BRD 1981
Farbe, 87 min., OmeU
Regie: Roger Fritz
Buch: Georg Ensor
Produzent*innen: Fred Zenker
Diagonale Schwerpunkt: Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung
Ist die Medaille der Stadt auch auf der Kehrseite gold?
Anke Gross
„Was sollen denn die anderen denken?“ ist ein Satz, den Susanne in ihrem Heimatdorf oft zu hören bekommt. Ihren Vater, Besitzer einer Fleischhauerei, interessiert es herzlich wenig, dass die 17-jährige ein selbstbestimmtes Leben führen möchte. Daher flieht sie in die nahegelegene Großstadt Frankfurt am Main, um das öde, stehengebliebene Dorfleben hinter sich lassen zu können. In ihrer neu gewonnenen Freiheit zieht sie zu ihrem Onkel Ossi ins Rotlichtviertel, wo sie allerlei Höhen und Tiefen erlebt: die Untreue ihres Freundes, das aufregende Nachtleben in den Discos, oder die gefährlichen Spiele des Zuhälters Johnny.
Dass Großstadt nicht gleich endlose Freiheit, Glück und Sorglosigkeit bedeutet, wird im Film Frankfurt Kaiserstraße, von Roger Fritz aus 1981, eindeutig sichtbar. Der Film erweckt den Eindruck, dass für diese Unabhängigkeit auch ein Preis gezahlt werden muss. Er legt kein eindeutiges Urteil nahe, doch diese allgemeine Ambivalenz, so wie es im Film dargestellt ist, wäre in der Provinz niemals anzutreffen. Ob das gut oder schlecht ist, müssen die Zuschauer*innen selbst entscheiden.
Die Atmosphäre des Films ist relativ heiter. Hier und da redet eine Person stark hessisch, wodurch die Handlung etwas an Seriosität verliert. Auch ist die Tonspur teilweise neu synchronisiert worden, sodass der Film samt den teilweise monoton vorgetragenen Textzeilen der Schauspieler*innen eine lockere, gar witzige Seherfahrung bereitet.
Nackte Körper und Sexualität spielen in Fritz‘ Werk ebenfalls eine große Rolle. So fängt der Film diese Stimmung des Rotlichtviertels mit seiner Prostitution und seinen Bordells gut ein. Wie wahrheitsgetreu der Film die dortige Stimmung der 1980er Jahre einfängt, kann heute schwer erahnt werden – doch trägt die eventuell übertriebene Darstellung der zwielichtigen Geschehnisse dazu bei, dass Frankfurt Kaiserstraße nie langweilig wird.
Heutzutage ist das Gefühl, neues kennen lernen zu wollen vielleicht präsenter denn je. Nach dem Schulabschluss reisen viele Jugendliche erst einmal ins Ausland, je weiter desto besser, um aus dem altbekannten Alltagstrott des Dorfes oder der Kleinstadt entkommen zu können. Auch zum Studieren, Fortbilden oder Arbeit suchen wird oft in eine große Stadt gezogen. Was reizt junge Generationen für Generationen am oftmals chaotischen, stressigen, reizüberfüllten Leben der Stadt? Vielleicht gerade dieser Kontrast – von einer Flut an besseren und schlechteren Möglichkeiten bis hin zu einem Spektrum an seltsam interessanten Menschen mit unterschiedlichsten Lebensformen. Im Film rutscht die Hauptfigur Susanne durch ihren schwulen Onkel als Kontaktperson von Beginn an in eine bestimmte Umgebung rein. Dies prägt ihren gesamten Aufenthalt. Ähnlich verläuft es auch häufig im wahren Leben, denn alles steht und fällt mit den Personen, die man um sich hat. Wenn auch in einer übertriebenen Art und Weise, fängt Frankfurt Kaiserstraße diese Suche nach neuen Erfahrungen, die oft in jungen Menschen brodelt, gut ein.
Von einem filmfeministischen Standpunkt aus betrachtet, präsentiert sich der Film ambivalent. Die gesellschaftlichen Konventionen der 1980er waren noch sehr patriarchal, heutzutage trifft man glücklicherweise auf Verschiebungen in vielen Bereichen. Im Film gibt zwei zentrale Frauenfiguren, alles andere sind Männer. Die restlichen Frauen sind vor allem Prostituierte und anderweitig unterdrückte Personen, wie Johnnys Sekretärin, die letztendlich von genau diesem umgebracht wird. Doch Susanne und Kris, eine Barfrau die gleichzeitig in der Kaserne als Kantinenaushilfe arbeitet, lassen sich nicht alles sagen. Auch wenn sie unter anderem durch die Kamera oftmals sexuell objektiviert werden, scheinen sie doch eine selbstbestimmte Art zu haben, durch die sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, egal was die Männer um sie herum behaupten mögen.
Des Weiteren behandelt der Film Sexualität vergleichsweise fortschrittlich. Zwar gehen Ossi und sein Freund im versteckten unter eine Brücke, um nach intimen Begegnungen mit anderen Männern zu suchen, doch ansonsten wird die sexuelle Orientierung zu keinem negativ konnotierten Thema gemacht. Ossi kleidet sich weiblich und erwähnt offenkundig, dass er sich fühlt, als wäre er Susannes Mutter.
Alles in allem lohnt sich Frankfurt Kaiserstraße, wenn man auf der Suche nach leichter Kost ist. Trotz der teils dramatischen Handlung behält der Film eine Leichtigkeit – vermutlich, weil er sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Dass es keine komplett realitätsnahe Dokumentation des Frankfurter Lebens der 80er ist, wird schnell deutlich, dennoch spiegelt er adäquat die Träume, Verzweiflung und Verlorenheit junger Menschen wider.