Prag – New York – Wien
Bezúčelná procházka (Aimless Walk – Spaziergang ins Blaue) (R: Alexander Hammid, CZ 1930)
Aimless Walk – Alexander Hammid (R: Martina Kudláček, AT/CZ 1996)
Go! Go! Go! (R: Marie Menken, FR 1962–1964)
A Tale of Two Cities (R: Jem Cohen, AT 2007)
cityscapes (R: Michaela Grill, Martin Siewert, AT 2007
Filmische Städte und städtische Filme
Elias Märk
Als „Stadt des Flaneurs“ beschreibt Walter Benjamin Berlin in seinem gleichnamigen Buch. Zielloses Umherschweifen in den Untiefen der anonymen Großstadt, fließen im Strom der Massen, um sie zu beobachten und von ihnen gesehen zu werden. Ob das Flanieren der geeignetste Begriff ist, um das Programm „Prag – New York – Wien“ zu beschreiben, mag fraglich sein, lässt sich der langsame Müßiggang des Flaneurs wohl nicht sonderlich gut mit dem rasanten Tempo, den die meisten Filme an den Tag legen in Einklang bringen. Eindrückliche Stadtspaziergänge sind sie aber allemal.
Der erste der fünf Filme des historischen Specials Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung ist Bezúčelná procházka vom tschechisch-US-amerikanischen, in Linz noch mit anderem Nachnamen geborenen, Fotografen und Regisseurs Alexander Hammid. Dieser experimentelle stumme Kurzdokumentarfilm aus den 1930er Jahren ist genau das, was seine deutsche Übersetzung des Titels sagt: Ein „Spaziergang ins Blaue“. Ohne treibende Geschichte, ohne versteckt liegende Botschaft zeigt dieser Film ganz einfach den 9 Minuten lang einen ziellosen Spaziergang eines jungen Mannes durch das Prag der Zwischenkriegszeit und das alltägliche Leben dieser tschechoslowakischen Metropole. Schnelle Schnitte, schräge Perspektiven und die Wiederholung von Einstellungen lassen eine Assoziation mit Dsiga Wertows Der Mann mit der Kamera aufkommen, aber trotz dieser bedachten Montage, sehen wir eine Un-inszenierte Wirklichkeit einer Vergangenheit, die ohne weitere Sinneszuschreibungen anstellen zu müssen, als filmische Zeitkapsel betrachtet werden kann.
Das dies auch so gewollt ist, zeigt der nächste Film des Programmes Aimless Walk / Alexander Hammid von Martina Kudláček. In dem Dokumentarfilm über eben jenen Alexander Hammid, sagt dieser mit ruhiger Stimme, dass es in seinem frühen Werk darum ging, das „Gefühl der Stadt auszudrücken“, er „kein Script“ hatte und einfach seine 16mm Kamera auf die Straßen richtete. Ruhig ist überhaupt ein gutes Stichwort für diesen Film. Bis auf die temporeiche Anfangssequenz, die eine Hommage an Spaziergang ins Blaue ist und in ebenso schrägen Perspektiven Häuserfassaden zeigt – dieses Mal aber das New York City der 1990er Jahre –, ist dieser Film doch sehr langsam. Und das ist nicht verwunderlich, schildert dieses eindrucksvolle Künstlerportraits doch den gemächlichen Lebensalltag des mittlerweile in die Jahre gekommenen Alexander Hammids. Mit Verzicht auf erklärenden Kommentar aus dem Off lässt Kudláček einfach Bilder sprechen, Bilder des Gewöhnlichen. Wäsche aufhängen, Kochen, U-Bahn fahren. Die Kamera begleitet den fast 90-jährigen Alexander Hammid der, allem Alter zum Trotz, ganz alleine seinen Alltag in der Großstadt bestreitet. In Verbindung gebracht werden diese Szenen des täglichen Lebens mit Passagen aus Hammids früheren
Elias Märk Filmkritik „Prag – New York – Wien“ UE Diagonale 2021
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Experimentalfilmen, die er unteranderem mit seiner damaligen Frau Maya Deren gedreht hatte. Stumme Bilder, ganz im Sinne des Regisseurs, der einmal sagt: „I don’t like to talk. I express myself always in images. Otherwise, I like silence.“
Die Mitte des Programmes bildet der Film Go, Go, Go der US-amerikanischen Experimentalfilmemacherin Marie Menken. In einer unglaublichen Hektik zeigt dieser Film in knapp 11 Minuten das ebenso hektische und geschäftige Großstadtleben in New York City. Zeitraffer trifft auf Stop-Motion, statische Einstellungen auf bewegte. So vielfältig wie die Aufnahmetechniken, sind auch die gezeigten Motive. Abschlussfeier, Geschäftsstraßen, Baustelle, Bodybuildingwettbewerb, Hafen. Mit einer regelrechten Überforderung der Sinne vermittelt dieser Film in zitternden Bildern wie sich die das Leben in einer Großstadt anfühlen kann. „A tour-de-force on man’s activities.“ wie ein Pressetext so treffend diese Reizüberflutung beschreibt.
Als vorletzten Beitrag tischt das Programm den Trailer der Viennale 2007 auf. A Tale of Two Cities von Jem Cohen ist eine einminütige Montage schwarz-weißen 35mm-Films, die diverse Stadtlandschaften von New York City, sowie von Wien zeigt. Zur dissonant klingenden Musik verschmelzen die dunklen, nicht immer genaue einer Stadt zuordbaren Bilder von Häuserfassaden, Gehsteigen oder Treppenaufgängen zu einem neuen, ganz eigenen urbanen Raum – gelegentlich unterbrochen durch hell erleuchtete Gesichter, die tief in die Augen des Betrachtenden blicken.
Zum Abschluss bekommen wir den avantgardistischen Film cityscapes von Martina Gill und Martin Siewert zu sehen. Ein Film, der sich wohl als ein immersives Erlebnis beschreiben lässt. Monochrome kontrastreiche Filmaufnahmen eines längst vergangenen Wiens, Schnipsel alter Archivaufnahmen, überlagern sich zunehmend und aus ihrem Kontext gerissen mit digitalen Artefakten. Grobkörnige schwarze Wolken, Rasternetzte, VHS-Rauschen und Pixelmuster verweben sich mit Riesenrad, Jugendstilgebäuden und Spaziergängern auf dem Trottoir. Eine Verschränkung des Analogen mit Digitalem. Untermalt wird das Ganze von elektronischer crescendo anschwellender Musik. Details lassen sich unter dieser analog-digitalen Symbiose bildlicher Fragmente nur schwer erkennen. Als eine in seinen Bann ziehende kinematische Erfahrung verstanden, ist man dennoch froh – obgleich auch zufrieden – wenn diese Anstrengung für Augen wieder endet.
„Fünf filmische Stadtspaziergänge“ fasst der Diagonale-Katalog dieses Programm zusammen. Fünf unterschiedliche Eindrücke noch unterschiedlicher Städte. Eine Sehempfehlung gibt es für alle.