Psychischer Horror, stigmatisierter Horror

Review by Linda Schwärzler

Psychosia (Psykosia), by Marie Grahtø, Denmark/Finland 2019

In dem dänischen Film Psychosia – eine Mischung aus Drama, Thriller, Horror, Psycho und Gothic – wird die Wissenschaftlerin Viktoria (Lisa Carlehed) in eine psychiatrische Institution für Frauen* einberufen. Die Leiterin dieser Einrichtung, Dr. Anna Klein (Trine Dyrholm), hat letztere herbestellt, da die Patientin Jenny (Victoria Carmen Sonne) zu einem hoffnungslosen Fall geworden ist. Bisher hätte keine andere Person die suizidale junge Frau heilen können. Die Hoffnung liegt bei Viktoria allein, die bereits großartige Forschungen über Suizid geleistet hat. Dass sie bisher noch keinerlei praktische Erfahrungen in der Psychiatrie hat, ist erst eins der Indizien, die am Realitätsbezug der Narration zweifeln lassen.

Das erste Aufeinandertreffen der Patientin und der Behandelnden spielt sich bei einem Suizidversuch Jennys ab, die Viktoria sofort in ihren Bann zieht. Wie das zu ihrer Ankunft in der Institution passt, bleibt offen, denn eigentlich zeigt die Chefin der zukünftigen Therapeutin gerade erst die Räume. Die Szenen springen hin und her. Es besteht nur eine ungefähre Chronologie, in die wir die wenigen tatsächlich stattfindenden Ereignisse einordnen können. Der Film erzeugt eher eine Aneinanderkettung von verschiedenen Gefühlen und Impulsen. Überhaupt wirkt alles wie eine Traumsequenz, bei der wir nicht mehr wissen, was die Protagonistin Viktoria wirklich erlebt und was sich in ihrer Fantasie abspielt, während sie und ihre Patientin sich immer vertrauter werden.

Irgendwann wird klar, dass die vermeintliche Forscherin selbst vom Suizid magisch angezogen ist. Immer wieder muss sie sich im Geheimen mit einem Strick würgen, sodass sie unter lauter Krächzen und hervortretenden Augen fast das Bewusstsein verliert, bevor sie rechtzeitig aufhört. Diese Praktik wirkt eher wie ein Fetisch, da sie das extra dafür vorgesehene Seil in einer Truhe wie einen Schatz bewahrt. Ihre ständig bestehende Wunde, ein roter Ring um ihren Hals, versteckt sie unter einem viktorianischen Kragen, den sie Tag und Nacht trägt. Ein Geräusch, das immer wieder mit dem gleichen Rhythmus durch verschiedene Auslöser auftritt (Glockenschlag, Uhrzeiger, aufeinander schlagende Zähne, Klackern im Heizkörper, Absätze auf einem Holzboden), lässt glauben, Viktoria hätte einen Tick. Zudem vermittelt es einen Eindruck von ablaufender Zeit, die bereits ein unheilvolles Ende einläutet.

Dass die Regisseurin, Marie Grahtø, selbst Erfahrung mit Psychosen und psychiatrischen Einrichtungen hat [1], trägt zur Glaubhaftigkeit bei und spiegelt subjektive Erlebnisse wider. Nicht-Betroffene können so vielleicht einen Eindruck gewinnen, wie sich bestimmte Situationen anfühlen. Die sterilen weißen Räume vermitteln ein Gefühl der Kälte und Ausweglosigkeit, die verschiedenen Patientinnen* werden zu konturlosen Nebenfiguren, die nur durch ihre eigene Andersartigkeit gezeichnet werden. Jenny und Viktoria durchleben beide Psychosen, in denen die Kamera sich zittrig und schnell um sie dreht, während sie im Schwindel in die Leere blicken. Dass es sich um bedrückende Erfahrungen handelt, macht der Film deutlich.

Was er allerdings nicht schafft, ist ein aufgeklärtes Bild über psychische Erkrankungen wiederzugeben. Wir erfahren kaum etwas über die Vorgeschichte, die Mitmenschen oder die Persönlichkeiten der beiden Frauen. In Viktorias Faszination von Suizid koppelt sich ein Begehren an Jennys Körper, die damit kokettiert. Dass homosexuelles – und insbesondere weibliches* – Begehren mit psychischer Instabilität verknüpft wird, lässt zu sehr an die längst überholten Erkenntnisse der frühen Psychoanalyse denken. Darüber hinaus wird der Suizidgedanke nicht in Verbindung mit Depressionen oder ähnlichen Erkrankungen gebracht, sondern bezieht sich nur auf die Begeisterung der beiden Frauen, sich selbst umzubringen und den Moment auszukosten. Sie werden vollständig auf ihre Begierde nach Suizid reduziert. Diese Zeichnung wird realen Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht gerecht.

Obwohl Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten unbedingt notwendig ist, schafft es der Film nicht – wie es der Zeit angemessen wäre – Stigmata unberührt zu lassen. In dem Psychothriller gibt es keinerlei Aussicht auf Heilung oder Möglichkeiten, mit einer psychischen Erkrankung zurechtzukommen. Überhaupt gibt es nur wenige unglaubwürdige Therapieansätze. Die Personen wirken gefangen in der Institution und allein gelassen mit ihren Problemen.

Das Ende des Films ist dramatisch, aber ihm fehlt jegliche Vermittlung eines tragischen Gefühls. Nachdem Viktoria Jenny vermutlich umgebracht hat, holt sie abermals ihren persönlichen Strick hervor, stellt sich mit Zehenspitzen auf einen Stuhl und schlüpft mit ihrem Kopf durch die Schlinge. Das Bild wird dunkel und wir hören, wie ein Stuhl umfällt, was vermutlich Viktorias Tod symbolisiert. Schließlich sehen wir sie wie in einem Traum in einen Kirchenraum treten, in denen viele verschiedene Menschen sie wie ein Engelschor besingen. Als sie durch die weiß bekleidete Menge tritt, trifft sie am Altar auf Jenny, die freudig auf sie wartet. In der Schlussszene geht Viktoria allein in ihrem weißen langen Gewand durch eine undefinierte Landschaft. Ihre Füße scheinen über Wasser zu gleiten, der Hintergrund ist in weißen Nebel gehüllt. So schreitet sie von der Bildfläche hinein in einen mystischen Horizont, der die Metapher eines Himmelreichs nicht auslässt. Soll ihr Suizid am Ende etwa positiv bewertet werden?

Es ist nicht zu kritisieren, dass ein Kunstwerk ein so heikles Thema behandelt. Aber auch wenn es sich um ein selbstkreiertes Genre, „psychotischen Realismus“ [2], handelt, müsste der Film die Zuschauenden am Ende irgendwie abholen – irgendwie ein Gefühl vermitteln, dass wir anders mit psychischen Erkrankungen umgehen können und das Suizid oder dessen Versuch für die Betroffenen und deren Angehörigen eine schreckliche und tragische Situation ist.

[1] Marta Bałaga, cineuropa, https://cineuropa.org/en/interview/377150/, 29.11.2019.  

[2] Ebd.

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