von Yannick Wermann
In ihrem filmhistorischen Programm „Die erste Schicht“ widmete sich die Diagonale 2024 der Migrationsgeschichte von Deutschland und Österreich mit dem Ziel, die Perspektive zu verschieben und Gastarbeiter*innen nicht nur bei den Herausforderungen und Ungerechtigkeiten zu zeigen, vor die sie ihr Gastland stellte, sondern auch, wie sie zu einer „reichhaltigen Kulturproduktion“1 beitragen.
Mitten ins Herz trifft da der diesjährige Eröffnungsfilm Favoriten (AT, 2024) von Ruth Beckermann also nicht nur die Zuschauer*innen, sondern auch die zentrale Thematik der aus der Migration resultierenden kulturellen Vielfalt. Über drei Jahre hinweg hat Beckermann in ihrem Dokumentarfilm die Klasse einer der größten Volksschulen Wiens begleitet, in der die Einwanderungsgesellschaft wie in einem Brennglas gezeigt wird. Sinnbildlich hierfür steht die Sequenz, in der der Film die Klasse bei einer Führung durch den Stephansdom begleitet. Auf die Frage des Pfarrers, wie viele denn in dieser Klasse römischkatholisch seien, antwortet die Klassenlehrerin zu seiner Überraschung, dass es ein paar serbisch-orthodoxe gäbe, aber sonst eigentlich niemanden, der römisch-katholisch sei.
Der Film hat als wichtiges Dokument der fortgeschrittenen Migrationsgeschichte unserer Gesellschaft den Finger am Puls der Zeit und bildet eine heranwachsende Generation ab, die leider auch nach über 60 Jahren mit Versäumnissen der Gastländer in puncto Integration zu kämpfen hat. Im Beschreibungstext der Diagonale zur Kernproblematik, der sich der Film annimmt, heißt es: „Mehr als 60 Prozent aller Schüler:innen an Wiener Volksschulen haben nicht Deutsch als Erstsprache, an manchen Schulen sind es bis zu 100 Prozent. Gleichzeitig gibt es einen Mangel an Lehrpersonen und Betreuungspersonal.“2 Dazu gibt Favoriten Einblicke in die Herausforderungen als Lehrer*innen, die unter einer hohen Belastung stehen und rückt beispielhaft die Beziehung zwischen der geduldigen Lehrerin Ilkay Idiskut und ihren Schüler*innen ins Zentrum.
Favoriten 2024 / Ruth Beckermann Filmproduktion
Auf der einen Seite sehen wir die Lehrerin in ihrer herausfordernden Vorbildfunktion für die Kinder. Mit der Minimierung von Vorurteilen und dem ständigen Hinterfragen von kulturellen Vorstellungen – wie zum Beispiel wieso eine Frau nicht selbst darüber bestimmen darf, was sie zum Schwimmen anzieht – versucht sie die Schüler*innen weg von festgefahrenem Gedankengut zu erziehen und ihnen eine gesunde Skepsis beizubringen. Sie macht sich stark für reflexive und empathische Fähigkeiten. Damit lehrt sie aber auch die Filmzuschauer*innen über einen respektvollen Umgang für verschiedene Kulturen und der Bemühung um Gleichberechtigung. Auf der anderen Seite stellt die Dokumentation mit dem Blick auf die Kinder die Frage, ob mit dem aktuellen Schulsystem und den fehlenden Mitteln überhaupt so etwas wie eine kulturelle bzw. gesellschaftliche Gleichberechtigung und Chancengleichheit möglich ist. Der Film zeigt uns Sprache und Bildung als Privileg, so sehen wir die Schüler*innen auf sehr unterschiedlichen Sprach- und Bildungsständen sowie vor großen Problemen bei vermeintlich leichten Aufgaben. Schließlich scheut sich die Dokumentation auch nicht davor, mit der Kamera lange draufzuhalten, während ein Mädchen vor allen Augen an der Matheaufgabe scheitert, bei der sie überlegt, welche Zahl auf 40 folgt. Hierbei beweist Beckermann ein enormes Fingerspitzengefühl und bewegt sich auf einem schmalen Grat, bei dem Problemsituationen ausgehalten werden ohne die Kinder bloß zu stellen.
Ohnehin wird durch die minimale Narration der Dokumentation – sie kommt ganz ohne Talking Heads oder Voice-Over aus – eine Dramatisierung der abgebildeten Situationen gesenkt und vielmehr die Erfahrung und der Zustand innerhalb der Klasse betont. Dadurch verstärkt sich der ‚Einblick‘-Charakter des Films in den geschützten Raum und es werden narrativ Lücken gelassen, die Raum zur Reflexion lassen und die Zuschauer*innen zum Abgleichen mit eigenen Erfahrungen einladen. Favoriten macht seine Übertragbarkeit auf andere Schulen deutlich, in dem weitestgehend auf Establishing-Shots verzichtet und so eine Fragmentierung des Raums wie dem Klassenzimmer und der Schule vorgenommen werden, die somit den Ort austauschbar machen. Stattdessen bleibt die Kamera die meiste Zeit ganz nah an den Protagonist*innen dran, wodurch wir nicht nur ganz genau ihr Verhalten beobachten können, sondern auch ihre Perspektive einnehmen.
Hieraus ergibt sich auch die größte Stärke des Films: Er zeigt uns die Welt durch die Brille der kindlichen Naivität. Durch sie werden ernste politische Themen wie der Ukraine-Krieg behandelt und gesellschaftliche Fragen untersucht, wie zum Beispiel die Frage danach, wie man Kultur definiert. Trotz – oder gerade wegen – dieser kindlichen Naivität werden überaus gehaltvolle Diskurse aufgemacht, die gar nicht so weit vom wahren Kern entfernt sind. Es ist auch diese kindliche Naivität die dem Film seinen Charme und seine (manchmal unfreiwillige) Komik verleihen. Hierbei zeigt sich der Film besonders liebevoll gegenüber jedem einzelnen Kind sowie der Lehrerin und dürfte nicht zuletzt vielen Zuschauer*innen ans Herz gehen. Schließlich wird es zum Ende hin überaus emotional und dabei macht Favoriten deutlich, dass er nicht nur ein trockenes Gesellschaftsporträt ist, sondern auch das Abbild von einzelnen aneinanderhängenden menschlichen Schicksalen, die die Dokumentation sowie wir als Zuschauer*innen über einen langen Zeitraum begleitet haben.