Was uns bindet – ein Geflecht aus Schmerz und Komik

Alexandra Metzger

„Ehrlich – berührend – brutal“ … mit diesen drei Begriffen beschreibt Ivette Löcker ihren tragikomischen Dokumentarfilm mit den Mitgliedern der Familie Löcker als Protagonistinnen und Protagonisten. Die in Berlin lebende Salzburgerin löst mit der Frage „Was verbindet euch?“ eine regelrechte Lawine an Gefühlen bei ihrer Familie aus. Mutter und Vater leben getrennt, aber doch zusammen. Sie teilen sich ein Haus im Lungau, Salzburg, was laut Ivettes Mutter einer der beiden ausschlaggebenden Teile der Verbindung zwischen ihr und ihrem Ehe-Gatten ist. Der zweite Aspekt sind die Kinder. Das „Paar“ hat miteinander drei Kinder Ivette, Simone und Marlies. Außerdem teilen sie sich einen Hund „Daisy“, wobei dieser wohl größere Überlebenschancen bei Ivettes Mutter hat – zumindest ihr zufolge. Sie leben seit 18 Jahren in einer unabhängigen Abhängigkeit voneinander, wobei Frau Löcker ihren Ex-Partner bemuttert und Herr Löcker seine Ex-Partnerin auf Trab hält. Ivettes Mutter spricht davon, nie allein zu sein, im Guten, wie im schlechten Sinn. Ob es die Angst ist allein zu sein oder emotionale Abhängigkeit ist, dass die beiden davon abhält sich voneinander scheiden zu lassen, sei dahingestellt.

Für den Großteil der Zuschauenden ist diese Familie ein Wrack, andere sehen die eigenen Eltern auf der Leinwand. Der Film regt dazu an, eine Reflexion der eigenen Familie vorzunehmen und Gemeinsamkeit, sowie Unterschiede zu Familie Löcker zu erkennen. Die Regisseurin selbst empfindet das Zusammenleben ihrer Eltern als außergewöhnlich und als ein „komisches Arrangement“. Im Gespräch bei der Diagonale 2025 bestätigt sie das, indem sie einräumt, nicht von der Reichweite solcher Familienkonstellationen geahnt zu haben. Der Baumeister bringt die Geschichte der Eltern Löcker auf den Punkt: „Das Halbherzige ist das Schlimmste überhaupt … eine halbherzige Partnerschaft ist nichts …“ Werner und seine Frau haben sich auf ein Arrangement geeinigt, woran sie halbherzig Anteil nehmen. Mit dieser Lebensweise ist es offensichtlich nicht einfach, sich glücklich schätzen zu können. Beide sind dazu verdammt miteinander in einer Hass-Liebe zu bestehen. Diese Verbindung spiegelt sich im Hase-Hund-Motiv wider, das sich im Laufe des Films immer wieder aufrollt. Der Hase repräsentiert die Mutter der drei Schwestern und der Hund den Vater. Die Inszenierung der. Tiere, mit dem Hasen als Gejagter und dem Hund als Jäger, stellt die Konstellation zwischen Herrn und Frau Löcker dar. Mit einem Jump-Scare zeigt Ivette Löcker dem Publikum eine Szene, worin Daisy (der Hund der Löckers) beinahe einen Hasen erwischt, mit dem Gedanken an die Folgen, die kurz zuvor von ihrer Mutter berichtet wurden. In Minute 1:29:48 der Dokumentation ruht die Kamera auf einem seltenen Bild: Hund und Hase sind eingesperrt in Hasenkäfigen.

„Der Film soll anfangen wie Blue Velvet, das war von Beginn an klar.“ Darüber ist sich das Filmteam einig. Verschiedene Aufnahmen des Hauses und Gartens aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Löcker-Mama wässert ihren Garten und kurze Einstellungen des Alltags der Eltern werden gezeigt. Darauffolgend setzt das Gespräch zwischen Kamera und Eltern der drei Schwestern, die in gemeinsamer Verlegenheit und Unbehagen nebeneinander der Kamera gegenübersitzen, an. Ivette stellt als Figur aus dem Off verschiedene Fragen, die von beiden zu beantworten sind. In den ersten Minuten der Dokumentation über Familie Löcker werden die charakterlichen Eigenschaften von Mutter und Vater dem Publikum am Silber-Tablet serviert. Eine einfühlsame und zurückhaltende „Schwammerlsucherin“ trifft auf einen impulsiven und unverblümten „Realisten“. Auf die Frage, warum sich die beiden nie scheiden lassen haben, finden sie in der Gewöhnung aneinander und der gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Antwort.

Der Titel des Dokumentarfilms Was uns bindet ist nicht nur auf die elterliche Beziehung bezogen, sondern auch auf das frisch vererbte Bauernhaus, das die beiden Schwester Ivette und Simone an deren Kindheitsort zurückführt und daran wohl binden soll. Mit sich selbst in der Doppelrolle als Schauspielerin und Regisseurin, gibt sie nicht nur Einblicke in das Leben ihrer Familienmitglieder, sondern auch in das eigene. Die Beziehung zu ihrer Familie ist schwierig. Eine gewisse Szene im Film bestätigt diese Annahme: über Skype telefoniert sie mit ihrer Schwester Marlies und erzählt dieser unter Tränen von den Worten ihres Vaters. Er ist seit langer Zeit offen für eine neue romantische Beziehung und ist wohl unter anderem der Kinder zu Liebe bei deren Mutter geblieben. Ihrer jüngsten Schwester entlockt sie, dass deren Verbindung zu den Eltern mit Kind schwieriger geworden ist, aber für sich selbst war die Trennung der Eltern kein Leichtes. Nach vielen Streitgesprächen zwischen Herrn und Frau Löcker zieht die jüngste Schwester Marlies in den Keller, um dieser Zerrissenheit zu entkommen. „Manchmal muss man lachen, um nicht zu weinen.“ Die Mutter der drei Schwestern lebt wohl nach diesem Motto, vor allem, wenn sie Zeit mit Werner (Vater von Ivette, Simone und Marlies) verbringt. Ihr belächelndes Verhalten ihm gegenüber erinnert an den Versuch ihrem Gatten humoristisch entgegenzuwirken.

Die Entstehung des Projektes Was uns bindet (2017) fußt auf der Zustimmung und Teilnahme der Familie Löcker mit all ihren Mitgliedern. Ivette Löcker beschreibt im Gespräch bei der Diagonale 2025 die Reaktionen der einzelnen Angehörigen. Der Zustimmungswille passierte in Abstufungen, die mit dem extrovertierten Vater Werner Löcker beginnt. Laut Ivette war er sofort dabei, wohingegen ihre Mutter ihrer Überredenskünste unterworfen werden musste. Bei den beiden Schwestern spielte sich das Gespräch wohl ähnlich ab, da die mittlere der drei, Simone, das Projekt „nicht in Frage gestellt hat“. Wohingegen die jüngste Schwester Marlies nur einverstanden war, wenn sie über Skype teilhaben konnte. Letztendlich stand dem Dreh des Films nichts mehr im Weg. Der Kameramann, Frank Amann, folgte der Familie durch den Alltag, ob im salzburgischen Lungau oder dem Kindheitsort der Mutter in Slowenien namens Markovci, am Berg oder im Tal, die Kamera war immer dabei. Durch diese begleitende Rolle war es dem Team möglich unter anderem landschaftliche Aufnahmen zu ergattern, die immer wieder als Rahmenhandlungen zwischen Dialoge montiert wurden. Mittels Groß- und Nahaufnahmen wird der dokumentarische Charakter des Films deutlich und die Nähe zu den Charakteren reduziert. Essayistische Elemente im Film: subjektive Reflexion ihrer Familienmitglieder und des eigenen Erbes, sowie die Konfrontation mit der Vergangenheit. Löcker stellt hauptsächlich ihren Eltern philosophische Fragen und reflektiert dabei auf deren Sicht. Des Weiteren bringt der dokumentarische Filmstil eine gewisse Authentizität hervor, die durch die Charaktereigenschaften und intimen familiären Beziehungen untereinander schöpfen. Alle Emotionen der psychischen Weite werden vor laufender Kamera gezeigt. Nichts bleibt im Verborgenen. Löcker verwendet poetische Bilder und eine offene narrative Struktur, um die Komplexität ihrer Familiengeschichte zu erfassen. Dies ermöglicht dem Zuschauer, eigene Interpretationen zu entwickeln.