Lien May Lucas
„Produktiv und schön wäre es, wenn sich Zuschauer*innen unseres Filmes auf eine Weise inspiriert fühlen und auch die Grenzen der Fantasie abtasten wollen, indem sie in ihrer und aus ihrer eigenen Realität Etwas erschaffen – sei es aus Zuneigung oder Ablehnung unseres Werks.“ Diese oder ähnliche Worte fielen im Nachgespräch zur Projektion von Austroschwarz und begleiten mich seither, denn genau da beginnt meine Reflexion über diesen Film. So folgt nun eine persönliche Anekdote.
Schon als Kind war sie sich sicher: sie kann zaubern. Nicht so wie im Märchen, sondern existenziell. Magie als das, was kommt, wenn es keinen anderen Ausweg gibt – als Kraft, die auftaucht in der Aussichtslosigkeit und etwas Lebensveränderndes tut. Vielleicht ist es genau das, was Austroschwarz sichtbar macht. Eine Zauberei, die sich, im Fall von Mwitas Realität, inmitten einer Welt aus Ausschlüssen, Rassismus, Trauma und Unsichtbarkeit als Möglichkeit zur Sichtbarwerdung, zur Selbstermächtigung behauptet. Als Zauberei, die vielleicht nur das innere Kind spüren kann, dem Kind entspringt – das Kind, das auf einem Seil balanciert, rückwärts gehend, Erinnerungen sortierend. Und genau so fühlt sich auch der Film an: wie ein Seilakt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Imagination.
Der Debütfilm Austroschwarz, von Mwita Mataro und Helmut Karner nimmt uns mit in eine Welt, die auf mehreren Ebenen funktioniert. In Greenland, einem imaginierten Ort, lebt Blue Kid, eine blaue Kartoffel, die sich in einen grünen Farbtopf tauchen muss, um sich grün zu färben, um nicht ausgegrenzt zu werden. Diese Geschichte von Blue Kid ist poetisch erzählt und ist, trotz ihres fantasiereichen Ursprungs, keine Spielerei. Viel eher verschafft sie der Realität von Mwita – eine weitere Ebene des Films – eine Dringlichkeit, diese Welt außerhalb ihrer Mündungen in der Realität zu erforschen. Ihre Möglichkeiten und Einengungen gilt es zu ertasten. Belassen wir es erstmal bei der Zusammenführung der animierten und der dokumentarischen Ebene, denn sie ist das Vehikel einer filmischen Form des Films, die sich weigert, sich entscheiden zu müssen: Dokumentarfilm oder Animation? Biografie oder Allegorie? Erinnerung oder Vision? Wie machen wir uns das Leben erfahrbar und unser eigenes Narrativ sichtbar?
Ich greife nun auf etwas voraus, was uns im letzten Drittel des Filmes auf visueller sowie narrativer und persönlicher Ebene begegnen würde: „Die gerade Linie ist gottlos“, heißt es im Film und auch bei Hundertwasser – und genauso wird auch erzählt: nicht linear, sondern verwoben, versponnen, verknüpft. Und dennoch zieht sich ein roter Faden durch die fast 100 Minuten Filmlänge. Die animierten Sequenzen und dokumentarischen Aufnahmen sprechen miteinander, weben sich ineinander, hinterlassen Spuren im jeweils anderen. Ein prägnantes Beispiel aus dem Film ist eine mehrfach wiederkehrende Sequenz, in der Blue Kid und seine Eltern auf der Couch sitzen und die Nachrichten schauen. In den Nachrichten wird Bericht über den rassistischen Mord an Marcus Omofuma mit visuellem Archivmaterial erstattet. Dieser ist, wie uns der Protagonist und Ko-Regisseur Mwita Mataro durch die Kamera mitteilt, einer der Gründe und Motivationen für die Entstehung des Films. Während die Welt der Blues und Greens sonst in einem Farbenmeer schwimmt, breitet sich hier die schwarz/weiße Finsternis des Fernsehers wie ein Virus aus und raubt dem Wohnzimmer all ihre strahlende Kraft. Die Familie sitzt erstarrt und verängstigt da – die Fantasie ist von der Realität infiziert – doch nicht aussichtslos. Wenn Fantasie etwas ist, dass unserer Erfahrung der Realität als notwendige Praxis entspringt, so muss sie auf die eine oder andere Weise auch in der fantastischen Welt konfrontiert werden.
Mwita Mataro und die drei Kinder, die kollaborativ der Welt der Blues und Greens Leben einhauchen, ersuchen sich mittels der Fiktion mit dem Leben vertraut zu machen. Nicht die Logik rechtfertigt die Verschmelzung der beiden Sphären, sondern das Bedürfnis des Protagonisten, eine Inszenierung zu gestalten, die es ihm ermöglicht, sich die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zu erklären. Oder eher noch keine Erklärung, sondern eine Anleitung für ein Leben unter fremdbestimmten Umständen in sich zu finden.
Die Form des Films entblößt sich immer mehr als Inhalt und mit ihr die darin liegende politische Praxis. Sichtbarkeit entsteht hier nicht durch bloße Repräsentation, sondern durch figürliche Umcodierung – durch das Erfinden von neuen Bildern in bekannten Rahmenbedingungen, die ihren Zusammenhang nicht verstecken, sondern ihn ausstellen. Die Ablehnung der Geradlinigkeit macht dies unter anderem möglich. Gleichzeitig liegt in der Nennung des Hundertwasser-Zitats auch eine Kritik an der Geradlinigkeit, die der Fortschritt mit sich bringt. Und ein latenter Appell, Mittel gegen diese mitreißende Geradlinigkeit zu finden, um zu entdecken, was zwischen
der Illusion, hinter den Kurven zu finden ist. In Austroschwarz könnte man sagen, dieses Mittel sei mit dem Fabulieren gefunden, ein Fabulieren wie wir es aus der postkolonialen Theorie Saidiya Hartmanns unter dem Begriff der kritischen Fabulation kennen. Eine Strategie, um aus den gewaltvollen Lücken des Archivs, aus dem Schweigen der Geschichte, neue Narrative zu spinnen. Austroschwarz praktiziert diese Fabulation filmisch.
Die Geschichte im Greenland wird sich unter anderem an realen Erfahrungen von Mwita entlanghangeln, von ihnen Inspiration schöpfen, in alten Mustern neue Möglichkeiten einer eigenen, aber immer kollektiv gedachten, Befreiungsreise finden. Wovon sich zu befreien ist, gilt es für Zuschauende und Mitwirkende des Films herauszufinden. So wird Blue Kid im Kino bedrohlich diskriminiert, weil er, gestresst davon, pünktlich zum Film zu erscheinen, sich dazu entscheidet, nicht in den grünen Farbtopf zu steigen. Während wir Blue Kids Erfahrung auf der Soundebene des Films erzählt bekommen, sehen wir eine Reinszenierung von Mwitas rassistischer Diskriminierungserfahrung im Filmcasino Wien, in welchem er sitzt und eine händische Pistole gegen sich gerichtet bekommt. Blue Kid, motiviert von dieser Interaktion, begibt sich auf eine Mission mit dem Ziel, die Geschichten der Blues zu sammeln und sie in einem noch leeren Notizbuch zu sammeln. Die Zusammenführung animierter und dokumentarischer Sequenzen erinnern auch hier an die Technik des Webens, sie beinhaltet die Textur, die nur dem Zusammenhang entspringt, findet sich in der Montage und in der Kuration des Filmmaterials und erschafft einen Rahmen auf formaler Ebene. Dieser Rahmen verlangt auf unausweichliche Weise, die gezeigten Inhalte miteinander zu verweben, Züge der persönlichen Reportagen in der Welt des Blue Kid und andersrum zu sehen.
Diese Momente sind nicht nur Rückgriffe auf das Biografische – sie sind Übersetzungen. Traumata, Schmerz und Erinnerung werden in andere Formen gegossen und durch Fantasie bearbeitbar gemacht. Gerade weil der Film sich nicht an eine „realistische“ Logik hält, sondern sich seinem eigenen Rhythmus, seinem eigenen Gefüge überlässt, gelingt es ihm, kollektive Erfahrung spürbar zu machen. Wie ein Gewebe, das sich bei jeder Bewegung verändert – zieht man an einem Faden, bewegt sich alles. Die Reise geht auch in der dokumentarischen Sphäre weiter. Parallel zur Mission von Blue Kid reist Mwita durch die Welt der Erfahrungen Schwarzer Menschen in Österreich, sammelt sie in Form von Dialogen und hält sie
dokumentarisch in Form dieses Films fest. Hierzu passt das Bild des Brunnens, der nie überläuft, aber in seiner Tiefe kein Ende kennt. Blue Kid springt auf dieser Reise in den Brunnen der Erinnerung, den Mwita Geschichte für Geschichte, Gespräch für Gespräch befüllt. Bald kann man weiter aus ihm Wissen und Kraft ziehen, doch der Film übermittelt klar und deutlich, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft diese Praktik des Sammelns und Schöpfen schwarzer Geschichte nicht vorsieht und die Arbeit von Betroffenen selbst verrichtet werden muss. So ist auch die negative Reaktion des Oberhaupts der Greens nicht zu umgehen, als Blue Kid am Ende seiner Reise die Macht, die in den neu gewonnen, wiederentdeckten, endlich erzählten Geschichten der Blues liegt, ausüben will und die Greens stürzen möchte, sodass keiner hinter einer performativen Farbe sein selbst verstecken muss. Walter Benjamin schreibt:
Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.
Die Barbarei als Kultur getarnt entpuppt sich in der Unterdrückung der Repräsentation und Geschichte schwarzer Menschen und bemächtigt sich an dem Wissen einer Geschichte der Sieger. Und ein Film wie Austroschwarz gilt es als eine notwendige Maßnahme und gelungene Art der Gegenerzählung, gleichzeitig auch Produkt, dass sich den Strukturen dieser Barbarei nicht entziehen kann, diese aber herausstellt, zu begreifen.
Somit ist es kein Zufall, dass Austroschwarz in der österreichischen Filmgeschichte als singuläres Zeitdokument steht. Es geht hier nicht nur um die Sichtbarkeit Schwarzer Erfahrung in Österreich, sondern um die Frage, wie erzählt werden kann, wenn das, was erzählt werden soll, eigentlich gar nicht vorgesehen ist. Der Film bietet keine Antwort und im Sinne des großen Ganzen kein Happy End. Aber er gibt uns ein Werkzeug in die Hand: das Notizbuch. Die Erlaubnis zu fabulieren. Die Einladung, selbst zu zaubern und einen eigenen Weg der Heilung, des Lebbarmachens in einer unlebbaren Welt zu erkunden.
Denn fliegen wird sie vielleicht nie. Doch manchmal fühlt sich Leben an wie fliegen – und das nur, weil sie zaubern kann.