Absturz des Gewöhnlichen

Theophil Bousek

In Özgür Anils Spielfilmdebüt Wer wir einmal sein wollten, begleiten wir die
junge Wienerin Anna (Anna Suk) bei ihrer schwerfälligen Suche nach einer
selbstbestimmten Identität. Wir sehen aber auch die feinfühlige
Inszenierung einer sozialen Gemengelage, die im ständigen
gesellschaftlichen Streben um Anerkennung, Gewinner und Verlierer
hervorbringt.

Wer wir einmal sein wollten


In dieser Gemengelage steht Anna auf der Verliererseite. Denn in ihrer
durchgehenden Lethargie fällt es ihr sichtlich schwer, die eigenen wie auch die
kollektiven Erwartungen an ein gelungenes Leben zu erfüllen: Als Kind wollte sie Schauspielerin werden, nun arbeitet sie im Sekretariat einer Schauspielschule und versucht, halbherzig die Matura nachzuholen, um dann später vielleicht einmal Jus zu studieren.
Verunsichert von hohen Selbstansprüchen manövriert sie sich in eine ungünstige Position. Sie wirkt zerrissen zwischen ihrem Streben nach einem abgesicherten gesellschaftlichen Status (als zukünftige Anwältin) und ihrem
unerfüllten Kindheitstraum (Schauspielerin), den sie sich selbst nicht recht
eingestehen kann.

Wir sehen Anna aber nicht nur beim vermeintlichen Scheitern ihrer Selbstentfaltung. In Wer wir einmal sein wollten wird auch die Furcht vor dem sozialen Absturz vorgeführt – in einer Gesellschaft, die vor allem eines belohnt: das Besondere.
Denn im Gegensatz zum Besonderen – das im Film unter anderem durch den
Abschlusstrubel einer Schauspielklasse repräsentiert wird – wird dem Gewöhnlichen mit nüchternen Bildern unterschwellig ein prekärer Beigeschmack verliehen. Die Möblierung von Annas Wohnung, ihre Kleidung, der neu-wienerische Akzent ihrer Sprache: all das verweist auf die allgemeine, gewöhnliche Qualität der Lebensumstände der Protagonistin. Es sind Umstände, die nicht direkt problematisch dargestellt werden. Ihnen wohnt aber eine gewisse Instabilität inne, die unter anderem auch durch die prekäre Situation des Problembruders Patrick (Augustin Groz) zur Geltung kommt, der sich vor geldeintreibenden Kriminellen versteckt; oder
auch von Annas Mutter, die mit einem gesundheitlichen Problem im Krankenhaus liegt, während ihre von eben diesen Gefährdern verwüstete Wohnung leer steht.


Achtung Absturz!
Dass in dieser prekären Normalität vieles im Argen liegt, wird auch durch das
wiederkehrende Motiv des Absturzes deutlich, das in drei unabhängigen Szenen des Films zum Vorschein kommt: Zunächst in Annas Traum, in dem ihr ein kleines Mädchen bei der Arbeit in der Schauspielschule begegnet. Wortlos läuft es an ihr vorbei und springt aus dem geöffneten Fenster. Später im Film sehen wir Patrick im Stiegenhaus des Gemeindebaus, in dem sich die Wohnung seiner Mutter befindet, als plötzlich zwei Bälle lautstark von oben herunterstürzen. Und schließlich, als die Polizei vor der Wohnung steht und Patrick in seiner Panik kurz darüber nachdenkt, der ausweglosen Situation über einen Sturz aus dem Fenster zu entkommen. Mit der Metapher des Absturzes verweist der Film auf eine subtil mitschwingende Angst vor dem Kontrollverlust; vor einer sich zuspitzenden sozialen Entwertung, die sich wie eine schwere Decke über das Leben der Protagonistin legt.
Das Prekäre des Gewöhnlichen ist ein entscheidender Aspekt des Films, der insbesondere auch in Annas scheinbarem Scheitern erkennbar wird. Sie schafft es nicht, einem impliziten Selbstverwirklichungsimperativ gerecht zu werden und bewegt sich deshalb stets entlang des Abgrunds eines sozialen Abstiegs.


Lebe lieber ungewöhnlich
Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch Die Gesellschaft der
Singularitäten
(2017) eine soziale Formation der spätmodernen westlichen Welt, die auch auf Wer wir einmal werden wollten übertragen werden kann. Reckwitz
beschreibt die tendenzielle Abkehr einer “sozialen Logik des Allgemeinen” hin zu einer “sozialen Logik des Besonderen”, wonach das Einzigartige, das Singuläre, in allen gesellschaftlichen Bereichen der Spätmoderne valorisiert werde, während das Allgemeine, das Serielle, das Gewöhnliche, das in der industriellen Moderne noch bis zum Ende der 1970er-Jahre das soziale Streben in westlichen Gesellschaften dominiert hatte, eine soziale Abwertung erfahre. Diese Abwertung des Gewöhnlichen geht auch mit der Abstiegsangst einer traditionellen Mittelklasse einher, die sich in einer zunehmend kulturalisierten Wertelogik um ihre gesellschaftliche Position sorgt und die uns im Film mit den Figuren von Anna und ihres Bruders exemplarisch vor Augen geführt wird.

Dass hier die “soziale Logik des Besonderen” am Werk ist, wird gewissermaßen auch durch die Rezeption des Films als Tragödie deutlich. Denn im Gegensatz dazu, könnte der Film durchaus auch aus einer “sozialen Logik des Allgemeinen” gedeutet und Annas Situation weniger als ein Scheitern interpretiert werden, sondern eher als gute Voraussetzung für ein geordnetes Leben, das der Allgemeinheit, dem Kollektiv oder auch einfach nur der Familie verpflichtet ist. So lesen wir diesen Film aber
nicht! Wir wollen, dass Anna endlich den Mut fasst und Schauspielerin wird. Dass sie auf ihr inneres Kind hört, ihre Träume erfüllt und ein besonderes, einzigartiges Leben führt. Dass sie sich selbst verwirklicht, als authentisches und singuläres Subjekt anerkannt wird und als Teil der neuen Mittelklasse in einer kosmopolitischen Metropole ein durch und durch kulturalisiertes Leben lebt.

Denn so und nicht anders träumt es sich eben in der Spätmoderne.