Ma chère grand-maman, …

Review by Dorina Klose

Madam (Madame), by Stéphane Riethauser, Switzerland 2019

Mit Madame adressiert der 1972 in Genf geborene Filmemacher und Fotograf Stéphane Riethauser[1] eine Art filmischen Brief an seine schon einige Jahre verstorbene Großmutter. Diesen Film sieht er als Möglichkeit, alle unausgesprochenen Gedanken mitzuteilen, die er zu ihren Lebzeiten so nicht aussprechen konnte. Mittels privater Fotografien, Tagebucheinträgen, Postkarten und Home Videos auf Kassetten rekonstruiert er sein eigenes Leben, wie auch das ihre – als Collage der Vergangenheit, die mit Humor und Liebe bezaubert.

Über die generationsbedingten Unterschiede wird vor allem eine Gemeinsamkeit deutlich: Beide litten unter den strikten Rollenbildern, die eine gegenwärtige patriarchale Gesellschaft vorgab.
Stéphane sah sich seine Jugendjahre während immer wieder im Konflikt zwischen den konkreten Erwartungen, die seine Familie an ihn stellte, und seinen aufkeimenden Gefühlen, die sich der Erfüllung dieser entgegenstellten. Er zeigt und erzählt wie er als Homosexueller damit zu kämpfen hatte, in die Rolle zu passen, die die Gesellschaft und seine Familie ihm vorgaben.
Auch seine Großmutter Caroline wollte den bürgerlichen Moralvorstellungen ihrer Zeit nicht ganz gerecht werden. Sie umging eine arrangierte Ehe und machte als businesswomen Karriere – was ihre Familie nicht akzeptieren wollte. Später doch verheiratet, aber nach einigen Jahren wieder geschieden, lebte sie schließlich entgegen dem damaligen Frauenbild bis zu ihrem Tod selbstständig – ohne Mann.

Über die rückblickende Betrachtung seiner Vergangenheit erkennt Riethauser, dass er nicht als Mann geboren, sondern zu einem gemacht wurde. Die heteronormativen Vorstellungen des Patriarchats internalisierend und somit unreflektiert die homophobe Weltsicht der Eltern übernehmend, sieht er sich dem Wertesystem seiner Zeit verfallen. Er wird gedrängt in ein konkret heterosexuelles Ideal von Mann, ein Ideal jemandes anderen.[2]
Dieser von außen einschlagende Druck, einem gewissen Konzept entsprechen zu müssen, wird im Verlauf des Filmes immer wieder über kurze Szenen evident. Schon die ersten Videosequenzen zeigen Großmutter Caroline, wie sie, entsetzt von der Frisur ihres Enkels, sein Aussehen als »wie Quasimodo« und »wie ein Idiot« bezeichnend, die Haarbürste zur Hand nimmt, um ihm eine angemessene Frisur zu verpassen.

Madame zeichnet nachdrücklich den Werdegang eines jungen Mannes ab, der nach jahrelanger Verdrängung und Selbstentäußerung beginnt, aus festgeschriebenen Normen auszubrechen und zu sich selbst zu finden.
Später tätig als Lehrer, Journalist und Gay Aktivist setzt sich Riethauser vehement gegen Homophobie und Sexismus ein. Er schrieb einige Zeitungsartikel, sprach auf zahlreichen Veranstaltungen, leitete Diskussionen und veröffentlichte ein Buch von Fotografien, mit denen er coming out thematisierte.

Heute vor allem als Filmemacher tätig, malt er mit Madame sowohl ein intimes Selbstportrait wie Familienbildnis. Die, über Auswahl und Edition von Archivmaterial entstehende, sehr persönliche Handschrift erzeugt eine besonders nostalgische Filmästhetik, welche die ZuschauerInnen konzentriert nah an seine Bilder heranträgt und die Erfahrungen beider intensiv spürbar macht. Darüber hinaus problematisiert er besonders die konservativen Ansichten eines von klaren Geschlechterrollen geprägten Patriarchats, indem er über einen sehr analytischen Blick genormte Geschlechterklischees zu dekonstruieren beginnt.

[1] Vgl. „Bio“, http://riethauser.com/bio/, Zugriff am 01.12.2019.

[2] Vgl. „Director’s note“, https://madamefilm.com/en/story/, Zugriff am: 01.12.2019.

[3] Vgl. „Bio“, http://riethauser.com/bio/, Zugriff am 01.12.2019.

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