Tobit Levi Rohner
Auf der diesjährigen Diagonale liefen zwei Filme im Programm, die sich einer ähnlichen Grundprämisse bedienen: Eine junge Frau, irgendwo in ihren frühen Zwanzigern zu verorten, geht zwei verschiedenen Tätigkeiten nach, die ihre Lebenszeit beanspruchen und definieren. An der Schwelle des Erwachsenwerdens nehmen ihre Träume und Ziele, die hilfsbedürftige Familie, die ihre Aufmerksamkeit beansprucht, und eine generelle Orientierungslosigkeit wichtige wie erniedrigende Rollen ein. Die typischen Motive der Spätadoleszenz und der Coming of Age-Trope werden also in beiderlei Filmen verarbeitet. Selbst so manche Nebenfiguren haben in ihren Konzepten identische Charakterisierungen.
Während Wer wir einmal sein wollten seine Protagonistin Anna als Aushilfe in einer Schauspielschule arbeiten und die Matura nachholen lässt, widmet sich Mira in Breaking the Ice ihrer Eishockeykarriere, ohne das Familienunternehmen der Weinherstellung zu vernachlässigen. Beide Leben sind geprägt vom Wunsch nach vollständiger Autonomie und den zurückhaltenden Regulierungen der familiären Bindung. Beide Filme verfolgen auf einer ästhetischen Ebene einen Inszenierungsstil des trockenen Realismus. Aber wo der eine Film visuell und inhaltlich Langeweile evoziert, baut der andere sein Leitmotiv erfolgreich aus.
Film besitzt die Möglichkeit, Lebensrealitäten nahezubringen, die ansonsten gemeinhin untergehen. Anna aus Wer wir einmal sein wollten befindet sich stets im Umfeld der Schauspielerei – dadurch wird klar, wie nah und zugleich fern sie dem Traum ihrer Kindheit ist und in dieser Distanz verharrt. Sicherlich mag das vielen nachvollziehbar erscheinen. Allerdings wurde die Wunschvorstellung, die nicht erfüllt werden kann, auch in der zeitnahen Filmgeschichte ausgearbeitet. Wer wir einmal sein wollten verpasst es, etwas neues oder interessantes zu zeigen, etwas, das die dröge Erzählweise legitimiert. Breaking the Ice hingegen wählt einen anderen Ansatz. Dieser Film beginnt mit einer Einstellung, die ein Eishockeystadion zeigt, wobei die Wandfassade zusammen mit der spiegelnden Eisfläche eine zugespitzte, ovale Form ergibt. Eine Form, die an ein Auge erinnert. Und sogleich wird ein Puck Richtung Kamera geschossen, als handle es sich um einen direkten Angriff auf die Netzhaut. Auch wenn Breaking the Ice sicherlich nicht allzu radikal ist, so formuliert der Film seine eigene Aufgabe, eine Lebensrealität zu zeigen, die medial untergeht. Hier spielen Frauen auf dem Eis – in einem spärlich besuchten Stadion. Bezahlt werden sie im Gegensatz zu den männlichen Gegenparts nicht, müssen selbst für das Training aufkommen und nebenbei
hauptberuflich einer Tätigkeit nachkommen. Auf Miras Schultern, der Kapitänin des Teams, lastet zusätzlich ein dementer Großvater, eine emotional verschränkte Mutter und ein weggelaufener Bruder. Zwischen den beiden Filmen steht also einerseits das oft gesehene Theaterspiel als Metapher unerreichter Träume und auf der anderen Seite mit Fraueneishockey eine selten veranschaulichte Lebensrealität.
Bezogen auf die Protagonistinnen beider Filme, so ist Anna bereits auserzählt. Viel mehr Charakterisierung als in dieser Kritik bereits angesprochen ist ihrer redundanten Figur nicht gegönnt. Mit Mira versucht sich Breaking the Ice hingegen an einem Charakterporträt, das – wie der Titel suggeriert – von einer emotional verschlossenen Person handelt. Sie ist aber nicht teilnahmslos. Über Dating-Apps trifft sie sich zum Beispiel mit etwas älteren Frauen für diskreten Sex, aber als eine neue Spielerin zum Team dazustoßt, bleibt Mira distanziert. Wenn auch an der eigenen Haltung scheiternd, sucht Mira nach persönlicher Freiheit und Emanzipation. Mit der queeren Facette Miras, die nicht allpräsent ist, sie als Person aber prägt, und der Zurückhaltung erhält die Figur nötige Charaktertiefe, um einen Film tragen zu können (was man bei Wer wir einmal sein wollten leider vermisst).
Verdächtig komische Ähnlichkeit haben aber beide Filme bei einer Nebenfigur aufzuweisen. Der verantwortungsscheue Bruder, der eigentlich die Familie verlassen hat, nun plötzlich beim Arbeitsplatz der Protagonistin erscheint und Unterkunft sowie finanzielle Mittel erfragt, ist in ihren Grundzügen zumindest die gleiche Persona. Allerdings finden sich Unterschiede in der Ausarbeitung. Die Charakterentwicklung des Bruders Patrick bei Wer wir einmal sein wollten
endet genau da, wo sie eingeführt wurde. Er startet mit Schulden bei zwielichtigen Personen, auf die er sich eingelassen hat, und verbleibt dann auch in der Kriminalität. Von einer Milieustudie kann man hier aber beim besten Willen nicht sprechen – Der Film bettet Patricks Verhalten nicht in gesellschaftliche Gegebenheiten ein oder findet andere interessante Ansätze. Bei Breaking the Ice flüchtet der Bruder Paul zwar auch vor Verantwortung, allerdings greift seine Charakterisierung komplexer. Er flüchtet vor allem vor einer dysfunktionalen Familie, die nicht in der Lage ist, Traumata aufzuarbeiten. Anstatt die ausgeleierte „Er ist jetzt Gangster“-Schiene abzufahren geht Paul einem alltäglichen Schauspiel nach: In Bars entwirft er seine Persona immer wieder neu, nennt sich mal Josef, mal Gustav und steckt Mitmenschen mit der Lust zum hedonistischen Spiel an – auch das Publikum. Damit verkörpert er den Ansatz, Identität multipel zu verstehen und lehnt es ab, nach der Essenz des Seins zu suchen, da sie sowieso nicht existiert. Welche Dynamiken dann durch das Treffen mit seiner Schwester entstehen, arbeitet der Film vielschichtig auf.
Mag man aber die Figuren im Gesamtkonstrukt genauer unter die Lupe nehmen, so fällt auf, dass sich Wer wir einmal sein wollten nicht nur im Inszenierungsstil, sondern auch bezüglich Geschlechterrollen versteift gibt. Mit Thesen und Aussagen von Feminism WTF im Hinterkopf (einem Film, der ebenfalls im Rahmen der Diagonale gezeigt wurde), verbleiben die Figuren in
ihren jeweiligen geschlechterkonformen Fracks. Patrick ist der aggressive, der entweder zu Gewalt oder einer mürrischen Ablehnung greift, denn er scheint nicht in der Lage zu sein, seine inneren Konflikte zu kommunizieren – typisch maskulin. Anna hingegen hat die sozial kompetenten Fähigkeiten vorzuweisen. Man könnte sagen, sie bemuttert ihren Bruder geradezu. Dabei wird keinerlei Lösung angeboten, auch kein Spiel findet statt, lediglich die Geschlechterregeln werden reproduziert. Nun kann man dies damit verteidigen, dass der Film einen Ansatz des Realismus wählt (wobei damit das Scheitern der Geschlechterrollen in der Realität ignoriert wird) oder dass eine Aufarbeitung von Geschlechternormen nicht das Ziel des Films ist. Vor allem aber unterstreicht damit Wer wir einmal sein wollten die Qualitäten bezüglich sex und gender in Breaking the Ice. Nicht nur sind hier die Rollen auf den Kopf gestellt – so steckt eher in Anna eine subversive Aggression und Paul ist der sozial offenere, der sich gerne feminin bewegt – es wird aktiv mit den Rollenbildern gespielt, um sie zu unterwandern. Anna posiert halbnackt vor dem Spiegel, in Positionen, die die Muskeln ihres Körpers betonen. Oder sie zieht sich in Bars männlich codierte Kleidung über und schmückt ihr Gesicht neben Eyeliner mit der Bemalung eines Vollbarts. Anna wird nicht einzig und allein auf diese Charakterzüge reduziert, vielmehr geschieht dies in einer Beiläufigkeit, die die queere Ader des Films authentisch stabilisiert und zeigt, dass die Regisseurin Clara Stern Ahnung von der Materie hat.
Damit lässt sich sagen, dass Wer wir einmal sein wollten, so nett er als Abschlussfilm eines Studenten erscheinen mag, vor allem in einer uninspirierten Belanglosigkeit verkümmert – er thematisiert einen Stoff, der weder inhaltlich noch formal erfrischend wirkt. Breaking the Ice arbeitet die gleichen Motive interessanter aus, weiß mehr mit der steiften Inszenierungsform anzufangen und bietet mehr Figurentiefe – auch wenn die Figuren auf den hölzernen Dialogen etwas ausrutschen, erweist sich dieser Film als wesentlich jugendlicher.