Stille Wasser sind tief

Review by Laura Peretzki

We the Animals, by Jeremiah Zagar, United States 2018

Wie lange kann ich mich noch über Wasser halten?

Diese Frage stellt sich Jonah (Evan Rosado), als sein Vater ihn und seine Mutter im See einfach loslässt. Beide können nicht schwimmen. Und so wird es ein traumatisches Erlebnis für Jonah. Das Gefühl des Ertrinkens, der Überforderung und der Verlust des Vertrauens in seinen Vater, der trotz gegenteiliger Absprache den Jungen im Wasser alleine lässt, werden als zentrale Gefühle des Films eingeführt. Es wird eine Hilflosigkeit deutlich. Jonah fühlt sich seiner Umgebung ausgeliefert und kann nur darauf reagieren.

Diese Szene erinnert an eine ähnliche Situation in dem zwei Jahre zuvor erschienenen Film Moonlight. Dabei handelt es sich um die genau umgekehrte Erfahrung, nämlich den Vertrauensgewinn des Protagonisten gegenüber seiner Vaterfigur. Er kann auch nicht schwimmen, wird aber festgehalten und gelangt dadurch mehr Vertrauen in sich und in seine Umwelt. 

In „We the Animals“ von Jeremiah Zagar folgen wir dem Protagonisten Jonah, der in mit seinen beiden Brüdern und seinen Eltern in ärmlichen ländlichen Verhältnissen in Amerika lebt. Die Eltern kämpfen mit ihrer schwierigen finanziellen Lage und Eheproblemen. Zeitweise wird der Vater rausgeschmissen, während daraufhin die Mutter an Depressionen leidet und sich nicht mehr um ihre Söhne kümmern kann. Die drei Brüder denken sich verschiedene Überlebensstrategien und Spiele aus, mit denen sie mit ihrer schwierige Familiensituation umgehen können. Besonders einfühlsam ist die Einheit zwischen den Brüdern inszeniert. Wie ein Wolfsrudel taumeln sie durch den wunderschön beleuchteten Wald. Sie denken sich Spiele wie „Body Heat“ aus, wo sie sich alle unter einer Decke wärmen. Aber Jonah ist anders als seine extrovertierten Brüder. Er redet nicht besonders viel, wirkt eher schüchtern. Doch in seinen Augen kann man erkennen, dass viel unter der Oberfläche vorgeht. Die Zuschauenden dürfen Zeugen sein von Evan Rosados phänomenalen schauspielerischen Leistung in seiner ersten Rolle. Mit wenig Dialog, mehr durch seine nuancierten Gesichtsausdrücke lässt er uns an seiner Gefühlswelt teilhaben. Man kann das Gefühl der Hilflosigkeit, die er in Reaktion auf seine Umgebung spürt, an seinem Gesicht ablesen. Dieses Gefühl wird durch immer wieder eingeschnittene traumähnliche Wasser und Erinnerungssequenzen verstärkt. Zusätzlich zeichnet Jonah noch unter seinem Bett, versteckt von allen Augen, autobiografische abstrakte Zeichnungen, die uns noch mehr über seinen emotionalen Zustand verraten. Dabei ist das Verstecken unter dem Bett eine Metapher für den „Closet“.

In der für mich am gewalttätigsten Szene des Films geht es genau um diese Zeichnungen. Unglücklicherweise findet seine Familie seine Zeichnungen und verbreitet alle auf dem Boden, sodass jeder sie sehen kann. Die Eltern schauen ihn verständnislos an, auch von den Brüdern kommt mehr Fassungslosigkeit als Liebe entgegen. Und dann realisieren die Zuschauenden (gleichzeitig mit der Familie) woher das Gefühl der Andersartigkeit von Jonah herrührt.

Es sind viele explizit homosexuelle Zeichnungen zu sehen. Auch wenn sich die Zuschauenden so etwas in die Richtung hätten denken können, ist es eine sehr gelungene Entscheidung vom Autor Justin Torres des gleichnamigen Romans, diese Thematik erst so spät in der Geschichte zu adressieren. Denn hier wird queerness als Andersartigkeit definiert. Anders denkend, anders fühlend, anders handelnd. Denn Menschen können auch schon im frühen Alter queer sein und nicht erst, wenn sie sich geoutet haben. Denn queerness hat auch mit einer anderen Denkweise zu tun und nicht nur mit der sexuellen Orientierung.
Und das Gefühl der Situation ausgeliefert zu sein, wird fast schon körperlich spürbar. Wie in der Szene am See, kann er sich nicht auf seinen Vater verlassen und fühlt sich alleine gelassen.

Der Film kann in Tradition von dem schon, vorher erwähnten, „Moonlight“ und „Beach Rats“ gesehen werden, die beide vom Mainstream Publikum rezipiert wurden. Beide Filme spielen in ganz anderen Kontexten und trotzdem behandeln sie ein universell ähnliches Gefühl. Und ihre Protagonisten reagieren ähnlich, sind auch eher schweigsam und wirken auf die Außenwelt traurig. Doch sind sie ein gutes Beispiel dafür, wie Jonah in „We the Animals“, wie viele Emotionen sich unter der Wasseroberfläche abspielen können.

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