Phänomene eines Stars, Phantome eines Landes

Péter Rácz

Als Alexander Horwath, der Filmhistoriker und langjähriger Kurator des österreichischen Filmmuseums sich 2017  entschieden hat, diese Position nicht mehr zu erfüllen, sagte die Filmproduzentin Irene Höfer nur einen Satz zu ihm „Dann musst du selbst einen Film machen. Zu dem Namen seines letzten kurierten Programmes Henry Fonda for President meinte sie „Das ist der Titel“. Drei Jahre später hat der jetzt-Regisseur zusammen mit Höfer als Produzentin und Michael Palm als Cutter und Kinematograph begonnen, die Biographie, Filmographie des oben genannten Filmstars und periphere Historien der USA von 1651, die Ankunft der Ahnen Fondas, bis 1982, das Jahr seines Todes, zu erkunden. Wie Archäolog*innen hat das kleine Team das Vermächtnis des besonderen Stars ausgegraben. Sie haben diese neben der Fossilien der Strukturen und Sentimentalitäten der Geschichte Nordamerikas und ihre Kinoindustrie und Kunst. Das Resultat ist ein mitreißender Reisefilm, der das Fiktive mit dem Realen, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen in Kommunikation stellt. Der Film sucht Wege durch die Widersprüchlichkeiten der USA entlang der spezifischen filmischen und historischen Präsenzen von Henry Fondas realen und gespielten Charakteren und umgekehrt.

„… du sitzt da, und denkst an diesen erstaunlichen Dingen zu sagen, und entscheidest dich, diese nicht auszusprechen.“ erklärt Sir Michael Caine im Rahmen einer BBC-Sendung aus 1987, was Filmschauspieler*innen eigentlich vor der Kamera machen. Von diesem besonderen Talent erzählt Horwath als Narrator und das letzte Interview von Henry Fonda in Zusammenwirkung mit Abschnitten aus den entsprechenden Filmen. Das Star hat was anderes als seine kontemporäre männliche Hauptdarsteller geleistet, er hatte nicht die extrovertierte  unermüdliche Passion Jimmy Stewarts oder die spielerische Parade von Cary Grant. Fonda hat seinen Zorn und Ozean von Gefühlen von seinem Gang, zu den angespannten Händen und schließlich von seinen Augen hinaus in die Einstellung gegossen. Diese besondere Photogenität hat seine Karriere in den Hauptrollen von Verfilmungen historischer Ereignisse und sozial-realistische Dramen und Adaptionen solcher Literatur vorgeschrieben. Dieses psychologisierende Spiel gilt derzeit als ungewöhnlich neu, denn erst später agieren in der Zeit von New Hollywood ab den späten 60er Jahren die neuen Stars, wie Robert De Niro, Fondas eigene Kinder Jane und Peter und im britischen Kino Michael Caine selbst, mit einem ähnlich reichen Innenleben der Figuren, wonach das Subjekt dieses Films gestrebt hat. Nach und während der Beschäftigung mit der filmischen Präsenz des Stars geht der Essayfilm ins Biographische.

Rückgabe der Fackel: New Hollywood Star Robert Redford gibt Fonda 1981 seinen Ehrenoscar (Oscars 2009: https://www.youtube.com/watch?v=YZZQqr2RFCs&t=183s)

Hier präsentiert der Film einen Mann, der im kleinstädtischen Milieu aufgewachsen ist, und seine Karriere unter wachsenden Rolle von Stars führte in einer Gesellschaft, die unter der Depression der 1930er das Image hedonistischer Berühmtheiten als Ablenkung von sozialer Realitäten im Kino bekommen haben. Die Persönlichkeit Fondas bekommt damit neue Spannungen, indem der introvertierter und sich selbst nicht liebender Schauspieler im tumultuösen Privatleben seiner Kontemporär*en, wie es seine fünf Ehen zeigen, auf der eigenen konsolidierten Weise, unter Erleben geringerer Publizität, einen Platz in Hollywood gefunden hat. Nach dem Aufschwung seiner Nachfrage in den 1930ern und die Revitalisierung in der Nachkriegszeit erzählt der Film nicht mehr ins Detail eingehend, sondern zur Überlegung angeboten von anderen Aspekten des Lebens von Henry Fonda. Bei so einer langen Beschäftigung mit einem Subjekt durch einen nicht ausdrücklich kritisierenden Blick taucht die Frage der Idealisierung auf. Das inhärente Paradox mit Henry Fonda for President unterstreichen die Leerstellen in seiner Geschichtsschreibung bezüglich des Stars. Da Horwath sich explizit mit dem Zeitraum 1651-1982 und filmgeschichtliche Perspektiven beschäftigt, bekommen die möglich dunkleren Seiten Fondas Legacy und die Arbeiten seiner Kinder Jane und Peter nicht wirklich das Spotlight. Dieses führt ein Segment aus, das sich mit der Krankheit und Selbstmord von Frances Seymour Fonda, Mutter der oben genannten Fondas, beschäftigt. Der Essayfilm erklärt die Verarbeitungen und die Wirkungen auf das Familienleben in einer emotional nur andeutenden Tiefe, indem er eine überblickhafte Position in der allgemeinen Analyse der Behandlung von psychischer Erkrankungen in Frauen in den 1950ern nimmt. Drückt das die Verdrängung als Traumareaktion der Männergeneration von Henry Fonda aus? Welche Rolle würde die durchgehende Erwähnung dieser Ereignisse für die Überlegungen des Films spielen? Auf jeden Fall agiert dieses Werk nicht mit der Tabloid-artige Behandlung eines unbegreiflichen Privatlebens, er liegt diese Tragödie in Sicherheit auf der obskuren Seite. In Bezug auf sein individuelles Subjekt behandelt Henry Fonda for President überwiegend filmische Präsenz und Rollenbiographie, was das Faszinierende an Film und allgemein Aufnahmen veranschaulicht. Denn durch das Schauen von Filmen erlebt das Publikum Abschnitte von Leben mit, es taucht in vergangenen Minuten von Personen ein, die sie vor der Kamera verbracht haben. Diese Intimität, die bei toten Schauspieler*innen zeitgleich unheimlich und nostalgisch wirkt, wird mit realen, vergangenen Momenten von zwar simulierten, aber wahren Erlebnissen aufgeladen. Auf diese Wirkung stützt sich der filmhistorische Aspekt dieser Reise. Der Titel selbst markiert die Verschmelzung von Darsteller einer Fiktion, die Henry Fonda oft die Rolle des Präsidenten eingeschrieben hat, und die außerfilmische Ideologie einer berühmten Person.

Henry Fonda in der TV-Serie „Maude“, in den Folgen Maude’s Mood Part 1, 2, in denen die Protagonistin ihn als idealen Präsident vorstellt (CBS, 1975) Bild: [https://www.nytimes.com/2025/04/03/movies/henry-fonda-for-president-review.html]

Politisch hat sich der Schauspieler für einen konsolidierten Progressivismus durch vernünftige, angemessene staatliche Tätigkeit eingesetzt, die ein*e demokratische Präsident*in in den Strukturen der USA für Verbesserung sozialer Zustände ausnutzen könnte. Doch welche Strukturen das sind, wird im Film, wie die meisten Institutionen der im historischen Kontext ganz jungen Vereinigten Staaten, als ewig angenommen. Selbst die in Henry Fonda for President nicht hinterfragte Existenz dieses Amtes schreibt die, zwar demokratisch zu wählende, mächtigste Person der Welt vor. Henry Fondas wahre und gespielte Persönlichkeit als Präsident kann nur das verkörpern, was diese Hegemonie des*r Eine*n fähig ist,  durch Macht zu verändern. Was in diesem Essayfilm nicht zur Verarbeitung kommt, ist die Überlegung einer der Regierungsform. Wäre das in einer 50-staatigen Weltmacht mit ganz gesteuerter Ideologien heute vorstellbar? Worauf der Film aber deutlich aufmerksam macht, sind die Idealen, die diese hohe Position für die zwei große Parteien verkörpern soll. Henry Fonda for President erkennt, dass genau diese von Gerechtigkeitsgefühl durchgeflossene Persönlichkeit einen idealen US-Präsident ausmache, zumindest für die demokratische Partei und ihre Wähler*innen. Was der Film ebenfalls nicht ausdrücklich thematisiert, sondern der Überlegung des Publikums gibt, dass diese Art von Kandidat nur als im Nachhinein perfekt-gedachter Gegenpol zu den zunehmend populistischen Strategien der gegnerischen Partei, deren ersten modernen Höhepunkt die Präsidentschaft von Ronald Reagan markierte. Ein angemessener aber den Status quo-erhaltender Leader kann nur als ernüchternder, aber nicht Versprechen-erfüllender Gegenentwurf zwischen zwei Perioden einer Reagan-artigen Zerstörung sozialstaatlichen Strukturen existieren. Denn mit den simplen Slogans zur Verminderung staatlicher Eingriffe entlang als religiös verkaufte Ideologie ist die Mehrheit des Landes anzusprechen. Genau durch die Landschaften dieser Mehrheit, die von Elitismus geprägter Politik übersehen ist, führt die geografische Reise des Films von Horwath und Co.

Die Kameraarbeit von Michael Palm präsentiert die Region, die in den USA als „Flyover-Country“ bezeichnet werden, d.h. die Landschaften zwischen den Großstädten der beiden Küsten und Grenzen. Die von Infrastruktur und demokratischer Kampagnen des letzten Jahrhunderts kaum berührten Leerstellen lassen die Gespenster der Vergangenheit und mögliche Abweichungen von der Entwicklungen des Landes freilaufen. Nicht nur werden diese Örtlichkeiten durch ihre Rollen in Fonda-Filmen erkundet, wie Früchte des Zorns (Ford, 1940), eine Suche nach alternativer Strukturen, der Essayfilm veranschaulicht zusätzlich die moderne Lage dieser Regionen und stellt diese in Kontrast mit den Realitäten von US-Hegemonie abweichenden Einordnungen, nämlich die der indigenen Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents. Aufgrund des Hauptthemas des Films, oft peripher und teils nicht ausführlich enthält der Film Historien von Native Americans, die mit ihren eigenen Stimme die Hierarchien verschiedener Stämmen und die systematische und gewaltsame Ausbeutungen dieser Gruppen von der Ankunft der weißen Siedler*innen bis heute erklären. Henry Fonda for President repräsentiert hier diese anderen Systeme im Kontext des Verlorenen, nicht als vorhandene oder zukünftig mögliche Abweichungen, Subversionen. Außer einer Instanz von modernen, von Matriarchinnen durchgeführten Wahl einer offiziellen Position wird den gegenwärtigen Lebensumständen Indigener Personen und ihren historischen filmischen Repräsentation in diesem 184-minütigen dokumentarischen Epos kein Platz gegeben. Ob das Erzählen und dabei Schreiben dieser Geschichten und Darstellungen überhaupt unter die Aufgaben, Perspektive und Fähigkeiten eines österreichischen Filmteams gehört, bleibt in diesem Film unklar. Die Beziehungen zwischen gespielten Rollen und historischen Personen zusammengeschnitten mit der zwischen Drehorten und geographischen Landschaften erzählt Horwath erfolgreicher und ausführlicher durch seine Erfahrung als Historiker und Reisender.

Die wichtigste Leistungen des Films reichen über die Laufzeit weiter hinaus, indem er die Jahren nach dem Endpunkt 1982 die USA und ihre Kinokunst vor New Hollywood neuinterpretieren lässt. Erstens bekommen die Filme und Schauspielstile des alten Studiosystems mit und ohne Henry Fonda einen neuen Blickwinkel, indem die Innerlichkeit der Performances durch die Restriktionen der Produktionsregelung „Hayes-Code“ durchscheinen. Gleichzeitig setzen zweitens Horwath und Team durch erklärende Segmente über die historischen Hintergründen von Filme wie Taxi Driver (Scorsese, 1976) das Aufkommen von Radikalisierung durch Medien und populistischen Ansprüche, die oft in Gewalt ausbrechen etwa drei Jahrzehnten vor der ersten Kampagne Donald Trumps. Die ästhetische Erfahrung dieses Essayfilms liegt im Querschnitt von Final Cut: Ladies and Gentlemen (Pálfi, 2012), der eine Liebesgeschichte ausschließlich durch die Montage von Einstellungen aus vorhandenen Filmen erzählt, und Sans Soleil (Marker, 1983), der durch den ausländischen Perspektive die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Japans durch die Biographie eines Reisenden erkundet. Was das Marketingmaterial und eine frühe Szene begreift steht thesenartig über den Film und regt zum Überlegen an. Dieses einführende Segment folgt einen Street Performer am Times Square mit einer Trump-Maske, der die charakteristischen Geste des Präsidenten zur Geldgewinnung nachahmt. Was zeigen diese Spielereien? Hat der Fanatismus provozierender Figuren die Nachfrage für aktiven Politiker*innen ersetzt? Ist das Image der mächtigsten Position der Welt nur durch Karikatur sinnvoll zu interpretieren? War das früher schon auch so? Inwiefern hat Medienverbreitung den Image-Aufbau hoher Institutionen dekonstruiert und verzerrt?

Performer als Donald Trump in Henry Fonda for President (Horwath, 2024) Bild: [https://www.diagonale.at/en/filme-a-z/?ftopic=finfo&fid=12750]

Henry Fonda for President lässt mit seiner Ästhetik und Methode der Geschichtsschreibung nicht nur die Filmkunst und das Privatleben eines klassischen Stars zu bewundern, er vermittelt Gespenster der Gründung, Entwicklung und nicht wahrgewordene Alternativen aus einem fernen, faszinierenden Land und lässt sie auf der Leinwand und jenseits davon lange nach der Laufzeit verweilen.

Endnoten

Michael Caine Teaches Acting in Film (BBC, 1987)

Online [https://youtu.be/bZPLVDwEr7Y?si=GhEhsE5SeAN_0YiQ] (FilmKunst, 2013)

The Many Ways to Avert One’s Eyes

Vincent Moeller

In ihrem Essayfilm The Many Ways to Avert One‘s Eyes begibt sich die Filmemacherin Eszter Katalin auf eine kriminologische Spurensuche. Das Verbrechen: ein gescheitertes Interview mit ihrer Großmutter. Der Versuch einer verletzten Person durch den unerbittlichen Blick der Kamera weitere Schmerzen zuzufügen. Und eine Akte unzähliger filmischer Übergriffe, die sich durch die Geschichte des Mediums ziehen, vor allem männlicher, privilegierter Regisseure, die aus ihrer Machtposition heraus die Körper marginalisierter Personen nach Belieben ausstellen. Es sind drei zentrale Spuren, denen Katalin in ihrem Film folgt: Erstens das Interview mit ihrer Großmutter, ihre Erzählungen über die Arbeit in der Fabrik. Zweitens: Die Nachstellung, das Reenactment von Filmszenen, wobei Katalin einen weiten Bogen von Louis Feuillades Les vampires (FR 1915) bis Claire Denis Beau Travail (FR/IT/RU 2000) schlägt. Und drittens: Die minutiös abgefilmten Schritte der Analogfilmentwicklung des mit einer Super 8-Kamera aufgenommenen Filmmaterials. Durch die Mehrsprachigkeit, den autobiografischen Bezug und die Selbstinszenierung Katalins in den Filmzitaten gewinnt der Film eine persönliche Tiefe und erreicht eine genuin essayistische Qualität. Bemerkenswert ist auch Katalins Montagetechnik: Mal werden auditive Ausschnitte aus dem Interview mit ihrer Großmutter über Filmbilder des Belichtungsvorgangs bei der Analogfilmentwicklung gelegt, an anderer Stelle stehen Aufnahmen einer ungarischen Dorflandschaft Seite and Seite mit nachgestellten Szenen aus Godards Le petit soldat (FR 1963). Dennoch zieht sich ein roter Faden durch den Film: Überall werden Spuren der Gewalt sichtbar, nicht körperlicher, sondern struktureller Gewalt. Und immer wieder tritt das Motiv des Abwendens oder Öffnens des Blicks in den Vordergrund.

Selbstinzenierung vor der Kamera als subversive Methode [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_5.large.jpg]

Im Jahr 2016 drehte die Filmemacherin Eszter Katalin ein Interview mit ihrer Großmutter. Diese hat von 1951 bis 1962 in einer Fabrik gearbeitet, in der Bauteile, die teils in der Waffenfabrikation zum Einsatz kamen, mit Nickel beschichtet wurden — eine Arbeit bei der ihre Hände irreparabel beschädigt wurden. Im Rahmen des Interviews wollte Katalin die Kamera ausschließlich auf die Hände ihrer Großmutter richten und somit den Fokus auf die Verletzungen lenken. Diese versteckte ihre Hände aber sofort unter dem Tisch, sodass Katalin ihr filmisches Vorhaben nicht umsetzen konnte. Es entstand ein Interview, in dem Katalins Großmutter von ihren Jahren in der Fabrik berichtet, ihre Hände sind dabei allerdings nur für wenige Sekunden sichtbar. Das Ereignis stellte Katalin vor grundlegende Fragen in Bezug auf Blickpolitiken und das Verhältnis von Kamera, filmender und gefilmter Person: Inwiefern hatte sie ihrer Großmutter ein Form der Repräsentation aufzwingen wollen, die diese selbst ablehnte? Kann der Zwang, den die Filmkamera auf die gefilmte Person ausübt, als gewaltsamer Übergriff verstanden werden? Die Kamera als Waffe? Und welche Möglichkeiten gibt es, das Medium Film ohne Übergriff, ohne Zwang zu nutzen? Das Interview mit der Großmutter bildet zum einen das initiale Ereignis filmischer Gewalt, das die Untersuchung auslöst. Zum anderen offenbaren ihre Schilderungen zur Fabrikarbeit im Verlauf des Films erstaunliche Parallelen zu Aspekten der Filmproduktion. Eines der zentralen Werke, auf das Katalin in ihren Filmzitaten Bezug nimmt, ist Harun Farockis Essayfilm Nicht löschbares Feuer. Farocki reflektiert darin über die Darstellbarkeit von Gewalt im Film, konkret über den Einsatz von Napalm durch die US-Armee im Vietnamkrieg und über die Grenzen der filmischen Darstellung dieser Grauen. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht etwa das Zeigen der durch Napalm verursachten Verletzungen eine nachhaltige Wirkung auf das Publikum entfaltet, sondern vielmehr die Offenlegung des Produktionsprozesses von Napalm. Dieser gleiche einer Black Box: Selbst die beteiligten Wissenschaftler*innen wüssten aufgrund der weit fortgeschrittenen Fragmentierung des Prozesses oft nicht mehr, wozu die einzelnen Teilprodukte eigentlich dienen. In ganz ähnlicher Weise beschreibt auch Katalins Großmutter ihre Rolle bei der Herstellung von Waffenteilen. Und auch der Film selbst gleicht in seiner industriellen Warenförmigkeit und seinem Black-Box-Charakter einem Produkt, dessen innere Funktionsweise sich nur schwer durchdringen lässt. Phasen von Verdunkelung und Enthüllung konstituieren die analoge Filmproduktion. Freilegen und Verdecken, Hinsehen und Wegsehen, Abwenden und Öffnen des Blicks entwickelt Katalin zu zentralen Denkfiguren.

Katalin folgert: Wenn also die durch den Einsatz von Napalm verursachten Schrecken nur durch die Darstellung des Produktionsprozesses von Napalm aufgezeigt werden können, kann auch die dem Film eingeschriebene Gewalt durch eine Abbildung des Produktionsprozesses sichtbar gemacht werden. In der zweiten filmischen Ebene folgen wir Katalin bei der Entwicklung eines mit einer Super 8-Kamera aufgenommenen Analogfilms. Vom Prozess des Filmdrehs über die Zweitbelichtung der Filmbilder bis hin zur abschließenden Projektion wird der gesamte Prozess offengelegt, zumindest soweit dies möglich ist. Auch hier begegnet uns das Motiv des Enthüllens und Verdeckens: Die chemische Behandlung des Filmstreifens geschieht in völliger Dunkelheit. Ein treffendes Bild für jene unsichtbaren Kräfte, die an der Entstehung eines Films beteiligt sind. Gewalt scheint sich irgendwo im Produktionsprozess einzuschreiben. Beispiele lassen sich dafür viele finden, etwa struktureller Sexismus, der sich schon bei der Stoffentwicklung, im Casting, beim Dreh und im Schnitt manifestieren kann. Bemerkenswert ist Katalins Betonung der Materialität von Film: Dieser wird nicht nur durch gesellschaftliche Verhältnisse korrumpiert, sondern trägt die Gewalt bereits in seiner physischen Beschaffenheit, in der Art, wie Bilder sich in das Filmmaterial einbrennen, wie Chemikalien es angreifen. Film „verführe“ aufgrund seiner essenziellen Beschaffenheit zur Gewalt.

Analogfilmproduktion als undurchsichtiger Vorgang [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_2.large.jpg]

Daraus ergibt sich die Frage: Wie lässt sich mit einem korrumpierten Medium arbeiten, wie Protest formulieren, mit und gegen das Medium Film? Dieser Frage widmet sich Katalin unter anderem in der dritten Ebene ihres Films, in der sie Filmszenen aus 100 Jahren Filmgeschichte nachstellt. Sie filmt sich zum Beispiel wie Harun Farocki in Nicht löschbares Feuer an einem Tisch sitzend und ein Skript lesend oder wie Michel Subor in Le petit soldat, wie er vor dem Spiegel die Augen mit der Hand verdeckt. Während das Filmzitat ein geläufiges ästhetisches Mittel auch im Mainstream-Film ist, kommt das gezielte Reenactment von Szenen deutlich seltene vor. Verbreiteter hingegen ist es in der Performancekunst und damit ein zentraler Gegenstand der Theaterwissenschaft. Erika Fischer-Lichte beschreibt Reenactments in ihrem Aufsatz Die Wiederholung als Ereignis als Performances, die „ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit herstellen und damit zugleich ein je besonderes Verständnis von Geschichte implizieren“. Dies lässt sich auf Katalins filmische Reenactments übertragen, denn sie stellen einerseits durch Wiederholung einen Bezug zur Vergangenheit her, vermitteln zugleich aber auch eine bestimmte Vorstellung von Geschichte, in diesem Fall von Filmgeschichte als einer Geschichte von Gewalt. Das Nachspielen wird so zu einem empathischen Akt, trägt aber auch ein subversives Potenzial in sich. Die Neukontextualisierung und Bedeutungsverschiebung der Filmszenen eröffnet Möglichkeiten der Kritik, deren Tragweite Katalins Film nur andeuten kann.

Öffnen und Schließen des Blicks in der Nachstellung einer Szene aus Godards Le Petit Soldat [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_1.large.jpg]

Wo also führt Katalins Spurensuche letztlich hin? Siegfried Kracauer bezeichnet Film in seinem Werk Theorie des Films als „Athenes blanke[n] Schild“. Nur auf der Filmleinwand, so Kracauer, könne man die Reflexionen realer Ereignisse abbilden, die uns im echten Leben „versteinern“ lassen würden. Dieser Feststellung muss man, Katalins Argumentation folgend, wohl widersprechen, denn Kracauer unterschlägt, die aggressive, übergriffige Natur des Films. Häufig schützt Film eben nicht, sondern enthüllt, stellt bloß und verletzt. Zutreffend erscheint Kracauers Denkfigur des Schildes hingegen, rufen wir uns den von Katalin angeführten Aspekt der „Verführung zur Gewalt“ in Erinnerung. Der Schild mag zwar als Defensivmechanismus konzipiert sein, er fordert aber auch eben jene Gewalt heraus, die er bekämpfen möchte. Ohne Gewalt verliert der Schild seine Funktion. Ob es sich beim Film ganz ähnlich verhält, ob Film eben nur durch die Enthüllung, die Grenzüberschreitung funktioniert, ist eine Frage, auf die Katalin zumindest zwei Antworten bereithält: Einerseits kann ein subversiver Ansatz darin liegen, die Prozesse der Filmproduktion sichtbar zu machen, andererseits ist das Reenactment eine aus der Performance-Kunst entlehnte Methode, die die Wiederaneignung und Neukontextualisierung filmischen Materials möglich macht. Katalin stellt in ihrem Film eine beeindruckende Synthese aus Theorie und Praxis her und findet eine filmische Form, die sich selbst und ihre eigene Medialität ständig hinterfragt und auf den Prüfstand stellt.

Ein Roadmovie für verlorene Seelen

Sarah Barth

Callas, Darling ist das Langfilmdebüt von Julia Windischbauer, die Regie geführt, den Film produziert und die Hauptrolle gespielt hat. Es handelt sich um eine Low-Budget-Produktion, die über mehrere Wochen in Österreich und im Südosten Europas gedreht wurde. Das Publikum wird in dem Roadmovie auf die Reise mitgenommen, die in einem Dorf in Albanien ihr Ende findet. Sie beginnt jedoch in Österreich: Marie/Karo/Karle bleibt nach einer wilden Fahrt bei einer Tankstelle stehen, ist sichtlich aufgelöst und im Voice-over wird impliziert, dass sie plant, sich das Leben zu nehmen. Just in diesem Moment steht Gerlinde vor ihrem Auto und will mitfahren. Dass sie damit Maries Leben rettet, scheint ihr bewusst zu sein. Diese Impression, dass die beiden füreinander eine neue Chance darstellen, durchzieht den Film. Auf der Reise von Österreich nach Albanien und vor allem während des Aufenthalts dort verändern sich die Hauptfiguren, was klassisch für ein Roadmovie ist. Auch die Dynamik zwischen ihnen entwickelt sich, bis eine besondere, wenngleich ambivalente Beziehung entsteht.

Neben der transformativen Reise ist auch die Flucht ein genretypisches Element von Roadmovies. Dieses macht Callas, Darling mit Thelma and Louise vergleichbar. In diesem Film lassen die Protagonistinnen eine Welt zurück, in der sie aufgrund von Konventionen nicht so leben können, wie sie wollen. Zudem fliehen sie vor dem Gesetz, weil Louise einen Mann erschießt, der Thelma vergewaltigen wollte. Auch Marie ist auf der Flucht, sie wiederum lässt ein Leben zurück, das von Krankheit und dem Tod ihrer Mutter geprägt ist. Sie flieht vor der Art von Behandlung, die sie als Frau mit psychischen Problemen erfährt. Andere Menschen gehen nämlich mit ihr um, als hätte sie abseits ihrer Krankheit keine eigene Identität mehr. Sie wünscht sich also einen Neuanfang, wie Thelma und Louise, die es deshalb bis nach Mexiko schaffen wollen, bevor sie von der Polizei erwischt werden. Eine weitere Parallele der beiden Filme sind die Figuren von Brad Pitt und Lea Drinda, die beide vorübergehend als Passagiere im Auto mitfahren. Er betrügt jedoch seine Chauffeurinnen, indem er ihnen Geld stiehlt und sich davonmacht, während Siri mit Gerlinde und Marie eine relativ schöne Fahrt genießt und sich wieder absetzen lässt, bevor die anderen Richtung Albanien weiterdüsen. Beide Figuren markieren jedoch durch ihr Auftauchen und Verschwinden die vordergründige Tragweite der Beziehung zwischen den Protagonistinnen. Bei erster Betrachtung ist die Notwendigkeit von Lea Drindas Rolle nicht genau erkennbar. Siris Signifikanz offenbart sich jedoch bei der Beschäftigung mit Thelma and Louise.

Während der Reise verändert sich die Persönlichkeit der Hauptfigur mehrmals, wobei sie während jeder Entwicklungsstufe einen anderen Namen trägt. Zu Beginn des Filmes nennt sie sich Marie. Sie wollte eigentlich mit dem Leben abschließen, sie war ,,bereit zu gehen‘‘, wie sie im voice-over sagt. Gerlinde hält sie auf, indem sie sich zu ihr ins Auto einlädt. Marie wurde also unerwartet ein neuer Start ins Leben ermöglicht. Neben Gerlinde erfindet sie sich neu, weil sie nicht mehr auf ihre Krankheit reduziert wird. Karo, wie sie ihr Bruder Leon nennt, ist der Teil ihrer Identität, der eigentlich in Österreich und in der Vergangenheit begraben werden sollte. Als Leon sie in Albanien findet und ihr vorwirft, einfach verschwunden zu sein, ohne Bescheid zu geben, wird Marie auch für die anderen Figuren zu Karo, wodurch ihre fragile neue Persona zerfällt. Sie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt und muss sich damit auseinandersetzen. Gerlinde akzeptiert sie jedoch trotzdem, wodurch sich Karo als Karle entfalten kann. Es handelt sich hierbei um eine weibliche Form des Namens Karl, der ,,freier Mann‘‘ bedeutet. Karle ist also endlich frei von den Fesseln ihrer Vergangenheit, zugleich hat sie auch ihr Verdrängungsbedürfnis überwunden. Sie ist nun bereit für einen richtigen Neuanfang. In den drei Namen, die sie während der Handlung des Filmes trägt, spiegelt sich demnach ihre persönliche Entwicklung wider.

Albanien ist die Endstation der Reise. Untypisch für ein Roadmovie verbringen die Hauptfiguren hier sehr viel Zeit, wodurch es so wirkt, als seien sie an ihrem Ziel angekommen. Dies ist jedoch für Karle nicht der Fall. Sie findet zwar an diesem Ort und bei Gerlinde Zuflucht, weil sie hier abgeschottet von Österreich und damit ihrer Vergangenheit existieren kann. Jedoch hält sie sich in einer Art zeitlosem Raum auf, indem sie von ihren bisherigen Umständen zwar unberührt bleibt, wo ihr Leben aber dadurch wie erstarrt ist. Es geht weder nach vorne noch nach hinten, es ist eingefroren. Hier kommt wieder Gerlinde ins Spiel, die Karle die Perspektive aufzeigt, die sie braucht, um aus diesem Vakuum herauszukommen. Nach und nach stellt sich heraus, dass die Entwicklungsstränge der beiden Frauen auseinander gehen. Karle dachte, sie sei angekommen, dabei beginnt in Albanien erst die wirkliche Reise, bei der es sich um den Rest ihres Lebens handelt. Den hätte sie ohne Gerlinde verpasst. Diese hingegen hat im Geburtsort ihrer verstorbenen Frau tatsächlich die Endstation ihrer (Lebens-)Reise erreicht. Sie besucht die Gräber der Eltern ihrer Geliebten, zündet in einer Kirche eine Kerze für sie an, verbringt eine schöne Zeit, und doch: Sie ist angekommen. Ihr rastloses Herumirren findet hier in Albanien ein Ende, weil sie endlich abschließen kann. Dies bedeutet aber (was nur suggeriert, nicht explizit ausgesprochen wird) für sie auch den Abschluss mit ihrem Leben, welches sie nun beenden will. Karles Bruder Leon erkennt dies und appelliert an sie, sich wenigstens von Karle zu verabschieden, da ihr diese Möglichkeit im Fall der Mutter bereits genommen worden war. Gerlinde verschwindet daraufhin und wird in einer dramatischen Schlussszene von Karle gefunden. Ihr bisher ambivalentes Verhältnis, das sowohl Elemente einer Mutter-Tochter-, als auch einer Liebesbeziehung innehat, wird in einem letzten Gespräch von Karle verbalisiert.

Um auf Thelma and Louise zurückzukommen und einen weiteren Vergleich zu ziehen, sind die jeweiligen Schlussszenen der beiden Filme gegenüberzustellen. Die von Susan Sarandon und Geena Davis verkörperten Figuren fahren am Ende von Thelma and Louise mit ihrem Ford Thunderbird von einer Klippe in den Grand Canyon und werden mit einem freeze frame in der Luft angehalten, womit die Handlung durch ein endgültiges, befreiendes wenngleich tragisches Moment beendet wird. Callas, Darling schließt für keine der beiden Hauptfiguren auf ganz so kathartische Weise, weil das Ende offen bleibt. Karle sucht nach Gerlinde, extradiegetisch singt Maria Callas ,,L’amour est un oiseau rebelle‘‘ (Carmen von Bizet). In dem Stück geht es um die Liebe als Vogel, der sich nicht einfangen lässt, weil er seine Freiheit nicht aufgeben will. Diese Lyrics in Kombination mit dem plötzlich in schwarz-weiß gehaltenen Bild untermalen die Szene, in der Karle ihre Liebe zu Gerlinde offenbart. Metaphorisch könnte man sagen, sie lässt ihre Gefühle davonfliegen, weil sie erkannt hat, dass sie sie ohnehin nicht festhalten kann. In einem emotionalen Monolog gesteht sie Gerlinde, dass ihr Leben durch ihr Treffen einen drastischen Einschnitt erhalten hat – wie die Welt durch Maria Callas. Gerlinde hat Karle gerettet und ihr eine mögliche Zukunft offenbart. Die Gefühle, die dabei zwischen den beiden entstanden sind, lassen sich kaum mit Worten beschreiben, sie sind also, wie von Callas besungen, nicht festzuhalten.