Eine Parabel von Außenseiterinnen
Von Patrizio Ferretti
Nordrand (1999) ist der Debütfilm von Barbara Albert, der sich dadurch auszeichnet, dass er der erste österreichische Film in 51 Jahren war, der für den Goldenen Löwen in Venedig nominiert wurde.
In dem Film geht es um drei verschiedene Individuen, deren Leben ‒ auf die eine oder andere Weise von den damaligen Ereignissen in Bosnien beeinflusst ‒ sich im Laufe einiger Monate überkreuzen. Jasmin stammt aus einer Familie mit zahlreichen Söhnen und Töchtern, wird von ihrem Vater und ihrem Verlobten regelmäßig geschlagen und geht ständig auf neue Beziehungen ein, in denen sie immer wieder schwanger wird. Tamara stammt aus einer serbischen Familie, die im ehemaligen Jugoslawien lebt und ist in eine stürmische Beziehung mit ihrem eifersüchtigen Verlobten Roman verwickelt, der als Grundwehrdiener die meiste Zeit an der österreichischen Grenze verbringt. Valentin ist ein Flüchtling aus Bosnien, der in Österreich einen Zwischenstopp auf seinem Weg nach Amerika macht.
Das Werk ist wegen seiner narrativen Struktur bemerkenswert, die offensichtlich teilweise vom italienischen Neorealismus inspiriert ist, ohne aber dessen Atmosphären hundertprozentig nachzuahmen: extradiegetische Popmusik, die in gezielten Punkten die Bilder kommentiert, einige komplexe Kamerafahrten und Momente hektischer, dokumentarischer Montage verraten den modernen Ansatz der Regie. Trotzdem wird die soziale Realität dieser unglücklichen Figuren realistisch beschrieben, wobei die soliden Darstellungen der Schauspieler_innen eine große Hilfe sind. Dabei zeigen sich im Laufe der Sichtung einige erstaunliche, thematische Ähnlichkeiten mit Jessica Hausners Filmen: Der Großteil des Filmes ist den zwei jungen Frauen gewidmet, die versuchen, in einer feindseligen Welt zu überleben. Beide sind auf sich selbst gestellt und ihre Familien sind physisch oder geistig nicht für sie da.
Eine eigentliche Handlung wird nicht wirklich entwickelt. Albert beschränkt sich darauf, die Situationen für sich sprechen zu lassen und dem Publikum seine eigene Interpretation zu überlassen. Es ist eine Parabel von Außenseiterinnen, die versuchen, in den Tragödien des Lebens zu überleben; eine Parabel, die nicht unbedingt subtil die Probleme der Immigrant_innen (in diesem Fall aus Bosnien) im Blick hat und in der ein Happy End nicht das ideale Ziel zu sein scheint. Das zufällige Treffen dieser drei Figuren wird keines ihrer Leben zum Besseren beeinflussen. Falls es Änderungen gibt, sind sie genauso zufällig, wie alles andere im Rest des Films: Ganz gleich ob sie in Österreich bleiben oder es schaffen, wie im Falle Valentins, nach Amerika zu kommen, sind die Hauptfiguren hinter einem sozialen Gitter eingesperrt, aus dem sie vermutlich nicht entkommen können.
Ein Werk also, das vom Anfang bis zum Ende von einem pessimistischen Unterton durchzogen ist, sich doch im Endeffekt im Aufbau der Figuren und in der Darstellung (wenn nicht der Entwicklung) seines Themas sehr effektiv erweist. Nicht unbedingt ein Meisterwerk, trotzdem gut konzipiert und realisiert.
Nordrand: Das Ergebnis einer grausam genauen Beobachtung
Von Simon Spahn
Nordrand (1999) ist ein österreichischer Film, der nach einer erfolgreichen Uraufführung an den internationalen Filmfestspielen in Venedig in die österreichischen Kinos kam. Er gilt als besonders bedeutend für die österreichische Filmgeschichte und war für die Regisseurin Barbara Albert ein Durchbruch in ihrer Karriere.
Der Film erzählt keine Geschichte, sondern gibt den Zuschauer_innen vielmehr die Möglichkeit einen Einblick in das Leben verschiedener Menschen zu bekommen. Er zeigt das Privatleben und die Probleme von zwei jungen Frauen: Jasmin, die gemeinsam mit ihren vier Geschwistern bei ihren Eltern in relativ ärmlichen Verhältnissen am nördlichen Rand von Wien aufwächst, und Tamara, deren serbische Familie vom Krieg im damaligen Jugoslawien betroffen ist. Beide haben mit ähnlichen Situationen umzugehen, jedoch gibt es zwischen ihnen große familiäre Unterschiede. Neben Jasmin und Tamara nimmt auch Valentin eine zentrale Rolle im Film ein. Er ist ein rumänischer Flüchtling, der nur vorübergehend in Wien lebt und anschließend nach Amerika weiterreisen will.
Neben den privaten Umständen der Charaktere thematisiert Nordrand auch den Bosnienkrieg und zeigt seine Folgen in wiederkehrenden Fernsehaufnahmen. Tamara fürchtet um ihre Familie, während Jasmin mit der eigenen und besonders mit ihrem gewalttätigen Vater, zu kämpfen hat. Der Film zeigt immer wieder Szenen der häuslichen Gewalt, der damit verbundenen Trauer und Verzweiflung; dennoch kann das Publikum den Blick nicht abwenden. Erschreckend ist dabei der Gedanke, dass es sich hier nicht um außergewöhnliche Momente oder Ausnahmezustände handelt. Vielmehr zeigt der Film den Alltag dieser Familien, der den Zuschauer_innen im echten Leben verborgen bleibt. Albert thematisiert neben Liebe und Sexualität, vor allem Freundschaft und Familie und zeigt, dass besonders in schwierigen Zeiten zwischenmenschliche Beziehungen bedeutend und wichtig sind.
Nordrand lässt sich nur schwer mit Genrebegriffen definieren und so ist auch die Erzählstruktur sehr unkonventionell. Albert setzt darauf, dass die Umstände der verschiedenen Charaktere bei den Zuschauer_innen genug Interesse wecken, um deren Aufmerksamkeit zu behalten. Da der Film durch seine Narration kaum Spannung aufbaut und auch nicht wirklich auf etwas hinarbeitet, kann es sein, dass jene Zuschauer_innen, die von den Charakteren wenig beeindruckt sind, Interesse am Geschehen verlieren. Dies kann in Kombination mit den kalten Farben und der Melancholie, die der Film zweifellos ausstrahlt, dazu führen, dass Nordrand nicht bei jedem Publikum gut ankommt. Wer sich jedoch auf die Schicksale der Figuren einlässt und ihren Belastungen und Emotionen mitfühlend gegenüberstehen kann, wird merken, dass die Materie des Filmes, wie Rassismus, Armut und Migration, noch immer zeitgerecht ist. Die Probleme von Jasmin und Tamara existieren nicht nur in der heutigen Zeit immer noch, sondern sind sogar fast relevanter als je zuvor.