Die Beruhigung der Bilder in Zeiten rastloser Selbstoptimierung – Methode und Filmästhetik im Jessica Hausners TOAST (2006)

von Sabine Prinsloo

TOAST (Kunsthaus Graz)

Malen heißt für den belgischen Maler Luc Tuymans verschleiern, um zu entschleiern.

In seinen Bildern aus den 2000er Jahren verwendet Luc Tuymans die ästhetische Methode der Überdeckung, des Unsichtbarmachens, in diesem Fall von historischer Schuld, um ganz das Gegenteil zu bewirken, nämlich Aufmerksamkeit für altes Unrecht – aktualisiert in neuem Unrecht – freizusetzen. Tuymans artikuliert und visualisiert die seiner Meinung nach kolonialistische Unrechtsherrschaft des belgischen Königshauses in Belgisch-Kongo[1] hinter einer seine Gemälde überdeckenden weißlichen Firnis des Vergessens, des Verdrängens, des Eradierens, des Unsichtbarmachens. Er versteckt die brutalen menschenverachtenden Problematiken weißer Herrschaft in Afrika und bringt sie doch gleichzeitig zur Kenntnis, weil er Anteile von aktiven Passivitäten[2], die er bei seinem Kunstpublikums in Bezug auf das Recht- bzw. Unrechts-Bewusstsein für koloniale Geschichte vermutet, zu generieren und zu verstärken versucht.

Das Bild „Mwana Kitoko/Schöner weißer Mann“, entstanden im Jahre 2000, zeigt den 24jährigen König Baudouin I. von Belgien in Lebensgröße und in weißer Paradeuniform, die Augen verborgen hinter einer dunklen Sonnenbrille beim unsicher-ungeschickten Verlassen/Aussteigen aus seiner Regierungsmaschine. Er betritt im Jahre 1955 zum ersten Mal afrikanischen Boden, den westlich-zivilisierten Asphalt der Landebahn auf dem Flughafen der damaligen Hauptstadt Leopoldville[3]. Unter dem kalkig-ablöschenden weißen Auftrag dieses gemalten Ent-/Täuschungsversuchs zum Zwecke der Ent/-Verschleierung der Fakten und der Widerrede bzw. des Schönredens weißer Supremacy nimmt der Künstler dem jungen belgischen Herrscher von Gottes Gnaden maltechnisch und stilistisch den beanspruchten Glanz seines repräsentativen und unhinterfragten Herrschaftsanspruchs. Baudouin I. wird sich auf eine großangelegte Inspektionsreise der von westlichen Konzernen ausgebeuteten Kolonie begeben. Ziel dieser aufwendig geplanten Reise durch das belgische Untertanengebiet in Afrika ist die (erneute) Verstetigung der belgisch dominierten und kontrollierten Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnisse in der einstigen Privatkolonie seines Großvaters Leopold II.

Anlässlich der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten zur Gründung der Republik Kongo, die am 30. Juni 1960 stattfanden, begab sich Baudouin erneut nach Leopoldville und zwar wieder herrschaftlich-anachronistisch hochdekoriert und in eine makellos weiße Paradeuniform gekleidet. Qua Geburt personifiziert er dergestalt die weiße Herrschaftsanmaßung/-inszenierung und interpretiert in seiner Festrede die Zeiten der einseitigen Ausbeutung des Landes und die Unterdrückung der Ureinwohner als „zivilisatorische Verdienste“ der belgischen Kolonialbehörden. Als Baudouin gerade in offener Limousine durch die Straßen von Leopoldville zum kongolesischen Parlament chauffiert wird, gelingt es einem Kongolesen, ihm den Säbel, das Symbol der brutalen, profitorientierten, hypokratisch-suprematistisch  argumentierenden Kolonialmacht, zu entreißen.

Das Portrait des Repräsentanten des Kongo, der den politischen Gegenentwurf zu Baudouin I. verkörpert, der afrikanischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba[4] – in westdeutschen Zeitungskarikaturen der 1950iger und 1960iger gerne als Negerpremier oder in belgischen Blättern als Satan verhöhnt – verhüllt Tuycmans gleichfalls unter einem milchigen Überstrich, um ihn als Mann einer modernen und gebildeten (évolués), einer in Europa vielfach nicht erstgenommenen afrikanischen Intellektuellen-Elite, einzusortieren. Am 30. Juni 1960 zum ersten Premierminister des unabhängigen Kongos gewählt und somit personifizierter Mythos des antiimperialistischen Kampfes in Afrika, wurde Lumumba knappe sechs Monate nach den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten von den katangischen Soldaten seines Gegenspielers Moise Tschombé, die unter belgischem Kommando agierten, brutal ermordet. Sein Körper wurde zunächst in Einzelteile zerlegt und dann in Batteriesäure aufgelöst, welche von einer belgischen Minengesellschaft zur Verfügung gestellt worden waren. Um zu garantieren, das westliche international agierende Konzerne, wie z. B. die Bergbaugesellschaft Union Mi-nière du Haut-Katanga, Godiva Chocolatier u. a., weiterhin die Kontrolle über den Abbau von Uran[5], Kupfer, Gold, Cobalt, Diamanten, Mangan und Zink und den Anbau von Kautschuk, Kaffee, Kakao und Palmöl behielten und entsprechend Profit generieren konnten, hatten die belgische und die amerikanische Regierung[6] frühzeitig begonnen, Lumumbas innenpolitische Gegner logistisch, finanziell und militärisch zu unterstützen, denn Lumumba hatte seinerseits die Sowjetunion um militärische Unterstützung gegen die belgischen Truppen und Konzerne im Land gebeten.

Das Sichtbarmachen der „world of naked truth“ durch das „perfectible eye“ der Kamera heißt für Dziga Vertov, den russischen Avantgarde-Film als „state of trust“ zur Umsetzung der Utopien des Sowjetkommunismus einzusetzen.

Der russische Avantgarde-Filmemacher Dziga Vertov wollte mit einer eigenen Ästhetik der Filmkunst völlig neue, den Möglichkeiten des menschlichen Auges unsichtbar bleibende semantische Felder erschließen. Die üblichen literarisch-narrativen Vorgaben für den theatralen Unterhaltungsfilm lehnte er kategorisch ab. In seinen Filmen wollte er „a world perceived without a mask, as a world of naked truth (that cannot be hidden)“ zeigen.[7] Vertov definierte das Kino folgerichtig als das Medium, das “as >the feel of the world< through the substitution of the camera, that >perfectible eye<, for the human eye, that >imperfectible one< einzufangen und festzuhalten habe. He relocates the frontier between mimesis and >the feel of the world<, recalling to us Shklovsky`s command: We live as if coated with rubber; we must recover the world,” wie es die Filmwissenschaftlerin Annette Michelson 1972 in einem Essay für das Magazin Artforum formulierte.[8]

Vertov war der Überzeugung, durch seine theoretisch-praktischen Grundlagen einer neuen avantgardistischen Filmtheorie und einer neuen Praxis des Films die politischen und propagandistischen Ansprüche an das noch neue Medium Film als Bildungsinstrument für die groß-städtische Massen zur erfolgreichen Umsetzung der Utopien des Sowjetkommunismus in den 1920iger Jahren ge/erfunden zu haben. Durch den gezielten Einsatz bestimmter filmästhetischer Aufnahme- und Montagetechniken, so Annette Michelson, versuche er sein „disdain of the mimetic“[9] zu überwinden. Sein “concern with technique and process, with extensions and revelation, stamp him as a member of the Constructivist generation. The shared ideological concern with the role of his art as the agent of human perfectibility, of social transformation which issues transformation of consciousness is the most complete and intimate sense, the certainty of accession to ´the world of the truth`, are grounded in the acceptance, the affirmation, of the radically synthetic quality in the stylistics of montage.”[10]

In diesem Sinne sind für Vertovs Kino-Eye-Technologie vier Parameter maßgeblich: 1. sei “Kino-Eye (is) a victory against time. It is the visual link between phenomena separated from one another in time. Kino-Eye gives a condensation of time, and also its decomposition”; 2. verfüge Kino-Eye über “all the current means of recording ultra-rapid motion, micro-cinematography, reverse motion, multiple exposure, foreshortening, etc … and does not consider these tricks, but as normal of which wide use must be made”; 3. benutze Kino-Eye “all resources of montage, drawing together and linking the various points of the universe in a chronological or anachronistic order as one wills, be breaking, if necessary, with the laws of customs of the construction of cine-thing”; 4. würde Kino-Eye “in introducing itself into the apparent chaos of life” versuchen, “to find in life an answer to the question it poses; to find the correct and necessary line among the millions of phenomena which relate to the theme.”[11]

Jay Leyda präzisiert Vertovs Konzept des sowjetischen Avantgarde-Films: “The apparent pur-pose of the film was to show the breadth and precision of the camera`s recording ability … the cameraman is made a heroic participant in the currents of Soviet life. He and his methods are treated by Vertov in his most fluid montage style, establishing large patterns of sequences … the audience, the working day, marriage-birth-death, recreation – each with a whirling galloping climax … performed by a cameraman … and a film cutter armed with the boldness of Vertov and Svilova.” Das Ergebnis sei “an avant-garde film … a state of trust”.[12]

Die Vertreterin des Neuen österreichischen Films, die Filmautorin und Filmemacherin Jessica Hausner verschleiert – wie Luc Tuymans – absichtlich ihre/die Sicht auf die Dinge in ihrem Kurzfilm TOAST aus dem Jahre 2006 durch eine optisch operierende artifizielle Pastell-Ästhetik in einer durch das Mise-en-Scène gerahmten „painterly-composition“[13]. Sie schafft ästhetische Umgebungen in radikaler Unbestimmtheit und stellt damit Dziga Vertovs Konzept von Film als „state of trust“ in Frage.

Hausner verweigert unter Verwendung eines pseudo-dokumentarischen, sezierenden Filmstils scheinbar jede ideologische Agenda.[14] In Wirklichkeit jedoch entdeckt die pseudo-unbeteiligte Kamera den Zuschauer*innen scheinbar anti-narrative Geschichten der unterschiedlichsten Problematiken des Frauseins in einer weiterhin männerdominierten Welt.[15] Männer halten auch in TOAST die Leerstelle in der femininen Film-Ästhetik[16] – unsichtbar nicht anwesend – besetzt. Die Sogwirkung des Materials, das ohne Montagecuts auskommt, entsteht dadurch, dass die Erwartungshaltung der Zuschauer*innen auf einen Plot, eine Narration mit Anfang und Ende oder einer Eskalation des Geschehens in der Wiederholung maximal-minimalst erfüllt wird, indem die eigentliche Spannung in die aktive Passivität[17], die Erwartungshaltung des Publikums ausgelagert wird. Insofern erwirkt deren Aktivität auch den eigentlichen Suspense. Es ist also nicht das tatsächlich Gezeigte bzw. dessen geringstfügig eskalierende Variationen, die den Sog erzeugen, sondern das Nicht-Gezeigte aber unspezifisch Erwartete.

In ihrem konzeptuellen 40minütigen dialog-/monologlosen Installationsloop TOAST setzt Hausner ihre junge blonde, einem It-Girl nicht unähnliche Protagonistin bei der Benutzung eines billigen hellblau-weißen Allerwelts-Toasters mit dem Markennamen „FIRST AUSTRIA“ in Szene. Viermal wird die unspektakuläre Zubereitung dieser ungewöhnlich zusammengesetzten Mahlzeiten – als Hitchcocks MacGuffin funktionierend – absurd-repetitiv und surreal anmutende Szene dokumentiert. “In nudging audiences into a zone of radical uncertainty“[18], fokussiere Hausners Kamera – zwecks Infragestellens – bestimmte überkommene soziale Konstrukte und Konventionen und zeige deren Folgen wie z. B. destruktive Selbsttäuschungs- und Übersprunghandlungen, so die Filmjournalistin Carmen Gray.[19]

Gut 80 Jahre nach Vertovs Revolution des Films und fast gleichzeitig mit Tuymans Bildern entscheidet sich Hausner gegen die narrativ-suggestive Aufbereitung von Bildmaterialien. Stattdessen stellt sie in ihrem Filmessay das Versprechen auf eine freie, gleichberechtigende und sozialmarktwirtschaftlich, demokratisch organisierte (österreichisch/westeuropäisch) Nachkriegsutopie in Frage, die ihrer Meinung nach inzwischen bereits wieder unter den Rädern der globalen Dystopien des patriarchalisch-neoliberalen Zeitalters der Postmoderne zermalmt zu seien scheint.[20] Die Träume von einem allgemeinen, sozialmarktwirtschaftlichen und selbstbestimmten Wohlstand haben sich in der standardisierten, ergonomischen, klinisch sauberen Einbauküche aus billigster mit glänzendem Resopal beschichteten und somit pflegeleichten Spanplatte pseudomaterialisiert. Eine undurchdringlich kalkige Firnis aus unhinterfragten gesellschaftlichen Konventionen überlagert bzw. beherrscht in Hausners TOAST die uneingelösten Versprechen und reduziert die politischen Angebote optisch auf das vermeintlich alltäglich Notwendige oder Praktische, auf ein preislich erschwingliches, aus der modernen amerikanischen Traumfremde stammendes Konsumgut: die Scheibe Weizen-Toast[21], die schnell zubereitet und kaloriengesättigt angeblich die tägliche Reproduktion der Arbeitskraft garantieren kann. Als weitere Kompensation für die unerledigte soziale Utopie materialisiert sich in TOAST die pastellige, weißlich-hellblaue Küchenzeile mit vorgelagerter Kochinsel, bestehend aus einer Reihung von vier schwarzen Unterbau-Standschränken (die selten in den reduzierten Bildausschnitt geraten) im gängigen Normmaß plus Sockel und weißer Arbeitsplatte, einem eingelassenen hochglänzenden Nirosta-Spülbecken mit praktischer Abtropffläche und integriertem Abfalleimer, vier farblich passenden Hängeschränken, errechnet nach den Maßen des Goldenen Schnitts (Durchschnittskörpergröße des Mannes bei ausgestrecktem Arm: 226 Zentimetern), in großen Stückzahlen hergestellt in den ins Ausland verlagerten Profit-Optimierungs-Werkstätten der einheimischen Küchenhersteller*innen. Die Österreicherin Margarete Schütte-Lihotzky hatte im Jahre 1926 den Urtyp der standardisierten Einbauküche, der sogenannten Frankfurter Küche von nur 6,5 Quadratmetern Größe (Taylorsystem) ersonnen, um durch eine Beschleunigung der Arbeitsprozesse in der Küche die Mehrfachfunktionen der berufstätigen Ehefrau und Mutter zu ermöglichen. Später wurde diese erste Variante von (vielen männlichen) Designer-Koryphäen zwecks eines maximal gewinnträchtigen Verkaufs kopiert, verbessert, standardisiert und ist heutzutage ein preiswertes Massenprodukt, erschwinglich mit Montage bei XXXLutz, DAN Küchen oder Möbelix als kund*innenfreundliches Gesamtpaket, das gerne auch durch die hausinternen Banken zwischenfinanziert werden kann.

In ihrer Rezension auf der Seite des British Film National Archives verdichtet die Filmkritikerin Carmen Gray das sichtbare Geschehen in TOAST mit folgenden Worten: „In a kitchen of cloying pastels, a blonde woman in an embossy tracksuit prepares and eats toast, over and over, with an array of toppings. She sporadically leaves the room (to vomit?). With each repetition, this simple domestic act becomes more compulsive, even as any projection of interiority is deflected. Her face blank, she fills herself up, but gives nothing away to the camera. This is Hausner´s realm of the absurd, contextless uncertainty, as the security of everyday acts is punctured by the arrival – psychic haunting even – of transgressive anomaly.”[22]

Hausners Kameramann hält in TOAST konstant die zentralperspektivische Point of View Position ein und filmt leicht von unten kommentarlos-dokumentarisch vier Sequenzen von je knapp zehn Minuten in vier kaum unterscheidbaren Varianten diese Welt von Pastelltönen ab. Die Kamera/das Aufnahmegerät der Influenzerin (die vergessen hat, dass die Kamera noch immer oder schon läuft) rührt sich nicht von der Stelle, bleibt in der einmal/einmalig eingenommenen „planimetric position“. Schwenks in Richtung Kühlschrank, Toaster und Vorratsschrank über der Spüle sowie Zooms auf die essende Protagonistin (ein unverhoffter, ungeduldiger Reißschwenk macht den Zuseher*innen Hoffnung auf Einsichten des Verstehens) werden in großer Ruhe ausgeführt. Die Kamera scheint das Prozedere, dieses Ritual der Verköstigung zu kennen. Den „shooting style“ des “straight-on shoots” als charakteristisches “cinematic staging”, so der amerikanischen Filmwissenschaftler David Bordwell, verwände Hausner später auch in Lourdes und sie hat ihn meiner Meinung nach bereits in TOAST benutzt„to eschew depth or diagonals, refusing the spectator entrance into the image and holding her instead at a deliberate distance. Den Zuschauer*innen würde – wie in allen Hausner Filmen – eine Geschichte mit (logischen) Erklärungen zum Geschehen und zur (intendierten) Message bewusst vorenthalten. Hausner ziele darauf ab, in Brechtscher Manier[23] „to rupture illusionism and to bring about an active spectator“[24], um (Mikro-)Irritationen zu kreieren. Die Erwartungshaltung des Publikums werde bei ihr zugunsten der Freiheit des individuellen Erkenntnisprozesses in größter gegenseitiger „aktiver Passivität“ zwischen der Kamerapositionierung – die gleichzeitig die Zuschauer*innenposition ist – auf der einen Seite und der Performance der Schauspielerin auf der anderen/der gegenüberliegenden Seite zur Disposition gestellt. Die sichtbaren Handlungen werden dementsprechend in scheinbar größtmöglicher informatorischer Ungerichtetheit und minimal mimischer Anwesenheit kreiert und erschaffen in dieser Abhängigkeit das (vielfältige) „meaning“. Was da genau gemeint ist, entscheiden die Zuschauer*innen – auf der Grundlage der wohlkalkulierten Vorentscheidungen des Filmteams für oder gegen bestimmte ästhetische Aspekte der Inszenierung/des Mise-en-Scène.

Das sich auf dem schmalen Streifen hinter der Kochinsel abspielende Spiel der Schauspielerin findet ausschließlich auf der parallel-planimetrischen ausgerichteten Laufstrecke statt: 1. zwischen der nicht im Blickfeld liegenden Küchentür (rechts); 2. dem Kühlschrank (links als zweitwichtigster der vier statisch anwesenden Handlungsträger); vor 3. der Einbauküchenwand (mit Vorratsschrank, Spüle und Abfalleiner); 4. hinter der Kochinsel mit Arbeitsfläche. Das Filmen des Geschehens wird in fünf Einstellgrößen unspektakulär abgewickelt: medium long shot/Halbtotale (kaum), medium long shot/Amerikanische (meistens), medium close-up/halbnahe Einstellung (selten), close shot/Großaufnahme (selten) und close-up der zubereitenden Hände und des Gesichts/Mundes beim Essensvorgang. Die Undurchdringbarkeit der planimetrischen Setzung[25] wird durch die reduzierte Verwendung naher Einstellungsgrößen nur scheinbar in Frage gestellt. Im Verlauf des Films, des Installationsloops, verstärkt sich der Eindruck, die Szene spiele sich hinter einer Plexiglasscheibe ab, eingebaut als weiteres Hindernis für den Erkenntnisprozess der Rezipient*innen. Obwohl das Publikum das unorthodoxe Essverhalten der Protagonistin – die zunehmend ausgehungerter erscheint und ihre in der ersten Sequenz etablierten Essensregeln – wenn auch geringstfügig immer hemmungsloser verletzt – antizipiert, wird dessen genuine Erwartungshaltung gegenüber dem filmischen Geschehen in dieser speziellen Inszenierung von Essenszubereitung und Essensentzug beständig unempathischer. Trotz der zum Ende hin gelegentlich zu Gehör gebrachten Schmatz- und Schleckgeräusche der Schauspielerin, die „authentic emotions“[26] behaupten, wird das Penetrieren der Oberflächen zwecks der Verortung der Prognosen und Interpretationen für das Publikum nicht möglich gemacht. Es wird unterbunden und verhindert. Die Erkenntnis, dass eine Identifikation mit der Rollenträgerin ausbleibt, die Identifikation mit der Schauspielerin durch  eine Missachtung oder ein Ignorieren des Publikums filmästhetisch bewusst verhindert wird, ist die eigentliche Überraschung und ein später Schock für die Zuschauer*innen und meiner Meinung nach der Schlüssel zu Hausners Botschaften: „Meaning is self-actualization.“[27]


[1] Wikipedia: ab 1877 belgisch kolonialisiert; ab dem 23.04.1885 Kongo-Freistaat – als Ergebnis der internationalen Kongo-Konferenz von 1884 – ist die Association Internationale du Congo Eigentümerin des Kongo-Freistaats und somit das ganze Gebiet im Privatbesitz von Leopold II. von Belgien; ab 1908 Belgisch-Kongo; 1960 Freie Republik Kongo; 1961 Bundesrepublik Kongo; 1964 Volksrepublik Kongo; 1964 Demokratische Republik Kongo/Kongo Léopoldville; 1966 Demokratische Republik Kongo/Kongo Kinshasa; 1971 Republik Zaire; 1991/92 Kongo-Zaire; seit 1997 Demokratische Republik Kongo.

[2] Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt: S. Fischer 2014, S. 240-265.

[3] Seit 1884 benannt nach dem belgischen König Leopold II.

[4] 1958 gründete Lumumba für die Unabhängigkeit des Kongo eintretenden Partei Mouvement National Congress.

[5] Das Uran für das Manhattan-Projekt der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki kam aus den belgischen Minen im Kongo. https://belgien.net-belgiens-kolonialpolitik.

[6] Am 18.08.1960 wies der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower die CIA an, Lumumba zu töten. Allen Dulles schrieb am 28.08.1960 an einen amerikanischen Agenten vor Ort:“ Wir haben beschlossen, dass die Beseitigung Lumumbas unser wichtigstes Ziel ist und dass dieses Ziel unter den gegebenen Umständen innerhalb unserer geheimen Aktion Priorität genießt.“

[7] Michelson, Annette, “From Magician to Epistemologist: Vertov´s The Man with the Cam-era”, Artforum 10, no. March 1972, S. 116.

[8] Ebd. S. 113-132.

[9] Ebd. S. 119.

[10] Ebd. S. 120.

[11] Ebd. S. 120.

[12] Ebd. S. 117.

[13] Wheatley, Catherine, „Present Your Bodies”: Film Style and Unknowability in Jessia Hausner`s Lourdes and Dietrich Brüggemann´s Stations of the Cross, S. 1.

[14] Dassonowsky, Robert von, Women Screenwriter: Austria, University of Colorado Springs 2015, S. 234.

[15] https://www.bfi.org.uk/news-opinion/news-bfi/features/where-begin-jessica-hausner, 10.06.2020.

[16] Ebd.

[17] Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt: S. Fischer 2014, S. 240-265.

[18] http://www.bfi.org.uk, 07.06.2020.

[19] Ebd.

[20] https://www.vulture.com/2019/12/jessica-hausner-little-joe-interview.html., 01.06.2020.

[21] https://www.ovb-online.de, 09.06.2020: Eine Scheibe Weizentoast wiegt 25 Gramm und verspricht verlässlich 68 Kilokalorien.

[22] Gray, Carmen, bfi.org.uk, 10.05.2020.

[23] Wheatley, Catherine, S. 63.

[24] Ebd. S. 63.

[25] Ebd. S. 62.

[26] https://.com/2019/12jessica-hausner-little-joe-interview.html, 10.05.2020.

[27] Ebd.