Auf den Spuren filmischer Legenden

Von Dennis Ritter

2004 konnte Jessica Hausner mit ihrem Psychothriller Hotel bei den Filmfestspielen in Cannes begeistern. Sie erzählt eine Geschichte, die sich von anderen Genre-Vertretern inspirieren lässt, mit vielen bekannten Konventionen bricht und im Finale alles daransetzt, die eigene Geschichte zu dekonstruieren.

Hausner erzählt von der jungen Irene (Franziska Weisz), die als Rezeptionistin ihren neuen Job in einem abgelegenen Waldhotel beginnt. Dort kümmert sie sich um die Gäste und muss nachts im verlassenen Hotel eine Runde durch den Keller drehen. Zunehmend bekommt Irene das beklemmende Gefühl, dass irgendetwas mit diesem Ort nicht stimmt – etwas, das mit dem tragischen Schicksal ihrer Vorgängerin zusammenzuhängen scheint. Zur selben Zeit erfährt sie von Erik (Christopher Schärf), den sie in einer nahegelegenen Diskothek kennenlernt, von der Sage einer in einer Grotte lebenden Waldhexe. Diese Handlung ist in vielen Aspekten von anderen filmischen Werken mit einer ähnlichen Grundidee inspiriert: Zuerst einmal drängt sich das sehr ähnliche Setting aus Stanley Kubricks Meisterwerk The Shining (1980) auf. Aus Kubricks gewaltigen, verlassenen Berghotel macht Hausner ein kleineres, verlassen wirkendes Waldhotel. Auch die Stimmung fühlt sich in beiden Filmen sehr ähnlich an: Zu Beginn scheint alles lange Zeit sehr ruhig zu sein, doch die Bedrohung und die anbahnende Katastrophe erzeugen ein Gefühl der Beklemmung. Hausner folgt allerdings nicht blind den Spuren von Kubrick, sondern lässt andere Impressionen einfließen: Die Legende der Waldhexe aus dem Found-Footage Horrorfilm The Blair Witch Project (1999) scheint hier eine passende Ergänzung zu sein. Die Bedrohung beschränkt sich dadurch nicht auf das Hotel, sondern hüllt ebenfalls das Umland in einen Nebel des Schreckens. Wenn Irene in der scheinbar friedlichen Natur den Fängen des Hotels entkommt, bringt das keine Entspannung mit sich, sondern stößt einen in die nächste Bedrohung. Es ist schwierig auszumachen, welcher Ort die größere Bedrohung für Irene darstellt und Hausner bemüht sich, jeden Schauplatz gleichermaßen schauderhaft zu gestalten.

Die größte Inspiration holt sich Hausner dann allerdings in dem dänischen Thriller Nightwatch (1994). Der dortige Protagonist Martin (Nikolaj Coster-Waldau) beginnt seinen neuen Job als Nachtwächter in der Pathologie eines Krankenhauses. Jede Nacht wandert er mehrmals durch die Gänge des verlassenen Gebäudes und prüft, ob alles in Ordnung ist. Doch mit jedem Mal entsteht bei ihm der Eindruck, dass irgendetwas Schreckliches vor sich geht. Sowohl Martin als auch Irene werden beide ahnungslos in eine neue Situation geworfen und zunehmend psychisch an den Rand ihres Verstands gedrängt. Wo anfangs Freude über den neuen Arbeitsplatz vorherrscht, entsteht schnell ein Misstrauen gegenüber allen anderen, bevor am Ende nichts anderes mehr übrig zu sein scheint als Paranoia.

Hausner beschreitet in Hotel viele bereits betretene Pfade, was ein großes Problem mit sich bringt: Die Zuschauer_innen vermögen früh, das Rätsel des Films zu entschlüsseln. Denn entlang dieser Pfade wurde sich schon mehrmals bewegt und so wirken viele Elemente des Films altbekannt. Es ist wie eine Ausstellung von verschiedensten Szenarien, die uns in Filme zurückversetzen, in denen wir vor Angst kaum hinzuschauen vermochten, während dieser Film scheinbar nur von der Angst aus anderen Filmen lebt. Die Spannung verliert sich zunehmend; zu bekannt ist all das, was von statten geht. Und dennoch schafft es Hausner am Ende die Erwartungen zu unterwandern: Eigentlich verlangen die Genre-Konventionen, dass die dramaturgische Spannungskurve am Ende ihren Höhepunkt erreicht. Der Klimax erlöst die Zuschauer_innen und zeigt das, was den gesamten Film über angedeutet wurde – egal wie schrecklich der Ausgang ist, es entsteht ein Gefühl der Befreiung. Hausner gewährt den Zuschauer_innen dieses Gefühl nicht. Im Finale, dem Moment größter Spannung, nimmt sie das Tempo heraus und lässt den Film unspektakulär und bedächtig zu Ende gehen. Das hinterlässt ein unbefriedigendes Gefühl, zeigt aber auch, wie trotz vieler Inspiration etwas Eigenes entstehen kann. Damit all das funktioniert, braucht ein solcher Film eine Projektionsfläche für die Zuschauer_innen, auf die die eigene Persönlichkeit gespiegelt und durch deren Augen die Geschichte gesehen werden kann. In Hotel ist das Irene, die von Hauptdarstellerin Franziska Weisz verkörpert wird. Diese spielt die Rolle der jungen Rezeptionistin dermaßen unspektakulär, dass der Gedanke der „filmischen Realität“ immer wieder in den Hintergrund gerät. Wären da nicht die übernatürlichen Momente, könnte diese Geschichte im Hotel um die Ecke stattfinden. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass ihre Figur durch diese Schlichtheit sehr eindimensional bleibt. Sie bekommt keine weiteren Facetten, keine spannende Vorgeschichte, führt keine interessanten Beziehungen und darf kaum Gespräche führen. Es ist ein minimalistisches Bild einer Figur, beschränkt auf das Wesentliche: einer jungen Frau, die in einer neuen beruflichen Situation chancenlos wirkt und unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuert – all das in den Fußstapfen ihrer Vorgängerin und unter den wachsamen Augen des erfahrenen Personals.

Hausner ist bekannt für ihre weiblichen Hauptrollen, die immer wieder charakterliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Es sind introvertierte Figuren, mit zwischenmenschlichen Problemen, die an der Gesellschaft anecken. In Flora (1995) geht es um ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen Eltern und eine illusionistische Vorstellung von Liebe. In Lovely Rita (2001) sind diese beiden Gedanken ins Extreme weitergedacht. Mit Hotel verändert sich der Fokus etwas. Statt dem direkten Konflikt mit anderen, blickt Hausner hier vielmehr auf die Figur selbst und der Selbstwahrnehmung der jungen Frau. Eins haben jedoch all ihre Figuren gemeinsam: Es wirkt stets so, als würde Hausner Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit in ihre Figuren schreiben und so wirkt es auch bei Irene: Eine junge Frau, die in einem Beruf erfolgreich sein will, der von bestehenden „Größen“ dominiert wird, lebt mit der alltäglichen Angst, in den Fußspuren ihrer (weiblichen) Kolleginnen in Vergessenheit zu geraten.

Das unabwendbare Ende der filmischen Welt wirkt wie eine Warnung, die es zu verstehen gilt und der wir in der echten Welt entkommen müssen. So ist Hausners Film auch 16 Jahre später immer noch aktuell und kann als Aufruf gesehen werden, auszubrechen – raus aus den immer gleichen Mustern. Nur so kann der stets präsenten Tragik entgangen werden und wir sollten es wie Hausner machen: Auf den Spuren der Vergangenheit wandeln, aus gemachten Fehlern lernen und mutig neue Wege gehen.