Geschwisterliebe(n) Adoleszenz und Mistkäfer in Provence

Review by Sophia Scherbaum

Provence, by Kato De Boeck, Belgium/France 2018

Das Cover des Kurzfilm Provence ziert ein roter Badeanzug auf gelbem Cover. Der Badeanzug, den Protagonistin Camille fast den gesamten Film über trägt. Mit Baywatch hat das jedoch, abgesehen vom Campingplatz-Swimmingpool, sehr wenig zu tun, vielmehr zeichnen die Bilder ein Spannungsfeld zwischen den ersten Verliebtheits-Attituden und der Liebe zwischen Geschwistern. Geheimnisse und, wenn auch so manchmal unfreiwillige, Offenbarungen werden von der Kamera aufgezeichnet und beobachtet. Provence ist mit seinen 22 Minuten ein sehr dichter Film, der so manchmal den Eindruck erweckt, er würde überquellen in seiner Auseinandersetzung mit Themenspektren von Liebe, Familie und dem Erwachsenwerden.

Die 11-jährige Camille verbringt den Sommer bei einem Familienzelturlaub in der Provence, ihr Bruder Tuur ist für sie, so scheint es, die wichtigste Bezugsperson. Beide sind unzertrennbar und scheinen in ihren Spielen noch ganz ihrer Kindheit überlassen zu sein. Bis sich zwei junge Mädchen mit ihnen anfreunden und sich bald herausstellt, dass Tuur schon viel stärker in der Pubertät angekommen ist, als Camille dies akzeptieren kann.

Kato De Boeck gestaltet ihren Film als Wes Anderson Hommage. Die Filmbilder unterliegen einer pastelligen Farbigkeit, in der jedoch einzelne Gegenstände oder Kleidungsstücke als existenzielle Symbole farblich akzentuiert werden, so auch der Badeanzug. Die Bildästhetik folgt einer eigenen Symmetrie, die Bewegungen der Figuren verlaufen entweder strikt linear oder werden durch sich drehende Kamerafahrten aufgelöst und finden somit keinen klaren Bezugspunkt mehr. Stillleben lenken den Blick der ZuschauerInnen auf das Objekthafte der Handlungsumgebung. Jedes Objekt wird durch die Kamera liebkost. Gleich in der ersten Einstellung läuft ein Mistkäfer über den roten Zeltstoff, man sieht zwar nur seinen Schatten und doch in Umrissen seine Gestalt. Schon Franz Kafka nutzt Bilder von Käfern als metaphorischen Ausdruck für Verwandlung. Ein Tier, das zunächst unscheinbar wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als etwas Vielschichtiges. Der Mistkäfer wird als Bild der Startschuss des Leitmotives des Betrachtens, das zweifelsohne als zentraler Aspekt des Kurzfilmes postuliert werden kann. Interessant ist hierbei die zweifache Zentrierung, die in den Filmbildern verfolgt wird: Zum einen werden ausschließlich Kinder gezeigt. Die dazu gehörigen Eltern sind nur aus dem Off zu hören oder werden vereinzelt, durch sich nähernde Beine abgefilmt. Zum anderen schafft De Boeck eine klare Zentrierung auf Protagonistin Camille. Zwar dreht sich die Handlung primär um das Verliebt-Sein des großen Bruders und sein kennbares Hadern damit, die Kamera jedoch verfolgt Camille und gehört Camille. Sie wird auch zur zentralen Betrachterin dessen, was um sie herum, aber vor allem mit ihrem Bruder passiert. Die Veränderung die mit dem Spiel Wahrheit oder Pflicht und dem Geheimnis, Tuur sei verliebt einhergeht, ändert Camilles Betrachtungsweise und gleichsam die Kameraführung. De Boeck malt auf eine zunächst undurchsichtige Weise eine Eifersucht der kleinen Schwester und ihrem Unverständnis gegenüber ihrem Bruder. Die Schauspielerin Liame De Paep leistet hierbei Großartiges und verleiht der Figur mit ihrem pointierten Spiel, die Tiefe, die vielleicht so unerwartet aus dem 11-jährigen Mädchen hervorkommt. Provence gestaltet sich als Versuch einer künstlerischen Aufarbeitung der sensiblen Thematik einer Geschwisterliebe zwischen kleiner Schwester und großem Bruder, die zwar nichts mit Sexualität per se zu tun hat, die im Heranwachsen eines jeden Kindes, jedoch Wurzeln für das spätere Sexualleben schlägt. Die Kamera fängt Camille immer wieder in einer Großaufnahme und die ZuschauerInnen tauchen in die Figur der 11-jährigen förmlich ein. Das Tuur jedoch in einen Jungen verliebt ist, wird nur sehr kurz behandelt, so scheint es fast nebensächlich gegenüber der Reaktion der Schwester. Provence passt allerdings wunderbar in den queeren Diskurs, da er ein coming-of-age thematisiert, das von einer ganz anderen Sichtweise und deren Hemmungen, sowie Problematiken beleuchtet wird.

Die Adoleszenz und damit auch das im queeren Diskurs so existenzielle Thema des „sich selbst Findens“, wird auf so vielschichtige Weise verbildlicht. So ist es die Erforschung des (eigenen) Körpers beim Beobachten des FKK-Strandes, die körperliche Unzufriedenheit oder das Entdecken des eigenen Sexualtriebes, das unmittelbar in der Masturbation des großen Bruders im Geschwisterzelt passiert.

Kato De Boeck zeigt 22 Minuten lang Kindheit, die der Grundstein für spätere Identitätsmuster und Sicherheiten innerhalb der Sexualitätsfindung in einer noch nicht gänzlich kosmopolitischen Gesellschaft ist. Sich als Geschwister nahe sein, portraitiert die Regisseurin auf solch bewegende Weise, dass man während des Filmschauens in die eigene Kindheit und die gelb-orangenen Zeltstoffe zurück träumt.

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