Richtung Zukunft durch die Nacht: eine Ode an den 60-Minuten-Film

Fabia Nova Wirtz

Passend zur Zeitumstellung, die in der gleichen Nacht stattfand, präsentierte die Diagonale im Rahmen ihrer „Finale“-Retrospektive einen Film, der mit dem Fluss der Zeit auf mehr als eine Art und Weise spielt und dabei sowohl wunderbar entrückend als auch profund nachvollziehbar ist.

Richtung Zukunft durch die Nacht

Schon von der Anfangssequenz an positioniert sich Richtung Zukunft durch die Nacht radikal zur Idee der Linearität, indem stilistische Disruptionen von Raum und Zeit mit deterministischen Konzeptionen von Leben, Zwischenmenschlichkeit und Schicksal gegenübergestellt und kombiniert werden. Dissonanz und (A-)Synchronität sind somit schon von Anfang an die Hauptmotive des Films und erstrecken sich über alle filmischen Ebenen.
Trauer und Freude, Komödie und Tragödie, Sinn und Nonsense, Vorwärts, Rückwärts, Harmonie und Zwist werden nicht bloß gegenübergestellt, sondern als symbiotisch gezeichnet.

Dies zieht sich durch den Rest des Filmes, der vor allem in seinem Einsatz von Schnitt und seinen Einzelszenen der genretechnischen Entrückung immer experimenteller wird, dennoch aber eine Geschichte von gefundener und wieder verlorener Liebe erzählt, die im Kern von ihrer Alltäglichkeit lebt. Surrealismus wird hier immer wieder ein-, und anschließend wieder von ihm weggeführt, manche Aspekte, die zu Beginn wie kontextlose Schnittricks zur Evozierung einer traumhaften Atmosphäre erscheinen, werden im Verlaufe des Filmes
emotional und narrativ eingerückt, andere werden stehen gelassen und bleiben bloße Versatzstücke und Pointen. Sie sind Teile eines Ganzen, welches jedoch durch bewusste Desorientierung und deplatziert wirkende Sequenzen nie ganz greifbar wird. Stattdessen machen sie die Rezeption des Werkes durch Reaktionen, die von Viszeralität, Emotionalität und Ambivalenz durchzogen sind, so persönlich wie nur möglich. Alltagsszenen des Kennenlernens wechseln sich mit Genreparodien und symbolisch-traumhaften Sequenzen ab.
Identifikation wird möglich gemacht, anstatt direkte Erlebnisse zu vergleichen und das Publikum wird so eingeladen, die Entrückung nachzuvollziehen, die in Momenten des Kennenlernens und des Abschieds entstehen kann und wird gleichzeitig auf die zweite Hälfte des Films vorbereitet, die in ihren Schnittentscheidungen besonders experimentell ist. Hier wird die subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum instabil, ohne jedoch jemals arbiträr zu werden. Stattdessen nutzt Richtung Zukunft durch die Nacht Entrückung, um einen unterbewussten Horror der Misskommunikation und des Verlusts nachzufühlen, und dennoch Trost in diesen zu finden – Erlebtes und Nostalgie werden zu Traum und Trauma zugleich. Musikalische Motive wiederholen sich und werden fallen gelassen und an manchen Stellen spielt die Musik durch ironische Cover von älteren Klassikern mit ihrer eigenen Historizität. Auch hier bleibt die Zeit stehen – oder eben nicht. Szenen doppeln sich, ob implizit oder explizit und Charaktere begegnen sich wieder und verpassen sich, in einem Rückwärtsgang, der genau so vorwärts gelesen werden kann und dem Titel entsprechend Richtung Zukunft durch die Nacht läuft. Ähnlich wie in der Anfangssequenz bleibt Stringenz und Konsequenz auch in Momenten der gefühlten Diskontinuität möglich, wenn nicht sogar unausweichbar.

Dies wird auch durch das Format des Filmes möglich gemacht, denn Richtung Zukunft durch die Nacht ist mit einer Stunde Laufzeit verhältnismäßig kurz. So muss der Film keine narrativen Pausen machen und kann in jeder Sequenz seine eigene Absurdität, seine maximalistischen Schnitt-, Licht-, und Musikentscheidungen und emotionale Tragweite in einer Ballung hinweg exerzieren, die über gewohnte Spielfilmgrenzen hinweg geht, ohne jedoch überfordernd und unnachvollziehbar zu werden. Die kurze Spielzeit erlaubt es, sich als Zuschauer*in komplett im Geschehen und Exzess zu versenken und mit dem schnellen Pacing mitzugehen, ohne sich in Reizüberflutung, Sinneskrise, Langeweile oder komplett persönlicher Retrospektive zu verlieren. Diese Prozesse können stattfinden, laufen während des Films nebenbei, treten aktiv wahrscheinlich jedoch erst nach Ende des Filmes ein, vor allem, da dieses in seiner Bezugnahme zum Anfang einen Denkansatz bietet, an dem sich das
Publikum entlangarbeiten kann, jedoch nicht muss. Dazu schneidet der Film zu viele Themen an, lässt sie zu sehr offen oder beantwortet sie an anderen Stellen dennoch explizit.

So ist Richtung Zukunft durch die Nacht nicht nur in seiner intradiegetischen Nutzung von Zeit, als Katalysator und Entfremdungsinstanz zugleich, transgressiv, auch Filmische Mittel der Raumgestaltung, Montage und Musik zielen auf eine ambivalente Zeitwahrnehmung abdies alles zugunsten eines Films, der sich seiner eigenen Laufdauer bewusst ist und geschickt damit arbeitet, indem dezidiert gegen die Pacingkonventionen des Spielfilms erzählt wird, Charakterentwicklungen asynchron ablaufen und Akte übersprungen werden können. Zeitliche Entrückung und Dissonanz werden hier zu den Hauptmotiven, um keine Zeit für rationale Erkläransätze des Geschehens zu lassen. Stattdessen lässt man sich vom Film, der erzählten Liebesgeschichte nicht unähnlich, intensivst emotional mitreißen, nur um dann wieder auseinander gehen zu müssen. Vielleicht etwas unerwartet und zu abrupt, dafür aber im Guten.

Eine kleine Welt, schön und voller Sorgen. No Name City – Eine Kritik

Jonas Platz

In einer Westernstadt ohne Namen: Der Hombre spricht niederösterreichisch, der Sheriff heißt Fritz, Winnetou, der Häuptling der Apachen sieht dem Schlagersänger Waterloo verdächtig ähnlich. Handys, Tetrapackmilch und Filterzigaretten sind selbstverständlich, im Saloon gibt es Ottakringer. Was zunächst nach einem Sketch aus einem Film von Michael „Bully“ Herbig klingt, ist in Wahrheit Florian Flickers Porträt eines Themenparks, der 2001 bei Wöllersdorf eröffnet wurde. Die Dokumentation No Name City (AUT 2006) zeichnet den verbissenen Kampf um die Existenz der gleichnamigen Westernstadt, obgleich die virtuose Verdichtung der zwischenmenschlichen
Konflikte einen bisweilen glauben lässt, man befände sich in einem Spielfilm.

No Name City

Denn rein auf die Handlung fokussiert, ist Florian Flickers Meisterwerk ein Melodram. Im Zentrum steht der Konflikt um die Machtstrukturen innerhalb der Westernstadt. Ursprünglich dort als Hausmeister angefangen, reißt der vormalige Abteilungsleiter Armin Groß die Verwaltung des Themenparks sukzessive an sich, was auf den Protest der anderen Bewohner stößt. Viele waren von Anfang an dabei: der Erlebnispark ist ihr Lebenswerk. Wir sehen Menschen, die sich für diesen Lebensstil abseits der sie belächelnden restlichen Welt entschieden haben und ihr Dasein vollumfänglich dem Erhalt der Stadt widmen, während wechselseitige Intrigen, kaputte Eisenbahnen und die ständige Sorge, die Pferde über den Winter zu bringen, das Idyll der Westernstadt stören.

Diese melodramatischen Konflikte innerhalb des alternativen Wild West Mikrokosmos stellen als solche in Zeiten immer fortwährender Reality-Soaps keine Besonderheit dar: entscheidend ist die Tatsache, dass es sich tatsächlich um einen rein dokumentarischen Film handelt, der so pointiert collagiert ist, dass man kaum glauben kann: Hier ist alles real, nichts ist gestellt. Dieses Wissen ist wesentlich für die außergewöhnliche Seherfahrung, die No Name City ermöglicht. „Film ist nicht nur das, was man sieht“, postuliert der Filmwissenschaftler André Bazin. In seinen Arbeiten hebt er immer wieder die besonderen Vorzüge des guten Dokumentarfilms hervor. Gut im Sinne Bazins meint eine wahrhaft immersive und glaubhafte Wirkung, die nur dann entstehen kann, wenn die Kamera wesentlicher Bestandteil des Geschehens wird und nicht von außen oder oben herab auf das Thema blickt.

Eben das ist bei No Name City der Fall. Dieser Eindruck wird durch den Umstand, dass Florian Flicker und sein Team sich bewusst für einen Monat in die Westernstadt einquartiert hatten, um somit hautnah am Geschehen beteiligt zu sein, nurmehr unterstrichen. Bestimmte Konflikte wurden durch die Anwesenheit der Kamera wohl erst möglich oder zumindest befeuert. Bemerkenswert, weil damit die Realisierung des Films „völlig identisch ist mit dem Geschehen von dem er […] berichtet: weil er selbst nur ein Aspekt dieses Abenteuers ist.“

In No Name City wird dies immer wieder deutlich: In einer relativ ausführlichen Szene sehen wir, wie Flicker selbst sich einkleiden lässt und zu einem von ihnen wird. Wir zum bloßen Zusehen verdammten Anderthalbstundentouristen – ein Schicksal, dass durch die Schließung der Stadt seit 2009 endgültig besiegelt ist – können dabei nicht umhin, uns über die schrulligen Individualisten, die über die symbolische Bedeutung von Adler- und Fasanenfedern philosophieren oder in Apachenkostümierung österreichische Chartschlager singen, zu amüsieren; und auch Flicker kann sich in manchen Szenen ein wenig trockene Süffisanz nicht verkneifen.

Dennoch – und das ist die große Stärke von No Name City – gelingt es dem Film, vom natürlichen Voyeurismus – der jedem Dokumentarfilm anhaftet – einmal abgesehen, das Schicksal der Stadt und der dort Lebenden in seiner ganzen Tragweite einzufangen, ohne zu verurteilen. Natürlich müssen wir lachen, wenn zwei Frauen im Gespräch anfangen, Männer mit Schuhen gleichzusetzen. Doch gleichzeitig spüren wir, dass die beiden viel Enttäuschung und Leid mit
Männern erlebt haben – die eine meint sogar, sie sei in die No Name City vor einem geflohen.

Auch dass sich der Untergang der Westernstadt 2009 als unheilvoller cantus firmus während des ganzen Films bereits prophetisch andeutet, wirkt an keiner Stelle fatalistisch oder zynisch. No Name City ist ein meisterhaftes Porträt über eine alternative Lebenswelt, in die viele Menschen all ihre Mühe gesteckt haben, auf der Suche nach einem gemeinsamen Zufluchtsort, der immer wieder von altbekannten Problemen des Alltags heimgesucht wird und die Utopie dieser Menschen zu zerstören droht. Gleichzeitig ist er ein virtuoses Beispiel, das die großartigen Möglichkeiten des Dokumentarfilms aufzeigt, wobei er stets im Dienste des Lebens steht.

Vergessene Träume

Julia Schmid

Unerfüllte Lebensträume und Perspektivenlosigkeit sind Themen, die viele junge Menschen beschäftigen. Der Coming-of-Age-Film von Filmakademie-Absolvent Özgür Anil Wer wir einmal sein wollten, welcher auf der diesjährigen Diagonale präsentiert wurde, beschäftigt sich genau damit.

Wer wir einmal sein wollten


Der Film erzählt die Geschichte von Anna ( gespielt von Anna Suk) und ihrem Leben. Sie kommt aus schwierigen Familienverhältnissen, holt die Matura nach und arbeitet gleichzeitig in einer Schauspielschule als Portier. Eigentlich würde sie gerne selbstauf der Bühne stehen. Ihr Freund (Gregor Kohlhofer) gibt ihr nicht die Zuneigung, die sie gerne hätte, ihr bester Freund Jakob (Phillipp Laabmayr) ist für sie hingegen uninteressant.
Das alles klingt nach dem banal-deprimierenden Leben, das bestimmt
viele Menschen nur zu gut aus eigenen Erfahrungen kennen. Als Annas Bruder
Patrik (Augustin Groz) plötzlich bei ihr auftaucht und aus dubiösen Gründen dringend Geld braucht, bricht Chaos aus.
Zwischen Schule, Arbeit, Liebesproblemen und familiären Streitigkeiten verliert Anna sich selbst und vergisst, ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen Raum zu geben.

Bemerkenswert ist hierbei Annas Charakter, denn es wirkt den gesamten Film so, als würden sie die Ereignisse nicht besonders tangieren. Obwohl in ihrem Leben eigentlich nichts so funktioniert, wie sie es sich vorstellt, macht sie keine großen Anstalten, Dinge drastisch zu verändern. Ob man es nun als Gleichgültigkeit oder einfach nur als Stressresilienz interpretiert, bleibt einem selbst überlassen.
Die Figuren des Films haben klare Beziehungen zueinander, sind aber trotzdem
distanziert. Obwohl Annas Liebesbeziehung einseitig ist und sie eindeutig nicht
genug wertgeschätzt wird, lässt sie alles widerstandslos über sich ergehen.
Durch die Antrieblosigkeit kommt es in dem Film zu keiner nennenswerten
Charakterentwicklung der Protagonistin. Es gibt keinen Bogen im Sinne von ,,wer sie einmal sein wollte“ hin zu ,,wer sie sein möchte“. Annas Entscheidungen klingen weder durchdacht noch zielführend. Beispielsweise möchte sie, anstatt ihrem Traum Schauspielerin zu werden nachzugehen, wie aus dem Nichts Rechtswissenschaften studieren.
Das Ende des Filmes erscheint ein wenig abrupt, andererseits bekommt man auch das Gefühl, dass jederzeit ein Ende möglich gewesen wäre, weil es keinen
Höhepunkt in der Narration gibt.

Insgesamt ist der Film reduziert und realistisch. Er zeigt ein Leben, das bestimmt genau so irgendwo auf der Welt stattfinden könnte. Trotzdem schafft es der Film, nicht langweilig zu sein, denn man fragt sich, wie Annas Leben weitergeht und ob sie genug Mut aufbringen kann, zu ihren Träumen zu stehen und Gefühle zu zeigen.
Dass sie letzteres nicht kann, zeigt, dass es nicht immer die perfekte Held:innenfigur geben muss, bei der sich alle Probleme in Luft auflösen und ein Happy End auf sie wartet.
Die ästhetische Ebene ist ebenso reduziert wie die der Handlung: Es gibt keine
musikalische Untermalung und nur wenige Schnitte. Stattdessen setzt der Film auf Plansequenzen, wie gleich die erste Szene zeigt.
Auffällig ist ein Realismus-Stilbruch, als zwei Mal ein kleines Mädchen zu sehen ist, welches die junge Anna symbolisieren soll. Einmal springt das Mädchen aus dem Fenster und kann nicht von Anna gerettet werden, beim zweiten Mal sehen sich beide gemeinsam einen Film an. So wird metaphorisch dargestellt, dass Anna im Laufe des Films einen Zugang zu ihrem inneren Kind findet. Möglicherweise ist das die Verbindung zu dem Filmtitel, denn die beiden müssen sich daran erinnern, wer sie einmal sein wollten, um es im Jetzt in die Tat umzusetzen.

Ebenfalls erwähnenswert ist die Metaebene, die sich bei der Produktion des Filmes gebildet hat. Die Darstellung von Schauspieler:innen aus der Sicht von Schauspiel-Studierenden war spannend zu beobachten, denn es werden vor allem Vorurteile wie Eingebildetheit reproduziert.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Wer wir einmal sein wollten ein Film ist, der ohne inhaltliche Tiefe zeigt, dass man nach seinen Träumen streben und sich nicht dem pessimistischen Alltagsleben hingeben sollte.

Filmkritik: Wer wir einmal sein wollten

Richard Konstantin Götz

Hauptfigur Anna trauert einen Film lang ihrem Kindheitstraum nach – den
Filmakademie-Absolvent Özgür Anil sich durch sein Langfilmdebüt vermutlich erfüllt.

Wer wir einmal sein wollten – Anna wollte Schauspielerin werden, ihre Situationship hofft auf eine Karriere als Theaterregisseur und ob ihr Bruder je ernsthafte Pläne hatte, ist zweifelhaft.
Regisseur und Drehbuchautor Özgür Anil inszeniert ein Fest der Trostlosigkeit. Seine Abschlussarbeit an der Filmakademie Wien feierte im Januar 2023 auf dem Max-Ophüls- Festival Premiere und wurde im Anschluss auch auf der Diagonale gezeigt. Egal wer Anil einmal sein wollte, erreicht hat er sicher mehr als seine beklagenswerten Protagonisten. Umso erstaunlicher die Geduld und Hingabe, mit der er seine Figuren in ihrer Lethargie suhlt.

Wer wir einmal sein wollten


Wenn Anna (Anna Suk) nicht gerade ihr Geld als Sekretärin verdient oder ihren (Fast-)Partner Konsti (Gregor Kohlhofer) bei seiner Abschlussinszenierung als Theaterstudent unterstützt, ringt sie in der Abendschule mit ihrer Matura. Als ihr lebensinkompetenter Bruder Patrick (Augustin Groz) in ernsteren Schwierigkeiten zu stecken scheint, gewährt sie ihm Obhut,
während die gemeinsame Mutter im Krankenhaus landet. Zwischen Berufswelt, Beziehung und Familie geht es für Anna mehr so bergab.

Wer wir einmal sein wollten ist ruhig inszeniert, mit langen Einstellungen und weitgehend ohne Musik. Auch inhaltlich geht es weniger um eine Handlung als eine Bestandsaufnahme. Anna streift mit dem immergleichen ermüdeten Gesichtsausdruck von Szene zu Szene, bei ihrem Bruder wird es auch nur einmal turbulent, als er von der Polizei gestellt wird. Regisseur Anil
zeigt uns einen Zustand des Scheiterns und legt uns bleiernen Pessimismus auf die Schultern.
Das tut er, indem er Figuren zeichnet, die entweder dumm sind oder unsensibel oder im Fall von Anna einfach kraftlos. Er schafft eine deprimierende Welt, in der Menschen aufgrund ihrer nervigen Lebensumstände nun mal nicht anders können, als hoffnungslos zu sein. Borges könnte sagen: „Wir sind so arm an Tapferkeit und Glauben… Wir können nicht an den Himmel glauben, wohl aber an die Hölle.“ Was Borges kritisiert, scheint bei Anil witzlos Programm zu
sein. Gründlich walzt der Film seine Trostlosigkeit aus.
Er dauert zwar nur 83 Minuten, mindestens 90 davon aber benutzt er, um mit einer trägen Kamera belastete Menschen zu filmen, die auf Gedeih und Verderb nicht imstande sind erwachsen miteinander zu kommunizieren oder ihr Selbstmitleid zu verwinden. In seiner Unreife ist der Bruder dann auch
etwas überzeichnet. Kann ihm wirklich nicht klar sein, dass ihm gekündigt wird, wenn er wiederholt die Arbeit schwänzt? Muss er es wirklich für eine gute Idee halten, einen Raubüberfall zu begehen? Nicht zuletzt nimmt seine Verhaftungs-Szene unbegründet viel Raum ein: Die ganze Zeit geht es um Anna, die ganze Zeit wissen wir nicht, in welchen Schwierigkeiten genau er steckt – aber seine dramatische Festnahme müssen wir natürlich live
miterleben.

In der latent Haneke-haften Inszenierungsweise kommt es auch so vor, als würde der Film einen besonderen künstlerischen Anspruch auf Tiefgang stellen: die langen Takes, die Ibsen- Aufführung im Film, ein suizidales Mädchen. Tatsächliche Vielschichtigkeit lässt sich dann
aber wenig ausmachen.
Der Film stellt die Frage: Wie schlecht geht es uns?
Geflissentlich vergisst er zu fragen: Wie schlecht muss es uns gehen?
Anil zeigt uns zentraleuropäisches Alltagsleid und inszeniert es als
auswegloses Martyrium. Und schöpft daraus einen Flair von Künstlertum und Lebensernst. Diese Dramaturgie funktioniert nur auf den Schultern schwacher, geschlagener Figuren. Damit feiert Wer wir einmal sein wollten eine angeblich unvermeidliche Trostlosigkeit und pflegt einen selbstherrlichen Pessimismus. Das ist nicht nur langweilig und unglaubwürdig, es ignoriert auch die Chance mit vergleichbaren Mitteln etwas Intelligenteres, Ernsthafteres und
Beeindruckenderes zu erschaffen.

Denn gerade Özgür Anil müsste doch wissen, dass man werden kann, wer man einmal sein wollte.

Absturz des Gewöhnlichen

Theophil Bousek

In Özgür Anils Spielfilmdebüt Wer wir einmal sein wollten, begleiten wir die
junge Wienerin Anna (Anna Suk) bei ihrer schwerfälligen Suche nach einer
selbstbestimmten Identität. Wir sehen aber auch die feinfühlige
Inszenierung einer sozialen Gemengelage, die im ständigen
gesellschaftlichen Streben um Anerkennung, Gewinner und Verlierer
hervorbringt.

Wer wir einmal sein wollten


In dieser Gemengelage steht Anna auf der Verliererseite. Denn in ihrer
durchgehenden Lethargie fällt es ihr sichtlich schwer, die eigenen wie auch die
kollektiven Erwartungen an ein gelungenes Leben zu erfüllen: Als Kind wollte sie Schauspielerin werden, nun arbeitet sie im Sekretariat einer Schauspielschule und versucht, halbherzig die Matura nachzuholen, um dann später vielleicht einmal Jus zu studieren.
Verunsichert von hohen Selbstansprüchen manövriert sie sich in eine ungünstige Position. Sie wirkt zerrissen zwischen ihrem Streben nach einem abgesicherten gesellschaftlichen Status (als zukünftige Anwältin) und ihrem
unerfüllten Kindheitstraum (Schauspielerin), den sie sich selbst nicht recht
eingestehen kann.

Wir sehen Anna aber nicht nur beim vermeintlichen Scheitern ihrer Selbstentfaltung. In Wer wir einmal sein wollten wird auch die Furcht vor dem sozialen Absturz vorgeführt – in einer Gesellschaft, die vor allem eines belohnt: das Besondere.
Denn im Gegensatz zum Besonderen – das im Film unter anderem durch den
Abschlusstrubel einer Schauspielklasse repräsentiert wird – wird dem Gewöhnlichen mit nüchternen Bildern unterschwellig ein prekärer Beigeschmack verliehen. Die Möblierung von Annas Wohnung, ihre Kleidung, der neu-wienerische Akzent ihrer Sprache: all das verweist auf die allgemeine, gewöhnliche Qualität der Lebensumstände der Protagonistin. Es sind Umstände, die nicht direkt problematisch dargestellt werden. Ihnen wohnt aber eine gewisse Instabilität inne, die unter anderem auch durch die prekäre Situation des Problembruders Patrick (Augustin Groz) zur Geltung kommt, der sich vor geldeintreibenden Kriminellen versteckt; oder
auch von Annas Mutter, die mit einem gesundheitlichen Problem im Krankenhaus liegt, während ihre von eben diesen Gefährdern verwüstete Wohnung leer steht.


Achtung Absturz!
Dass in dieser prekären Normalität vieles im Argen liegt, wird auch durch das
wiederkehrende Motiv des Absturzes deutlich, das in drei unabhängigen Szenen des Films zum Vorschein kommt: Zunächst in Annas Traum, in dem ihr ein kleines Mädchen bei der Arbeit in der Schauspielschule begegnet. Wortlos läuft es an ihr vorbei und springt aus dem geöffneten Fenster. Später im Film sehen wir Patrick im Stiegenhaus des Gemeindebaus, in dem sich die Wohnung seiner Mutter befindet, als plötzlich zwei Bälle lautstark von oben herunterstürzen. Und schließlich, als die Polizei vor der Wohnung steht und Patrick in seiner Panik kurz darüber nachdenkt, der ausweglosen Situation über einen Sturz aus dem Fenster zu entkommen. Mit der Metapher des Absturzes verweist der Film auf eine subtil mitschwingende Angst vor dem Kontrollverlust; vor einer sich zuspitzenden sozialen Entwertung, die sich wie eine schwere Decke über das Leben der Protagonistin legt.
Das Prekäre des Gewöhnlichen ist ein entscheidender Aspekt des Films, der insbesondere auch in Annas scheinbarem Scheitern erkennbar wird. Sie schafft es nicht, einem impliziten Selbstverwirklichungsimperativ gerecht zu werden und bewegt sich deshalb stets entlang des Abgrunds eines sozialen Abstiegs.


Lebe lieber ungewöhnlich
Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch Die Gesellschaft der
Singularitäten
(2017) eine soziale Formation der spätmodernen westlichen Welt, die auch auf Wer wir einmal werden wollten übertragen werden kann. Reckwitz
beschreibt die tendenzielle Abkehr einer “sozialen Logik des Allgemeinen” hin zu einer “sozialen Logik des Besonderen”, wonach das Einzigartige, das Singuläre, in allen gesellschaftlichen Bereichen der Spätmoderne valorisiert werde, während das Allgemeine, das Serielle, das Gewöhnliche, das in der industriellen Moderne noch bis zum Ende der 1970er-Jahre das soziale Streben in westlichen Gesellschaften dominiert hatte, eine soziale Abwertung erfahre. Diese Abwertung des Gewöhnlichen geht auch mit der Abstiegsangst einer traditionellen Mittelklasse einher, die sich in einer zunehmend kulturalisierten Wertelogik um ihre gesellschaftliche Position sorgt und die uns im Film mit den Figuren von Anna und ihres Bruders exemplarisch vor Augen geführt wird.

Dass hier die “soziale Logik des Besonderen” am Werk ist, wird gewissermaßen auch durch die Rezeption des Films als Tragödie deutlich. Denn im Gegensatz dazu, könnte der Film durchaus auch aus einer “sozialen Logik des Allgemeinen” gedeutet und Annas Situation weniger als ein Scheitern interpretiert werden, sondern eher als gute Voraussetzung für ein geordnetes Leben, das der Allgemeinheit, dem Kollektiv oder auch einfach nur der Familie verpflichtet ist. So lesen wir diesen Film aber
nicht! Wir wollen, dass Anna endlich den Mut fasst und Schauspielerin wird. Dass sie auf ihr inneres Kind hört, ihre Träume erfüllt und ein besonderes, einzigartiges Leben führt. Dass sie sich selbst verwirklicht, als authentisches und singuläres Subjekt anerkannt wird und als Teil der neuen Mittelklasse in einer kosmopolitischen Metropole ein durch und durch kulturalisiertes Leben lebt.

Denn so und nicht anders träumt es sich eben in der Spätmoderne.