen für die Lehrkräfte, Eltern und schließlich für sich selbst. Somit ist Beckermanns Dokumentarstil in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Stimme das Unkonventionelle sprechen lässt, bemerkenswert.
Aber es wäre falsch, sich von ihrer unschuldigen Kunst blenden zu lassen. Als Zeug*innen ihres Werks muss realisiert werden, dass die Videobeiträge für die Kinder nichts anderes als ein Spiel gewesen sind. Nur leider kommt dieses Spiel mit der Folge der öffentlichen Darbietung. Klar ist es wichtig und richtig, Klarheit über die alltägliche Realität der Kinder zu schaffen, deren Privileg es nicht ist, fließend Lesen und Schreiben zu lernen, mit der Hoffnung, ihnen eines Tages eine bessere integrierte Zukunft zu schenken. Die Geschichte und Realität der Kinder des Favoriten aus hautnahen Quellen zu hören, wäre ein Privileg. Da sich das die Betroffenen wie so oft nicht leisten können, bleibt dies weiterhin eine Wunschvorstellung, die in den privilegierten Händen Beckermanns ruhen darf. Wie würden Dokumentationen aussehen, wenn sie nicht von privilegierten Stimmen, sondern stattdessen von Betroffenen direkt geschaffen werden? Vielleicht sind genau diese Machtstrukturen analysebedürftiger denn je. Doch eins muss man der Dokumentation lassen: Wir sehen endlich die Schwächen und Sorgen der Schüler*innen und Wegschauen bleibt keine Option mehr. Doch Kinder so vorzuführen und sich dafür Preise einzusammeln kann genauso moralisch fragwürdig eingestuft werden, auch, wenn die Absicht Beckermanns eine andere war.
Ist es in Ordnung, Kinder nach ihrer Positionierung zum Ukrainekrieg zu befragen? Kinder so früh in die Politik miteinzubeziehen ist gar nicht so verkehrt. Es ist großartig zu sehen, dass die Lehrkraft versucht, den Kindern zu vermitteln, dass sie auch ein Stimmrecht haben und selbst Stellung beziehen müssen in unserer Welt. Noch schöner ist es, den Kindern dabei zuschauen zu dürfen, wie sie dazu angeregt werden, über Gleichberechtigung und hegemoniale Machtstrukturen zu reflektieren und sie zu durchbrechen. Es ist interessant zu beobachten, wie dabei Erlerntes aus der eigenen Kultur und Erziehung mit den Werten und Normen der
österreichischen Kultur kollidiert. Dabei wird dem Publikum die eigene Schulzeit ins Gedächtnis gerufen. Während die Frage danach, ob „Frauen Bikinis tragen dürften“ früher nicht im Bildungsraum diskutiert wurde, steht diese und noch ähnliche Fragen heute immer häufiger im Vordergrund. Ob die Lehrkraft dafür überhaupt ausgebildet ist, ist fraglich. Aber wenn sie tagtäglich mit kritischen Inhalten konfrontiert wird, bleibt einem keine andere Wahl (solange kein entsprechendes Schulfach etabliert wird), als die Schüler*innen selbstständig aufzuklären. Eine zentrale Frage, die sich in Beckermanns Dokumentation erkennen lässt: Bis wohin reicht die Verantwortung des Schulsystems? Die Fragen häufen sich und es ist klar, dass die Dokumentation genau das bewirken wollte.
Beckermann scheint auf den ersten Blick einen ausgewogenen Einblick in das Leben der Schüler*innen und der Lehrerin zu bieten. Doch eigentlich liegt das Hauptaugenmerk hauptsächlich auf den Kindern, die ständig neuen Herausforderungen ausgeliefert sind. Dass sich die Lehrkraft mit dem Lehren schwertut, ist schon ein Statement über das Bildungssystem selbst. Doch wäre es schön gewesen, auch ihre Perspektive anhand von ausführlichen Interviews zu Gesicht zu bekommen. Die Dokumentation schenkt uns zwar einen allgemeinen Überblick darüber, wie es an allen Ecken brennt, doch wäre es genau deshalb umso wichtiger gewesen, mehr Fragen zu stellen. Aber vielleicht ist es genau dieser künstlerische Stil Beckermanns, der es zulässt, sich die Frage zu stellen, wo man denn überhaupt als Stadt anfangen sollte. Fragen zu stellen, die ohne die Aufnahmen vielleicht nie aufgekommen wären. Ein Lösungsansatz wird nicht geboten. Ob das in einer Dokumentation notwendig ist? Nein, auf gar keinen Fall. Vor allem, wenn sich die Fragen erst im Verlaufe des Dokumentierten entfalten, auf die es noch keine Antwort gibt.
Diese Szene kennen wir alle: Die Klasse soll sich heute besonders gut benehmen und fleißig mitarbeiten, da der/die Lehrer*in in der heutigen Stunde von der Schulleitung einer Lehrprobe unterzogen wird. Das hat den Effekt, dass die Schüler*innen unter der Aufsicht der Schulleitung und der Bitte der zu prüfenden Lehrkraft, Leistungen erbringen, die außerhalb dieser Umstände eine untypische und ja, vielleicht sogar verzerrte Reflexion der Schüler*innen ist. Könnte ein Kamerateam denn nicht auch eine ähnliche Wirkung gehabt haben?
Es ist fragwürdig, Kinder so verletzlich zu zeigen und ihnen so nahe zu treten. Hatten sie denn überhaupt die Chance, sie selbst zu sein? Dass Kinder im Netz tabu sein sollten, ist doch kaum zu debattieren. Zwischen sieben und zehn Jahren kann man nicht behaupten, reif und
selbstständig genug zu sein, um bewusste Entscheidungen treffen zu können. Und genauso, wie es kritisch ist es, seine Kinder für Inhalte auf YouTube, Instagram und Facebook zu posten, sollte genauso darauf aufmerksam gemacht und reflektiert werden, weshalb Kinder für diese Dokumentation aufgenommen werden mussten. Es ist klar und deutlich, worauf Beckermann aufmerksam machen will – auf die Probleme der Integration migrierter Familien und Kinder; auf die mangelnden Beihilfen der Schulsysteme, diese Kinder auszubilden; und auf den schlechten Lehrplan und die mangelnden Lehrkräfte. – Doch ein Aspekt scheint bei Beckermanns Doku unterzugehen und gleichzeitig eine unausweichliche Konsequenz zu sein: Denn es ist bösartig, Familien, die kaum deutsch sprechen, einen Vertrag vorzuhalten, um ihre Kinder drei Jahre lang dokumentieren zu dürfen und ihre Bildung zu beeinflussen. Und das alles nur, um die Eltern im Kinosessel versinken zu lassen, weil sie bemerken, dass die kritischen Aussagen ihrer Kinder für immer im Netz bleiben. Das Konzept, dieser Realität so nahe treten zu wollen, ist leicht gedacht ein unfassbarer Eindruck. Vielleicht hätte eine Dokumentation mit Voiceovers keinen so starken Eindruck hinterlassen. Schade nur um die Aussagen der Kinder. Denn diese werden mit wenig Pech ihr weiteres Leben bestimmen, während Beckermann auf dem nächsten Filmfestival absahnt.
i Favoriten, R.: Ruth Beckermann, AT 2024.
ii Stadt Wien, „Lebensqualität – Wien ist und bleibt Nummer eins”, Wien-gv.at, https://www.wien.gv.at/politik/international/vergleich/mercerstudie.html#:~:text=2023%20wurde%20Wien%20 erneut%20von,(Neuseeland)%20auf%20Platz%203, 21. 06. 2024.
Existentiell und kritisch – ASCHE ohne loderndes Feuer
Anja Linhart
Wie weit darf Kunst gehen und wer behält in dieser Frage die Oberhand – die Muse oder doch der Künstler? Was passiert, wenn dieses Verhältnis zu bröckeln beginnt und der Drang nach Selbstverwirklichung plötzlich über Allem steht? Es ist ein breites Spannungsfeld zwischen Privileg und Fetischisierung, Kritik und Selbstinszenierung, in das die österreichische Regisseurin Elena Wolff mit ihrem zweiten, queer-feministischen Langspielfilm Asche eintaucht.
Episodisch erzählt Asche von drei unterschiedlichen Paaren, die allesamt Teil der Linzer Kunstszene sind, und von einem Außenseiter, der nicht in diese poppig erstrahlende Welt hineinzupassen scheint. Simeon (Thomas Schubert) verkörpert das klassische Bild eines narzisstischen Alpha-Manns und ist außerdem Künstler. Seine deplatzierten Tattoos und fragwürdigen Outfits sowie seine Art und Weise sich in Szene zu setzen, unterstreichen die Überspitzung, von der Asche lebt. SIE (Elena Wolff), deren richtiger Name niemand wirklich kennt, steht in einer überaus körperlich-konzentrierten Beziehung zu Simeon, ist seine künstlerische Muse, seine Inspiration, seine Lulu. Als Model und eher semi-erfolgreiche Künstlerin steht sie in der Hierarchie unter ihm, und das gibt er ihr deutlich zu spüren. Dieser offenen und vor allem toxischen Beziehung stehen zwei weitere Paare gegenüber, die sich durch ihr monogames Leben und einer sinnlich-liebevollen Dynamik zumindest zu Beginn davon unterscheiden. Es ist vor allem der Drang nach Selbstverwirklichung, der krampfhafte Druck das eigene Ego zu pushen und konsequenzlos einen Berg aus Schutt und Asche zurückzulassen, der die verschiedenen Protagonist*innen vereint.
Wolff kreiert mit Asche eine durch und durch künstliche Welt, die bunt, schrill und laut ist. Eine solche Künstlichkeit spiegelt sich zum einen in den einzelnen Charakteren wieder, deren extravagante Kostüme und das mit Strasssteinen verzierte Make-Up stark an eine Ästhetik à la Euphoria erinnern. Mit Bibizas Worten „Ich spür nix, aber hab ein gutes Outfit“ wird auch auf der Tonebene nochmal auf die Statushaftigkeit des äußerlichen Erscheinungsbildes hingewiesen. Auf der anderen Seite heben vor allem aber die Farbgestaltung und das Framing noch einmal deutlich den Aspekt der Künstlichkeit hervor.
Es ist außerdem das klassische Bild einer privilegierten Wohlstandsgesellschaft, das Wolff in ihrem Film präsentiert – Leben im Überfluss, ohne jegliche Konsequenzen. Durch die Überspitzung seiner Charaktere und einer Menge Selbstironie versucht Asche eben dieses System zu kritisieren und nimmt Themen wie das Patriarchat, Genderstereotype und Klischees in den Blick. Auch Fragen nach der Figuration von Männlichkeit oder dem Wert von Kunst schwingen in der Story mit. Genau hierin liegt jedoch leider auch die Krux: Asche erzählt seine vermeintlichen Leitthemen nur mit, konzentriert sich inhaltlich vielmehr auf seine exzessiven Drogenrauschs und Szenen der Körperlichkeit. Die für den Film wichtigen, tieferreichenden Gespräche über Klasse oder patriarchale Strukturen werden, sobald sie begonnen wurden, im nächsten Augenblick auch schon wieder durch Szenen des Rauschs, des Exzesses oder körperlicher Lust überschattet. Hinzu kommt, dass die Absurdität einiger Szenen den Film etwas ziellos scheinen lässt und gleichzeitig eine Art Fetischisierung vorgenommen wird – Stichwort Nekrophilie (an dieser Stelle lässt es sich nicht vermeiden die schauspielerische Leistung von Selina Graf als Anna positiv hervorzuheben, die sich ihrer Rolle als Nekrophile mit einer regelrechten Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit nähert). Das Ende des Films lässt abschließend ein Fragezeichen zurück – man weiß dieses Vampir-Gelage nicht so recht einzuordnen, es fügt sich nicht wirklich dem Rest des Films. Wenn man privilegiert ist kann man tun und lassen, was man will, jemanden umbringen und sich dafür auf einer öffentlichen Kunstausstellung feiern lassen, ganz nach dem Motto: „kein Problem, das System steht hinter dir“. Mit diesem Eindruck entlässt Asche sein Publikum schließlich aus dem Kino. Die lautstarke Kritik an der Privilegiertheit, welche die Satire verspricht kommt leider zu kurz, wird überschattet von blutiger Perfomancekunst, Koks und Sex mit einer Leiche.
Das Innere nach außen kehren. Filmkritik zu Anja Salomonowitz’ »Mit einem Tiger schlafen« über das Leben und Werk der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig.
Teresa Wagenhofer
Ein junges Mädchen liegt in einem rustikal eingerichteten, holzvertäfelten Zimmer im Bett. Schwaches Tageslicht fällt durch die Ritzen zwischen den Holzbalken, die Szene ist dämmrig/dunkel. Hektische Stimmung, um das Mädchen herum ein Priester und weitere Personen, sie beten ein letztes Gebet, Maria schaut nach oben an die Decke. Sie stirbt.
Nein, doch nicht! Schnitt zur erwachsenen Maria Lassnig, die am Boden in ihrem Atelier liegt und ebenfalls an die Decke starrt. Sie vollzieht gerade eine ihr typische Technik, fast wie ein Ritual, bei dem sie so lange auf einen Punkt schaut, bis dieser ”zerschaut“ ist und sich in seine farblichen Bestandteile aufspaltet. Dadurch kann Lassnig geistig gleichzeitig die Grenze zwischen ihrem Inneren Gefühl und äußeren Körper aufspalten.
Die 2014 verstorbene Maria Lassnig brachte mit den vorher durch ihre Technik herausgefilterten Farben das Gefühl aus ihrem ”Inneren“ heraus auf die Leinwände der ”äußeren“ Welt. Eines ihrer Bilder, nämlich »Mit einem Tiger schlafen«, zeigt Lassnig eng an das Tier gepresst in einer Pose, halb Kampf, halb Umarmung. »Mit einem Tiger schlafen« ist auch der Titel des 2024 veröffentlichten Films der Regisseurin Anja Salomonowitz, der das Leben der Malerin und Künstlerin Maria Lassnig behandelt. Der titelgebende Tiger kann kann dabei als Allegorie für Maria Lassnings, von ihr selbst oft als herausfordernd und verlustreich empfundene, Leben gesehen werden, mit welchem sie immer wieder von neuem ringt, das sie für kurze Zeit bezwingt und mit dem sie versucht ihren Frieden zu finden.
In der Rolle der Maria Lassnig in (fast) allen Phasen ihres Lebens brilliert eine großartige Birgit Minichmayr. Sie schafft es, durch ihre (Körper-)Sprache (und den an das jeweilige Alter angepassten Outfits in den pastelligen Hauptfarben aus Lassnigs Bildern) Lassnig sowohl als junges Mädchen, erwachsene Frau und alte Dame zu portraitieren und ihre Gefühlswelt und ihr Wesen durchgängig glaubhaft aufrecht zu erhalten. Dieser Einsatz der gleichen Schauspielerin für unterschiedliche Altersstufen braucht seine Zeit, um den Zuseher:innen bewusst zu werden. Zu Beginn hat die Verwirrung die Oberhand, was wiederum gut zur Grundstimmung des Films passt, der mehr Ausdruck der Lassnigschen Gefühlswelt als chronologisches Bio-Pic sein will.
Entscheidende Szenen aus Maria Lassnigs Leben – Maria sitzt in ihrem Atelier, neben ihr das herunterhängende Schnurtelefon, durch das sie eben von ihrer im sterben liegenden Mutter erfahren hat, die sie ihres Gefühls nach auch während ihres Lebens verlassen hat – wechseln sich ab mit Nahaufnahmen von am Boden zerfließender Farbe. Ameisen helfen Lassnig nach einer enttäuschenden Ausstellung ihre Bilder zu tragen und ein Tiger spaziert als Verdoppelung (im Regel steht ebenfalls eine Tiger-Figur aus Porzellan) in Lassnigs Atelier. Zusätzlich zu diesen fantastischen Elementen wird zwischendurch auf weißem Hintergrund eine Auswahl an Lassnigs Bildern gezeigt, die durch ihre statische Einstellung das Gesehene zerschneiden.
Maria Lassnigs Zärtlichkeit kommt durch ihren, bei den Zuschauer:innen scheinbar selbst am Körper zu spürenden, Schmerz zum Ausdruck. In der Behutsamkeit, mit der sie mit den Tieren in Ihrer Umgebung umgeht, im zarten Türkis und verwaschenem Zyklam ihrer Bilder. Lassnig ist aber genauso sehr zäh, unerbittlich und eigensinnig. Das muss sie auch sein, um sich in der vorherrschenden patriachalen Gesellschaft ihrer Zeit zwischen ihren männlichen Kollegen, wie ihrem jungen Geliebten und Maler Arnulf Rainer, durchzusetzen. Denn »Eine Frau muss dreimal soviel schuften wie ein Mann, nur weils sie eine Frau ist.«
Maria will nicht, so wie ihre Mutter es gerne hätte, um jeden Preis heiraten, sie will unabhängig sein und sich nur an jemanden binden, der sie wirklich versteht. Durch ihre starke, selbstständige Haltung wird den Zuseher:innen erst wieder in der letzten Szene des Films bewusst, wie sehr Maria Lassnig ihr ganzes Leben lang nach einem Verbündeten als Ausweg aus ihrer Einsamkeit gesucht hat. Marias Blick fixiert den Himmel, ihr Assistent (berührend fürsorglich: Lukas Watzl) ist bei ihr, als sie versucht in den Farben des Sonnenuntergangs ihren unerreichbaren Liebhaber zu entdecken. Nun stirbt Lassnig wirklich, der Kreis mit der zu Beginn des Films todkranken Maria schließt sich und wer bei dieser abschließenden Szene nicht die eine oder andere Träne wegblinzeln musste, werfe den ersten gefühlskalten Batzen Farbe auf die Leinwand.
»Mit einem Tiger schlafen« gelingt als feinfühlige, poetische Erzählung von Lassnigs Leben und ihrem Oeuvre. Das Bio-Pic schafft es, sich durch Aspekte wie die zeitliche Darstellung eines fast ganzen Menschenlebens durch eine einzige Schauspielerin und fantastische/traumähnliche Momente von anderen aktuellen Film-Portraits großer Persönlichkeiten (Priscilla, Back to Black/Amy Winehouse) abzuheben. Diese Besonderheiten dienen als Vertiefung in die persönliche Gefühlswelt Lassnigs und lassen das Publikum nicht nur an ihrem äußeren Wirken, sondern auch, wie von Lassnig gewollt, an ihrem Inneren teilhaben.
Kritisch betrachtet werden kann die anfangs durchaus verwirrende Art der Darstellung des jeweiligen Alters von Maria Lassnig. Durch die ungewöhnlich radikale Besetzung Birgit Minichmayrs muss man sich auf ein Rätsel einlassen und Anhaltspunkte für das jeweilige Alter in der Körpersprache Minichmayrs und ihrer jeweils getragenen Kleidung suchen. Dieser Aspekt kann, zusätzlich zu den doch sehr hart geschnitten, statischen Einblenden von Lassnigs Bildern, als zu irritierend empfunden werden und von der Message des Films ablenken. Ich persönlich habe diese filmischen Entscheidungen dagegen als erfreuliche Abwechslung zu anderen zu sehr auserzählten, “vereinfachten“ Filmen gesehen. Die Konzentration des Publikums wird gefordert und es wird eine Art des “intelligenten“ Schauens vorausgesetzt, die ich als Respekt der Regisseurin gegenüber den Zuschauer:innen empfinde. Anja Salomonowitz erschafft durch ihren behutsamen Blick eine Verbeugung vor der Ausnahmeperson Maria Lassnig, die zu den bedeutendsten internationalen Künstlerinnen der Gegenwart zählt.
Sex, Drugs und die Kunst-Bubble – ASCHE
Janis Steinhöfler
Filmstill Asche (Sixpackfilm)
R: Elena Wolff
At 2024
Sie sitzen hier in ASCHE – so beginnt die Anmoderation des neuen Spielfilms von Elena Wolff.1 Nicht nur saßen wir kollektiv in einem Kinosaal, in welchem, sobald das Licht ausgeht, der Film ASCHE gespielt werden würde, nein, wir saßen auch metaphorisch in Asche, so wie die Charaktere im Film.
In ihrem* neuen Film greift die Regisseurin* Elena Wolff auf selbstironische Weise die (Wiener) Kunstszene auf. Eine Künstlerin, die sich mit ihrer Kunst entfalten will, ein selbstverliebter pseudofeministischer Künstler, ein halb glückliches, halb unglückliches lesbisches Paar aus zwei Performerinnen und eine nekrophile Frau bilden hierbei die zentralen Figuren. Dabei verkörpert der Freund der Protagonistin vermutlich am besten, was man sich vorstellt, wenn man „Wiener Kunstszene“ hört. Er ist selbsternannter Feminist. Doch natürlich nicht nur, um die Beziehung zur Protagonistin, unter dem Deckmantel des „wir geben uns keinen patriarchalen Vorstellungen einer Beziehung hin“ auf seiner Seite offenzuhalten. Zudem ist er ein bekannter Fotograf, seine Lieblingsmotive natürlich kaum volljährige nackte Frauen.
Die Protagonistin sieht sich dabei in der Rolle der Muse gefangen. Sie hat weder einen Namen, noch wird sie für etwas anderes außer ihrer Rolle als Muse wahrgenommen. Ihr gegebener, künstlerischer Name „Lulu“ soll dabei die Verbindung zur Figur der Lolita unterstreichen. Dies wird auch auf einer symbolischen Ebene vermittelt, indem man unter anderem das Buch Lolita in der Wohnung der Protagonistin finden kann. Sie möchte aus dieser objektifizierenden Rolle ausbrechen. Sie möchte nicht länger ausgebeutet werden. Sie möchte selbst an die Macht. Macht, die sie am Ende auch nicht glücklich stellt. Denn sie bemerkt, dass auch das vermeintliche Umdrehen der Machtposition, nicht das eigentliche Problem beseitigt – der Geltungsdrang aller privilegierten pseudo-feministischen Künstler*innen und das gesamte System, welches sich dahinter versteckt. Alles ist schmutzig und verschmutzend wie Asche.
Auch die Optik des Films bezieht sich auf eben diese Kunstszene, welche die Regisseurin* damit überspitz darstellen möchte. Dabei erinnern Kostüm und Make-up an Drama-Serien wie Euphoria, die auf ähnliche Art die Selbstdarstellung der jüngeren Generation nachbilden. Viel Glitzer, bunte Farben, knappe Tops und lange, schrille – und vermutlich sehr teure – Nägel. Durch diesen Exzess wird aber nicht nur die vermeintliche Individualität der Charaktere ausgedrückt. Er zeigt uns zudem, ähnlich wie die großen Wohnungen mit Ausblick über ganz Wien, erneut, wie wohlhabend die Charaktere sind und unterstreicht ihre privilegierte Position.
Darüber hinaus entsteht durch Make-up und Kostüm im Zusammenhang mit der Musik eine Ebene der Künstlichkeit. Hört man Lieder, in welchen es um Drogenkonsum und coole Outfits geht, beschreiben diese das Geschehen im Film und heben dadurch eine gewisse Performativität hervor. Performer*innen und Künstler*innen, die Songs über Drogen hören, während sie selbst Drogen nehmen.
Doch diese Ebene wird nicht nur durch die Musik erzeugt, sondern auch von den Monologen und Dialogen unterstützt. Die Sprache befindet sich in einem konstanten Wechsel zwischen Aussagen, die aus Poetry-Slam Texten stammen könnten, und Unsicherheiten, die durch Wiederholungen und Füllwörter ausgedrückt werden.
Auch durch die Kamera wird eine solche Künstlichkeit konstruiert. Die Kamerafrau Nora Einwaller spielt dabei mit verschiedenen Perspektiven und verkanteten Aufnahmen. Dabei sticht vor allem die erste Szene ins Auge. Durch einen POV-Shot befindet sich die Zuschauerschaft in der Rolle der Protagonistin, die gerade von einem Ex-Liebhaber bedroht und angegriffen wird. Dies unterstreicht bereits das Thema der toxischen Männlichkeit und die Problematik von Hierarchien, welche zentrale Themen des Filmes sind. Im Gegensatz dazu, endet der Film mit einer Einstellung, in welcher wir auf die Protagonistin hinabblicken.
Durch die Selbstironie und selbstreflektierte Art der Regisseurin* und des gesamten Teams schafft es ASCHE somit auf eine künstlerische Weise, die Künstler*innen Szene zu kritisieren und die Oberflächlichkeit dieses Bereichs darzulegen.
- Elena Wolff benutzt die Pronomen they/them und im Deutschen sie*/ihr* ↩︎
Die „Favoriten“ des österreichischen Schulsystems?
von Johanna Berger
Schule, vor allem Volksschule ist in Österreich ein System, das fast jede*r am eigenen Leib erfahren und im Erwachsenenleben immer weiter vergessen hat. Oft bleiben nur die persönlichen Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit zurück. Schule, in der Erinnerung eines Erwachsenen, ist ein festgefahrenes, statisches System und wenn man nicht mehr selbst darin festhängt, wieso bedarf es dann einer Veränderung?Genau an diese Stelle tritt Beckermanns „Favoriten“ und bricht mit den einseitigen Verbildlichungen des Schulsystems á la „American Highschool“. Strukturen, die außenstehenden Betrachter*innen sonst verdeckt bleiben werden offen gelegt und aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Schule, für Menschen außerhalb des Systems neu, für Schul-, Lehr- und Bildungspersonal leider nicht.
Es klingelt, und aus Lautsprechern strömt laut eine Neuadaption von „Head, Shoulders, Knees and Toes“. Die Kinder der 2. Klasse der größten Volksschule im 10. Wiener Bezirk tanzen zusammen mit ihrer Lehrerin Frau Idiskut im Klassenzimmer. Die Sessel sind zurückgerückt, Hände zucken durch die Luft, die Kindergesichter sind konzentriert, der Raum gefüllt mit Kinderlachen und die Kamera ist mittendrin.
Drei Jahre lang begleitet Ruth Beckermann gemeinsam mit einem Kamerateam die Klasse durch den Schulalltag. Scheinbar gewohnt an die ständigen Beobachter, gehen die Kinder ihren täglichen Aufgaben nach. Die Kamera findet sich so gut in das schulische Geschehen ein, dass man als Betrachter*in fast den Eindruck bekommt man könnte den Kinder beim Denken zusehen. Grund dafür ist der gewählte Ausschnitt der Kamera. Das Bild ist meist eng, es gibt kaum Platz um die Gesichter der Kinder herum. Spielerisch scheint Ruth Beckermann dadurch auf „die eigene Welt“ anzuspielen, in der sich die Volkschüler*innen befinden.
Dennoch sind die Kinder alles andere als verschlossen. Nach dem Motto „das ist meine Welt, komm ich zeig sie dir!“ bringen sich die Schüler*innen im Laufe der Dokumentation mehr und mehr in das filmische Geschehen ein. Selbst führen sie Interviews und drehen kleine Alltagvideos am Handy, welche im Kinosaal für Erheiterung des Publikums sorgen. Im Umfeld der Kinder ist die Kamera wie ein alter Vertrauter positioniert, außenstehend aber gebilligt gewährt sie den Zuschauenden einen Einblick in die Gefühls- und Lebenswelt der Schüler*innen, die einem Erwachsenen meist verwehrt bleiben. Auch der Lehrkörper bleibt vom Blick der Kamera nicht verschont. Mit Frau Idiskut erweitert die Kamera den Blick von der „Kinderwelt“ hin zur „Erwachsenenwelt“ und legt so die Strukturen der Wiener Volksschule offen. Das Bild um den Lehrkörper bei der Konferenz herum wirkt weiter, die Schule muss sich einer größeren Struktur unterordnen. Gesprochen wird vor allem von Lehrkraftmangel, unzureichenden Förderungen, zu wenig Material: Von fast allem fehlt etwas und das macht sich im Laufe von Ruth Beckermanns Film bemerkbar.
Die Schüler*innen Frau Idiskuts Klasse sind Kinder mit Migrationshintergrund, vielleicht bereits der dritten Generation. Alle lernen sie Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache während sie versuchen, zwei Welten unter einen Hut zu bringen. Gespräche über die Welt und Politik führen den Zusehenden die Bezugspunkte, welche die Schüler*innen haben, klar vor Augen. „Aber was ist mit Syrien? Immer nur geht es um die Ukraine“ sagt ein Schüler, als die Klasse Geschehnisse und Nachrichten bespricht. Sowohl Österreich als auch das Land der Familie wird als Heimat betrachtet und in der Schule zum Ausdruck gebracht. Dabei versucht Frau Idiskut beides so gut wie möglich zu fördern, um den Kindern das Gefühl von Zugehörigkeit weiter zu vermitteln: „Stimmt“, sagt sie, „Syrien darf man nicht vergessen, was passiert denn in Syrien grade?“.
Wo es geht, versucht die Lehrerin ihre Kinder zu fördern und stößt dabei immer wieder an Grenzen. Material sowie Lehrkräfte sind zu wenig vorhanden, um 25 Kinder ausreichend und individuell fördern zu können. Immerhin stehen Klassen wie die von Frau Idiskut leider nicht im Fokus der österreichischen Bildungspolitik.
Vor allem im vierten und letzten Volksschuljahr der Kinder, wird der Druck unter dem sowohl Lehrerin als auch Schüler*innen stehen nochmals hervorgehoben. Die Kamera macht noch einen weiteren Schritt auf die Kinder zu, spricht nun mit ihnen, bringt sich in das Klassenzimmergeschehen mit ein. Vor allem bei der (Deutsch-)Schularbeitsrückgabe fallen Tränen, das Ziel eines österreichischen Gymnasiums, verbunden mit Status, rückt in die Ferne.
Tränen fallen auch auf Seiten der Lehrkraft als diese verkündet keinen Ersatz für den Zeitraum ihres Mutterschutzes gefunden zu haben, die Ressourcen sind für die Klasse einfach zu begrenzt.
„Favoriten“ ist eine Dokumentation die durch das Storytelling nicht nur einen einzigartigen Blick auf das Schulleben und die Gefühlswelt der Kinder preisgibt, sondern auch die Strukturen und Probleme des österreichischen Schulsystems freilegt. Während Zusehende sich an dem neu gewonnen Blickwinkel und den unverfälschten Reaktionen der Kinder erheitern, wird klar, das Lehrpersonal der größten Volksschule in Wien hat schon länger mit Mängeln an allen Ecken und Enden zu kämpfen. Ruth Beckermanns Film schafft es, durch gelungene Kameraführung und Schnitt eine Verbindung zwischen dem privaten und dem schulischen Umfeld der Kinder herzustellen und so den Spaß aber auch den Druck unter dem die Schüler*innen als auch die Lehrer*innen stehen zu verdeutlichen.
Die Dokumentation zeigt also wirklich etwas Neues: Schule als System und Gemeinschaft, Schule aus einer Perspektive, die sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte berücksichtigt und sonst verdeckte Strukturen freilegt.
Die Welt durch die Brille der kindlichen Naivität: Favoriten
von Yannick Wermann
In ihrem filmhistorischen Programm „Die erste Schicht“ widmete sich die Diagonale 2024 der Migrationsgeschichte von Deutschland und Österreich mit dem Ziel, die Perspektive zu verschieben und Gastarbeiter*innen nicht nur bei den Herausforderungen und Ungerechtigkeiten zu zeigen, vor die sie ihr Gastland stellte, sondern auch, wie sie zu einer „reichhaltigen Kulturproduktion“1 beitragen.
Mitten ins Herz trifft da der diesjährige Eröffnungsfilm Favoriten (AT, 2024) von Ruth Beckermann also nicht nur die Zuschauer*innen, sondern auch die zentrale Thematik der aus der Migration resultierenden kulturellen Vielfalt. Über drei Jahre hinweg hat Beckermann in ihrem Dokumentarfilm die Klasse einer der größten Volksschulen Wiens begleitet, in der die Einwanderungsgesellschaft wie in einem Brennglas gezeigt wird. Sinnbildlich hierfür steht die Sequenz, in der der Film die Klasse bei einer Führung durch den Stephansdom begleitet. Auf die Frage des Pfarrers, wie viele denn in dieser Klasse römischkatholisch seien, antwortet die Klassenlehrerin zu seiner Überraschung, dass es ein paar serbisch-orthodoxe gäbe, aber sonst eigentlich niemanden, der römisch-katholisch sei.
Der Film hat als wichtiges Dokument der fortgeschrittenen Migrationsgeschichte unserer Gesellschaft den Finger am Puls der Zeit und bildet eine heranwachsende Generation ab, die leider auch nach über 60 Jahren mit Versäumnissen der Gastländer in puncto Integration zu kämpfen hat. Im Beschreibungstext der Diagonale zur Kernproblematik, der sich der Film annimmt, heißt es: „Mehr als 60 Prozent aller Schüler:innen an Wiener Volksschulen haben nicht Deutsch als Erstsprache, an manchen Schulen sind es bis zu 100 Prozent. Gleichzeitig gibt es einen Mangel an Lehrpersonen und Betreuungspersonal.“2 Dazu gibt Favoriten Einblicke in die Herausforderungen als Lehrer*innen, die unter einer hohen Belastung stehen und rückt beispielhaft die Beziehung zwischen der geduldigen Lehrerin Ilkay Idiskut und ihren Schüler*innen ins Zentrum.
Favoriten 2024 / Ruth Beckermann Filmproduktion
Auf der einen Seite sehen wir die Lehrerin in ihrer herausfordernden Vorbildfunktion für die Kinder. Mit der Minimierung von Vorurteilen und dem ständigen Hinterfragen von kulturellen Vorstellungen – wie zum Beispiel wieso eine Frau nicht selbst darüber bestimmen darf, was sie zum Schwimmen anzieht – versucht sie die Schüler*innen weg von festgefahrenem Gedankengut zu erziehen und ihnen eine gesunde Skepsis beizubringen. Sie macht sich stark für reflexive und empathische Fähigkeiten. Damit lehrt sie aber auch die Filmzuschauer*innen über einen respektvollen Umgang für verschiedene Kulturen und der Bemühung um Gleichberechtigung. Auf der anderen Seite stellt die Dokumentation mit dem Blick auf die Kinder die Frage, ob mit dem aktuellen Schulsystem und den fehlenden Mitteln überhaupt so etwas wie eine kulturelle bzw. gesellschaftliche Gleichberechtigung und Chancengleichheit möglich ist. Der Film zeigt uns Sprache und Bildung als Privileg, so sehen wir die Schüler*innen auf sehr unterschiedlichen Sprach- und Bildungsständen sowie vor großen Problemen bei vermeintlich leichten Aufgaben. Schließlich scheut sich die Dokumentation auch nicht davor, mit der Kamera lange draufzuhalten, während ein Mädchen vor allen Augen an der Matheaufgabe scheitert, bei der sie überlegt, welche Zahl auf 40 folgt. Hierbei beweist Beckermann ein enormes Fingerspitzengefühl und bewegt sich auf einem schmalen Grat, bei dem Problemsituationen ausgehalten werden ohne die Kinder bloß zu stellen.
Ohnehin wird durch die minimale Narration der Dokumentation – sie kommt ganz ohne Talking Heads oder Voice-Over aus – eine Dramatisierung der abgebildeten Situationen gesenkt und vielmehr die Erfahrung und der Zustand innerhalb der Klasse betont. Dadurch verstärkt sich der ‚Einblick‘-Charakter des Films in den geschützten Raum und es werden narrativ Lücken gelassen, die Raum zur Reflexion lassen und die Zuschauer*innen zum Abgleichen mit eigenen Erfahrungen einladen. Favoriten macht seine Übertragbarkeit auf andere Schulen deutlich, in dem weitestgehend auf Establishing-Shots verzichtet und so eine Fragmentierung des Raums wie dem Klassenzimmer und der Schule vorgenommen werden, die somit den Ort austauschbar machen. Stattdessen bleibt die Kamera die meiste Zeit ganz nah an den Protagonist*innen dran, wodurch wir nicht nur ganz genau ihr Verhalten beobachten können, sondern auch ihre Perspektive einnehmen.
Hieraus ergibt sich auch die größte Stärke des Films: Er zeigt uns die Welt durch die Brille der kindlichen Naivität. Durch sie werden ernste politische Themen wie der Ukraine-Krieg behandelt und gesellschaftliche Fragen untersucht, wie zum Beispiel die Frage danach, wie man Kultur definiert. Trotz – oder gerade wegen – dieser kindlichen Naivität werden überaus gehaltvolle Diskurse aufgemacht, die gar nicht so weit vom wahren Kern entfernt sind. Es ist auch diese kindliche Naivität die dem Film seinen Charme und seine (manchmal unfreiwillige) Komik verleihen. Hierbei zeigt sich der Film besonders liebevoll gegenüber jedem einzelnen Kind sowie der Lehrerin und dürfte nicht zuletzt vielen Zuschauer*innen ans Herz gehen. Schließlich wird es zum Ende hin überaus emotional und dabei macht Favoriten deutlich, dass er nicht nur ein trockenes Gesellschaftsporträt ist, sondern auch das Abbild von einzelnen aneinanderhängenden menschlichen Schicksalen, die die Dokumentation sowie wir als Zuschauer*innen über einen langen Zeitraum begleitet haben.
Zwei Filme, Eine Jugend: Spätadoleszenz und Coming of Age auf der Diagonale 23. Eine vergleichende Kritik zwischen Wer wir einmal sein wollten und Breaking the Ice
Tobit Levi Rohner
Auf der diesjährigen Diagonale liefen zwei Filme im Programm, die sich einer ähnlichen Grundprämisse bedienen: Eine junge Frau, irgendwo in ihren frühen Zwanzigern zu verorten, geht zwei verschiedenen Tätigkeiten nach, die ihre Lebenszeit beanspruchen und definieren. An der Schwelle des Erwachsenwerdens nehmen ihre Träume und Ziele, die hilfsbedürftige Familie, die ihre Aufmerksamkeit beansprucht, und eine generelle Orientierungslosigkeit wichtige wie erniedrigende Rollen ein. Die typischen Motive der Spätadoleszenz und der Coming of Age-Trope werden also in beiderlei Filmen verarbeitet. Selbst so manche Nebenfiguren haben in ihren Konzepten identische Charakterisierungen.
Während Wer wir einmal sein wollten seine Protagonistin Anna als Aushilfe in einer Schauspielschule arbeiten und die Matura nachholen lässt, widmet sich Mira in Breaking the Ice ihrer Eishockeykarriere, ohne das Familienunternehmen der Weinherstellung zu vernachlässigen. Beide Leben sind geprägt vom Wunsch nach vollständiger Autonomie und den zurückhaltenden Regulierungen der familiären Bindung. Beide Filme verfolgen auf einer ästhetischen Ebene einen Inszenierungsstil des trockenen Realismus. Aber wo der eine Film visuell und inhaltlich Langeweile evoziert, baut der andere sein Leitmotiv erfolgreich aus.
Film besitzt die Möglichkeit, Lebensrealitäten nahezubringen, die ansonsten gemeinhin untergehen. Anna aus Wer wir einmal sein wollten befindet sich stets im Umfeld der Schauspielerei – dadurch wird klar, wie nah und zugleich fern sie dem Traum ihrer Kindheit ist und in dieser Distanz verharrt. Sicherlich mag das vielen nachvollziehbar erscheinen. Allerdings wurde die Wunschvorstellung, die nicht erfüllt werden kann, auch in der zeitnahen Filmgeschichte ausgearbeitet. Wer wir einmal sein wollten verpasst es, etwas neues oder interessantes zu zeigen, etwas, das die dröge Erzählweise legitimiert. Breaking the Ice hingegen wählt einen anderen Ansatz. Dieser Film beginnt mit einer Einstellung, die ein Eishockeystadion zeigt, wobei die Wandfassade zusammen mit der spiegelnden Eisfläche eine zugespitzte, ovale Form ergibt. Eine Form, die an ein Auge erinnert. Und sogleich wird ein Puck Richtung Kamera geschossen, als handle es sich um einen direkten Angriff auf die Netzhaut. Auch wenn Breaking the Ice sicherlich nicht allzu radikal ist, so formuliert der Film seine eigene Aufgabe, eine Lebensrealität zu zeigen, die medial untergeht. Hier spielen Frauen auf dem Eis – in einem spärlich besuchten Stadion. Bezahlt werden sie im Gegensatz zu den männlichen Gegenparts nicht, müssen selbst für das Training aufkommen und nebenbei
hauptberuflich einer Tätigkeit nachkommen. Auf Miras Schultern, der Kapitänin des Teams, lastet zusätzlich ein dementer Großvater, eine emotional verschränkte Mutter und ein weggelaufener Bruder. Zwischen den beiden Filmen steht also einerseits das oft gesehene Theaterspiel als Metapher unerreichter Träume und auf der anderen Seite mit Fraueneishockey eine selten veranschaulichte Lebensrealität.
Bezogen auf die Protagonistinnen beider Filme, so ist Anna bereits auserzählt. Viel mehr Charakterisierung als in dieser Kritik bereits angesprochen ist ihrer redundanten Figur nicht gegönnt. Mit Mira versucht sich Breaking the Ice hingegen an einem Charakterporträt, das – wie der Titel suggeriert – von einer emotional verschlossenen Person handelt. Sie ist aber nicht teilnahmslos. Über Dating-Apps trifft sie sich zum Beispiel mit etwas älteren Frauen für diskreten Sex, aber als eine neue Spielerin zum Team dazustoßt, bleibt Mira distanziert. Wenn auch an der eigenen Haltung scheiternd, sucht Mira nach persönlicher Freiheit und Emanzipation. Mit der queeren Facette Miras, die nicht allpräsent ist, sie als Person aber prägt, und der Zurückhaltung erhält die Figur nötige Charaktertiefe, um einen Film tragen zu können (was man bei Wer wir einmal sein wollten leider vermisst).
Verdächtig komische Ähnlichkeit haben aber beide Filme bei einer Nebenfigur aufzuweisen. Der verantwortungsscheue Bruder, der eigentlich die Familie verlassen hat, nun plötzlich beim Arbeitsplatz der Protagonistin erscheint und Unterkunft sowie finanzielle Mittel erfragt, ist in ihren Grundzügen zumindest die gleiche Persona. Allerdings finden sich Unterschiede in der Ausarbeitung. Die Charakterentwicklung des Bruders Patrick bei Wer wir einmal sein wollten
endet genau da, wo sie eingeführt wurde. Er startet mit Schulden bei zwielichtigen Personen, auf die er sich eingelassen hat, und verbleibt dann auch in der Kriminalität. Von einer Milieustudie kann man hier aber beim besten Willen nicht sprechen – Der Film bettet Patricks Verhalten nicht in gesellschaftliche Gegebenheiten ein oder findet andere interessante Ansätze. Bei Breaking the Ice flüchtet der Bruder Paul zwar auch vor Verantwortung, allerdings greift seine Charakterisierung komplexer. Er flüchtet vor allem vor einer dysfunktionalen Familie, die nicht in der Lage ist, Traumata aufzuarbeiten. Anstatt die ausgeleierte „Er ist jetzt Gangster“-Schiene abzufahren geht Paul einem alltäglichen Schauspiel nach: In Bars entwirft er seine Persona immer wieder neu, nennt sich mal Josef, mal Gustav und steckt Mitmenschen mit der Lust zum hedonistischen Spiel an – auch das Publikum. Damit verkörpert er den Ansatz, Identität multipel zu verstehen und lehnt es ab, nach der Essenz des Seins zu suchen, da sie sowieso nicht existiert. Welche Dynamiken dann durch das Treffen mit seiner Schwester entstehen, arbeitet der Film vielschichtig auf.
Mag man aber die Figuren im Gesamtkonstrukt genauer unter die Lupe nehmen, so fällt auf, dass sich Wer wir einmal sein wollten nicht nur im Inszenierungsstil, sondern auch bezüglich Geschlechterrollen versteift gibt. Mit Thesen und Aussagen von Feminism WTF im Hinterkopf (einem Film, der ebenfalls im Rahmen der Diagonale gezeigt wurde), verbleiben die Figuren in
ihren jeweiligen geschlechterkonformen Fracks. Patrick ist der aggressive, der entweder zu Gewalt oder einer mürrischen Ablehnung greift, denn er scheint nicht in der Lage zu sein, seine inneren Konflikte zu kommunizieren – typisch maskulin. Anna hingegen hat die sozial kompetenten Fähigkeiten vorzuweisen. Man könnte sagen, sie bemuttert ihren Bruder geradezu. Dabei wird keinerlei Lösung angeboten, auch kein Spiel findet statt, lediglich die Geschlechterregeln werden reproduziert. Nun kann man dies damit verteidigen, dass der Film einen Ansatz des Realismus wählt (wobei damit das Scheitern der Geschlechterrollen in der Realität ignoriert wird) oder dass eine Aufarbeitung von Geschlechternormen nicht das Ziel des Films ist. Vor allem aber unterstreicht damit Wer wir einmal sein wollten die Qualitäten bezüglich sex und gender in Breaking the Ice. Nicht nur sind hier die Rollen auf den Kopf gestellt – so steckt eher in Anna eine subversive Aggression und Paul ist der sozial offenere, der sich gerne feminin bewegt – es wird aktiv mit den Rollenbildern gespielt, um sie zu unterwandern. Anna posiert halbnackt vor dem Spiegel, in Positionen, die die Muskeln ihres Körpers betonen. Oder sie zieht sich in Bars männlich codierte Kleidung über und schmückt ihr Gesicht neben Eyeliner mit der Bemalung eines Vollbarts. Anna wird nicht einzig und allein auf diese Charakterzüge reduziert, vielmehr geschieht dies in einer Beiläufigkeit, die die queere Ader des Films authentisch stabilisiert und zeigt, dass die Regisseurin Clara Stern Ahnung von der Materie hat.
Damit lässt sich sagen, dass Wer wir einmal sein wollten, so nett er als Abschlussfilm eines Studenten erscheinen mag, vor allem in einer uninspirierten Belanglosigkeit verkümmert – er thematisiert einen Stoff, der weder inhaltlich noch formal erfrischend wirkt. Breaking the Ice arbeitet die gleichen Motive interessanter aus, weiß mehr mit der steiften Inszenierungsform anzufangen und bietet mehr Figurentiefe – auch wenn die Figuren auf den hölzernen Dialogen etwas ausrutschen, erweist sich dieser Film als wesentlich jugendlicher.