Gebleckte Blüten
von Norma Eggenberger
„I can handle the unpredictable.“ Das meint die Pflanzenzüchterin Alice zu ihrer Psychologin, als sie von ihrem neuesten Erfolg redet. Ihr neuester Erfolg ist nämlich eine Pflanze, welche ihre Besitzer_innen glücklich machen soll. Durch regelmäßiges Wässern, Wärme zuführen und gutes Zureden fühlt sich die Pflanze geborgen, empfindet Liebe und bedankt sich mit der Freisetzung ihres Duftes, welches Oxytocin beinhaltet. Oxytocin, erklärt Alice dem Gremium, das sich die Pflanze für den bevorstehenden Wettbewerb ansieht, ist ein sogenanntes Mutterhormon, welches das Band zwischen Mutter und Kind festigt. Wie stark sich dieses zwischen Pflanze und Besitzer wirklich festigt wird im Verlauf des Filmes fraglich. Durch das Jinxen, welches Alice bei ihrer Psychologin vollzieht, trifft genau das zu, gegen was sie sich durch das Klopfen auf Holz beschützen will: das Unvorhergesehene.
An ihrem eigenen Sohn wird klar, wie sehr der Schein trügt. Denn die Schönheit der Blüten können nicht über deren Gefährlichkeit hinwegtäuschen. Als Geschenk bringt Alice ihm die Blume nach Hause und benennt sie sogar nach ihm. «Little Joe». Wenig später stellt Alice fest, dass sich das Verhalten ihres Sohnes kontinuierlich verändert. Er scheint glücklich. Ob seine Verhaltensänderung auf den Duft der Blume rückzuschließen ist, oder Joe einfach eine pubertäre Phase durchmacht bleibt schleierhaft. Aber auch an den Arbeitskollegen merkt Alice, dass der Kontakt mit der Blume nicht spurlos an ihnen vorbeizieht. Allen voran Bella, eine Wissenschaftlerin, die der Überzeugung ist, dass die Pflanze aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit Rache nehmen will. Doch eine Nacht im Gewächshaus, den Duftstoffen der roten Blüte ausgesetzt, lässt Bella mit einem Lächeln im Gesicht all ihre Zweifel dem Gewächs gegenüber fallen. Und trotzdem: Man ist sich nie vollständig sicher, wem man Glauben schenken darf und was man glauben soll. Mit dem spielt Jessica Hausner allgemein gerne, mit der Unsicherheit. Auch in ihren vorangegangenen Filmen herrscht Ungewissheit. Man befindet sich auf einer ständigen Gratwanderung zwischen dem Unterbewusstem und dem Offensichtlichem, wobei sich solche Momente wie ein roter Faden durch den Film ziehen.
Diese Ambivalenz wird auch durch die Musik des verstorbenen japanischen Komponisten Tejij Ito unterstrichen. Die Sterilität des Labors wird durch ein Pfeifen untermalt, das im Publikum Unwohlsein auslöst. Eine Art Warnzeichen, dass etwas mit den Pflanzen nicht in Ordnung sein kann. Zusätzlich suggeriert aggressives Hundegebell die Größe der von der Pflanze ausgehenden Bedrohung. Im Kopf aufsteigende Bilder von gebleckten, Speichel triefenden Reißzähnen vermischen sich mit den auf der Leinwand ersichtlichen, scheinbar betörenden Blütenblättern. Somit wird dem Film durch die Soundeffekte etwas Künstliches, fast schon Abgestorbenes, gegeben. Als befinde man sich in einer Geisha- oder Theater-Vorführung, bei der nichts so ist wie es scheint.
Das Künstliche zeigt sich auch in den knalligen Farben der Einrichtung, der Kleidung und den Plastikverpackungen des Essens. Genau diese synthetischen Aspekte geben den Anschein, man befände sich in einem futuristischen Setting. Aber auch da grüsst wieder die Widersprüchlichkeit, denn das knallige Bühnen- und Kostümbild schreit 70er Jahre. Nur die wortkargen Dialoge wirken durch ihre Aussparungen authentisch. Auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn scheint herzlich und warm. Erst die Blume entzieht der Beziehung nach und nach jegliche Nähe, bis zu dem Grad, dass der Sohn seine eigene Mutter nicht mehr auf der Straße erkennt. Und auch da lässt uns Hausner in Ungewissheit: Der Sohn schreibt die Wahrnehmung der Mutter als Hirngespinst ab und meint sachlich und bestimmt, sein Verhalten sei eben normal für sein Alter. Ob die Blume nun der wahre Übeltäter ist, oder ob die Mutter ihre unausgesprochenen Sehnsüchte nach Freiheit auf ihren Sohn und dessen eigenartige Beziehung mit der Pflanze abwälzt, bleibt unbeantwortet.
Hausner schafft es mit ihrem neuen Film Verwirrung und Beklemmung ohne explizite Inhalte hervor zu rufen. Immer auf der Hut, nie ganz schlüssig, ein Horror-Erlebnis ohne Gemetzel. Und trotzdem liegt dem Schluss eine scheinbar eindeutige Interpretation auf. Durch die kleine, aber bedeutende Anwesenheit der Pflanze in dem Büro der Psychiaterin erhält sie den endgültigen Stempel des Bösewichts. Ein Bösewicht, ähnlich wie ein Virus, welcher sich allmählich verbreitet und sich in immer mehr Köpfen einnistet. Durch die schlussendlich fehlende Ambivalenz büßt der Film seine großartige Unvorhersehbarkeit ein, welche sich normalerweise immerwährend durch Hausners Filme und deren Enden zieht.
Die Pflanze in Jessica Hausners Jurassic Park
Von Dennis Ritter
Jessica Hausners Science-Fiction-Drama Little Joe (2019) transferiert bekannte Prämissen aus der filmischen Kreidezeit in die Moderne – ackert sich dabei aber stellenweise an den Reliquien vergangener Zeiten zugrunde.
Die Idee zum Film ist in der Filmografie von Hausner erfrischend und entfernt sich auf den ersten Blick von ihren bekannten Pfaden. Alice (Emily Beecham) ist im doppelten Sinne eine alleinerziehende Mutter: Sie kümmert sich voller Fürsorge um ihren Sohn Joe (Kit Connor) und er ist der Mittelpunkt ihres Lebens. Doch dann ist da noch ihr zweites „Baby“, die genetisch gezüchtete Pflanze „Little Joe“ – benannt nach ihrem Sohn. Alice arbeitet als Pflanzenzüchterin bei Planthouse Biotechnologies, die daran forschen, eine genetisch mutierte Pflanze zu erschaffen, die glücklich macht. Sie und ihr Kollege Chris (Ben Whishaw) betreuen die roten „Little Joe“-Pflanzen. Abseits der Arbeit bahnt sich zwischen Chris und Alice eine romantische Beziehung an, als es auf der Arbeit zu beunruhigenden Entwicklungen kommt: Bella, eine Kollegin von Alice und Chris, äußert den Verdacht, dass die Pflanze extrem gefährlich sei. Eine schwierige Situation für Alice, da ihr gesamter beruflicher Erfolg an diesem Projekt hängt und sie sich nicht erlauben kann, dass es zu Komplikationen mit der Pflanze kommt. Gleichzeitig muss sie die Gefahr dennoch ernst nehmen, da sie eins der Exemplare heimlich entwendet und es ihrem Sohn geschenkt hat.
Die Idee, die dieser Handlung zugrunde liegt, ist spannend und fühlt sich zeitgemäß an. Das Thema Genmanipulation war in den vergangenen Jahren regelmäßig in den Medien präsent und stößt immer wieder den Gedanken an, wie weit die Menschen in ihrem eigenen Schöpfungsprozessen gehen dürfen. Zur Darstellung dieses Gedankens bedient sich Hausner eines cineastischen Meilensteins, mit dem bereits in den 90ern gezeigt wurde, was dabei herauskommt, wenn die Menschen „Gott“ spielen wollen: Steven Spielbergs Jurassic Park (1993). In diesem hatte der Multimilliardär John Hammond ebenfalls eine gut gemeinte Vision: Einen Freizeitpark mit „echten“ Dinosauriern, um die Menschen zu begeistern, sie glücklich zu machen. Seine Kreation widersetzte sich den Fesseln ihres Schöpfers, brach aus und bedrohte alles Leben, was ihr im Weg stand – sinnbildlich ausgedrückt durch den ausgebrochenen T-Rex. Für Hausner ist die „Little Joe“-Pflanze dieser T-Rex; eine Gefahr, die im Verborgenen angreift und sich nach und nach die Menschen einverleibt. Beide Filme transferieren das Thema Genmutation in ein Horrorszenario und die Zuschauer_innen fiebern mit, ob die Figuren unbeschadet davonkommen.
Dass Jurassic Park einen prägenden Einfluss auf den Film hat, wird auch an anderer Stelle deutlich: Planthouse Biotechnologies ist der Überzeugung, ihre Schöpfung kontrollieren zu können. Sie ermöglichen der Pflanze keine natürliche Fortpflanzung. Der gleiche Ansatz wurde auch in Jurassic Park präsentiert, in dem alle erschaffenen Dinosaurier ein weibliches Geschlecht hatten. Die Population der Saurier sollte im Labor gesteuert werden. In beiden Fällen hat die Natur jedoch einen Weg gefunden, ihre eigenen Gesetze zu machen und zeigt, dass es Dinge gibt, die der Mensch lieber unberührt lässt. Ein wiederkehrendes Motiv in der Filmlandschaft, welches oftmals schlecht für die Vertreter der menschlichen Spezies ausgeht, so auch in David Cronenbergs Horrorfilm The Fly (1986): Dieser handelt von einem Wissenschaftler, der der Überzeugung ist, sich teleportieren und sich damit über die materiellen Grenzen seiner irdischen Existenz hinwegsetzen zu können.
Inszenatorisch und atmosphärisch ist Hausners Film aber ein ganz anderer als der actionreiche Jurassic Park. Die Bedrohung liegt im Stillen, der Horror findet im Verborgenen statt. Die Pflanze holt sich einen nach dem anderen, wobei nie wirklich klar ist, wer von den Menschen bereits ihr Opfer geworden ist. Denn diese bleiben augenscheinlich dieselben Personen, lediglich die veränderte Persönlichkeit gibt einen Hinweis darauf, dass es bereits zu spät ist. Diese Art der Erzählung erinnert an John Carpenters The Thing (1982) oder den 1978 erschienen Invasion of the Body Snatchers, in denen stets die Figuren nach und nach einer größeren Bedrohung zum Opfer fallen – ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel gegen einen scheinbar unsichtbaren Feind. Little Joe fühlt sich dadurch zwar in Hausners Filmographie nach etwas Neuem an, verliert dieses Innovative allerdings, wenn der Film in den gesamten filmischen Kosmos eingebettet wird. Die zahlreichen Bezüge und Parallelen zu anderen Filmen reduzieren die Spannung im Laufe des Films, da die Entwicklungen vorhersehbar sind. Die vielen interessanten Nebenhandlungen, die Hausner eröffnet, um ihre filmische Welt zu erweitern, werden ebenfalls am Ende des Films an der Seite liegen gelassen. Das hinterlässt ein Gefühl der Enttäuschung, wirken diese dadurch lediglich wie Täuschkörper, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer_innen fordern, das Mysterium des Films weiter aufbauschen, letzten Endes aber nichts anderes als eine uninspirierte Ablenkung sind. Trotz dessen macht Hausner in diesem Film vieles richtig und muss sich im internationalen Vergleich nicht vor den „Größen“ der Filmwelt verstecken. Vollkommen zurecht wurde ihre Hauptdarstellerin Emily Beecham bei den Filmfestspielen in Cannes als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Sie kann in der Rolle der innerlich verunsicherten Alice den Film alleine tragen. Hausner entwirft für ihre Alice ein eigenes Wunderland, eine auf den ersten Blick vollkommene und sorglose Welt, nur um diese dann zugrunde zu richten. Beecham verdeutlicht diesen Prozess durch den seelischen Verfall ihrer Figur und verschmilzt mit ihrer Rolle.
Das Drehbuch kann ihre schauspielerische Performance leider nicht sicher auffangen: In dem Moment, in dem ihre Figur beginnt, mehr und mehr fernab jeder Logik zu agieren, gerät der Film ins Straucheln. Speziell Filme, die sich so intensiv mit der Psyche ihrer Hauptfigur beschäftigen, brauchen eine logisch agierende Figur. Schließlich sollen sich die Zuschauer_innen in die Lage hineinversetzen können: Wir verstecken uns und fliehen vor dem gefährlichen T-Rex, wir überlegen, wer von dem Ding in The Thing besessen ist und wem wir trauen können und wir müssen uns in Alice hineinfühlen können, damit wir dieselbe Spannung verspüren, wenn wir rätseln, wie der Konflikt des Films zu lösen ist. Wenn genau diese Figur sich dann in der eigenen Wahrnehmung „falsch“ verhält, dann versperrt der Film jeglichen Zugang und es fehlt genau das, was diese Art Drama braucht: Eine Identifikationsfigur.
Ein Aspekt, der dann aber auf ganzer Linie begeistern kann, ist die technische Inszenierung in Little Joe. Hausner entfernt sich hier weit von ihren bisherigen Werken und zeigt, dass sie für dieses Filmprojekt deutlich mehr Budget hatte, als bei ihren vorherigen Filmen. Die Optik von Little Joe ist faszinierend und vermittelt das Gefühl, in den sterilen Weiten des Bildes zahlreiche Details entdecken zu können. Das beginnt bei den sehr kraftvollen Farben der „Little Joe“-Pflanze, die in jeder Szene ins Auge springen und sich wie wohlüberlegt gesetzte Akzente vom klinischen Gesamtlook des Films abheben. Generell ist zu erwähnen, wie grandios die Farbgestaltung des Films konzipiert ist: Ein sehr klares Weiß wechselt sich durchweg mit satten Farben ab. Die Kamera bewegt sich dabei ruhig und doch dynamisch durch die Settings, welche gerade in der Nacht zur Geltung kommen: Die rosa Beleuchtung ist wunderschön und wirkt wie eine Traumwelt – in Kombination mit dem Soundtrack des Films entspringt diese aber eher einem Albtraum. Und dieser Soundtrack ist das ganz große Highlight. Hausner jongliert hierbei zwischen einem angenehmen Rhythmus, der mit dem passenden Schnitt durch den Film gleitet und einer zu Ton gewordenen Hölle: Hohe Frequenzen, plötzliche Geräusche, Schreie und vieles mehr kreieren eine verstörende Klangkulisse, die einen in Angst und Schrecken versetzt. Eine Stimmung, die so sehr ins Mark der Zuschauer_innen geht, dass es egal ist, vor welcher Bedrohung sich versteckt wird: T-Rex, Körperfresser, Alien oder einer mordenden, kleinen Pflanze mit dem Namen „Little Joe“.
“Little Joe” Glück ist ein Geschäft
Ein Film der in seiner Undurchsichtigkeit Knospe bleibt
von Lea Rizzi Ladinser
Eigentlich ist der Film in seiner Sprache sehr klar: es geht um die Blume, die die Welt verändern könnte, um Mutter und Sohn, um Arbeit und Ethik. Trotzdem, nach einigen Monaten des Wiederkäuens, des Reflektierens und darüber Sprechens bleibt der Film seltsam zweideutig und deshalb irgendwie unheimlich. Das Interessante, wenn man über Filme diskutiert, sind die dabei gewonnenen Eindrücke, die von Ablehnung, zu Ungläubigkeit ob der allzu glatten Oberfläche, bis hin zu tiefer Rührung reichen: „Wie ein Fernsehfilm vom Bayerischen Rundfunk…“ wurde da gesagt, oder „Ich weiß noch gar nicht wirklich warum, aber ich musste einfach weinen“. Andere waren einfach ganz still und wollten erstmal den Film auf sich wirken lassen.
Little Joe (2019) ist, wie alle Jessica Hausner Filme, ein bis ins Detail inszenierter Film, synthetisch und durchgeplant. Schon während der ersten Einstellungen denkt man an die heterotypischen Inszenierungen von Wes Anderson und seine perfekt abgestimmten Farbstimmungen. In Türkis und Orange-Rot gehaltene Akzente unterstreichen die futuristische Anmutung des Films. Es stimmt, durch die allzu glatte Ausleuchtung der Szenen wirkt der Film oft etwas flach und vielleicht alltäglich. Genau diese Lichtstimmung ist es aber, die die unheimliche Anmutung vieler Momente ausmacht.
Man ist sich nicht sicher wann der Klimax der Geschichte stattfinden wird, erwartet das Schlimmste und bleibt später mit seinen unbehaglichen Erwartungen allein. Jessica Hausner Liebhaber_innen werden dieses Gefühl bereits kennen und sich gut darauf einlassen können. Ein ständiges Unwohlsein, ob der Gefühlskälte und Distanz der Protagonist_innen, ein Warten darauf, ob sich die Charaktere nicht doch noch öffnen und ihre Motive enthüllen. Interessant ist dabei die gleichzeitige Durchsichtigkeit vieler Szenen. Vieles, eigentlich mit Bildern darstellbares, wird wörtlich ausgesprochen und dem Publikum sehr offensichtlich serviert. Trotzdem: als Beobachter_in in der Ferne, oft von der Kamera hinter eine Glasscheibe, eine Tür oder ein Fenster gesetzt, darf man nicht ganz in die Geschichte eindringen.
„Little Joe“ und das Streben nach Glück
von Marlene Scheuch
Was ist Glück wirklich? Mit dieser Frage beschäftigt sich Jessica Hausners erster englischsprachiger Film Little Joe (2019) und der deutsche Zusatz „Glück ist ein Geschäft“ gibt auch sofort die Antwort darauf. So erinnert nicht nur die futuristische Handlung des Films, sondern auch die Wirkung auf sein Publikum an die ebenfalls britische Serie Black Mirror (2011-). Denn auch in Little Joe wird der Gesellschaft auf futuristische Weise ein Spiegel vorgehalten.
Im Zentrum von Hausners Science-Fiction Dramas stehen Wissenschaftlerin Alice und ihre neu entwickelte Pflanze „Little Joe“. Im Vergleich zu herkömmlichen Pflanzen benötigt sie außergewöhnlich viel Aufmerksamkeit. Diese wird jedoch belohnt, denn die Pflanze löst Glücksgefühle bei ihren Besitzer_innen aus. Im weiteren Verlauf des Films wird klar, dass „Little Joe“ weitaus größere Veränderungen bewirkt: Die anderen Pflanzen im Gewächshaus verwelken und auch der Hund von Alices Kollegin Bella ist plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. In Folge dessen werden einige Tests an Menschen durchgeführt, um zu sehen, ob „Little Joe“ Nebeneffekte hervorruft. Obwohl keine der Testpersonen allergische Reaktionen aufweist, bemerken die Angehörigen subtile Änderungen in den Persönlichkeiten der Testpersonen. Dabei bleibt es jedoch nicht nur bei den Testpersonen, sondern diese Änderungen in den Persönlichkeiten weiten sich auf Alices ganzes Umfeld aus und befallen schlussendlich auch ihren Sohn Joe. Alle infizierten Personen weisen außerdem einen großen Beschützerinstinkt gegenüber der Pflanze auf. Auch Alice, die es zu Beginn nicht wahrhaben wollte beginnt diese Änderungen zu bemerken und versucht ihre Pflanze zu zerstören. Schlussendlich wird jedoch auch sie infiziert und der Film endet mit einer Nominierung der Pflanze für einen internationalen Preis, was ihre Verbreitung nun endgültig unvermeidbar macht.
Der Film selbst beginnt mit einem unangenehm schrillen Ton, der sofort die Stimmung der nächsten 105 Minuten festlegt. Den Zuschauer_innen ist dabei klar, dass diese Glück bringende Pflanze etwas Düsteres an sich hat. Die Protagonist_innen tappen vor allem zu Beginn jedoch im Dunkeln und sind überzeugt von ihrer Kreation. Im weiteren Verlauf des Films tritt dieser Ton ausschließlich in Verbindung mit der Pflanze auf. Gleich zu Beginn fällt auf, dass die Hauptpersonen nicht die für Jessica Hausner typischen Charakterzüge aufweisen, sondern zugänglich wirken. In Hausners früheren Filmen zeichneten sich die Protagonist_innen vor allem durch Emotionslosigkeit und Distanziertheit aus. Alice hat jedoch ein etabliertes soziales Umfeld und obwohl sie sich in ihre Arbeit stürzt, hat sie soziale Kontakte und Menschen, die ihr etwas bedeuten. Alice erscheint nicht besonders extrovertiert, man sieht sie jedoch das ein oder andere Mal lächeln. Selbst der Dialog wird von ihrer Seite nicht absichtlich auf ein Minimum reduziert. Generell gibt es wenige Gemeinsamkeiten zu Hausners älteren Werken, denn auch ihren häufig verwendeten Themen der Rebellion und der Einsamkeit wird keine große Rolle im Film zugesprochen. Das hängt ebenfalls mit den Persönlichkeiten der Protagonist_innen zusammen. Die, für Hausner durchaus typische, trockene Erzählform fällt in Little Joe weg. Erst gegen Ende des Films erkennt man bei genauem Hinsehen eine Kamerabewegung, die als eine kleine Hommage an Lovely Rita (2001) gedeutet werden kann. Als Alice den Schrei ihrer Arbeitskollegin Bella wahrnimmt, wird sehr schnell auf Alices Gesicht gezoomt, eine Bewegung, die aus Lovely Rita nur allzu gut bekannt ist.
Bemerkenswert ist vor allem die dargestellte Mutter-Sohn Beziehung zwischen Alice und Joe. Schon in Alices Therapiesitzungen schlägt ihre Therapeutin vor, dass sie sich möglicherweise eine distanziertere Beziehung zu ihrem Sohn wünscht. Zu Beginn wirkt das sowohl für Alice als auch für das Publikum nahezu absurd, denn objektiv betrachtet haben sie eine sehr enge Beziehung. Im Verlauf des Films erscheint diese Vermutung jedoch immer plausibler und man denkt zurück an die erste Szene der beiden. Man beobachtet sie dabei beim Essen, wobei sich die Personen gegenübersitzen und durch den zwischen ihnen liegenden Vorhang getrennt werden. Man könnte sich dabei nun fragen, ob mit dieser Trennung der weitere Verlauf des Films schon vorhergesehen wird. Sollte die Hypothese der Therapeutin nun stimmen und Alice wünscht sich tatsächlich mehr Distanz von ihrem Sohn, bekommt Alice nun am Ende doch ihr Happy End? Führt die Pflanze tatsächlich nur ihre Pflicht aus, ihre Besitzerin glücklich zu machen, indem sie diese Distanz verursacht?
Hausner schafft es mit Little Joe nicht nur ein Unbehagen herzustellen, indem man die wachsenden Selbstzweifel der Protagonistin verfolgt, sondern bringt auch die Zuseher_innen selbst dazu, an ihrem Verstand zu zweifeln. Alice erwähnt eingangs, dass sie echte Gefühle einer „Fake Happiness“ vorzieht und der gleichen Meinung ist das Publikum. Doch gerade durch die Subtilität der Persönlichkeitsänderungen wird man als Zuschauer_in aus objektiver Perspektive misstrauisch. Vor allem Alices Aussage, dass keine Viren auf der Pflanze gefunden wurden trägt zu diesem Misstrauen bei. Ist „Little Joe“ nun gefährlich oder nicht? Auch Alices Persönlichkeitsänderungen sind so subtil, dass man sich nie ganz sicher sein kann, ob es sie nun tatsächlich gibt, oder ob man ihr doch vertrauen kann und tatsächlich keine Viren auf der Pflanze gefunden wurden, wie sie gegen Ende des Films behauptet. Antworten darauf werden keine geboten. Little Joe lässt sein Publikum schlussendlich mit unzähligen Fragen zurück und sorgt so für ein Filmerlebnis, das so schnell nicht vergessen werden kann.