Liebe Großmutter

Review by Paula Rehwald

Madam (Madame), by Stéphane Riethauser, Switzerland 2019

„Madame“, so spricht Stéphane Riethauser seine Großmutter Caroline an. Der Film ist an sie adressiert, auch wenn sie bereits vor 15 Jahren gestorben ist. Was hätte er ihr gerne noch gesagt?

Riethauser erforscht seine eigene Biografie, ebenso wie die seiner Eltern und seiner Großmutter. Auf der Suche nach Antworten danach, wie sein Bild von Männlichkeit, Sexualität, Liebe und Identität konstruiert wurde.
Dabei zeichnet er seine Grand-Mère als ambivalente Figur. Sie erscheint als liebevolle, aber kompromisslose Matriarchin. Es sind Parallelen erkennbar in den Biografien von Stéphane und Caroline. Ihr Leben ist voll von Brüchen mit gesellschaftlichen Konventionen: Sie heiratet nicht den Mann, der für sie bestimmt war, macht selbst Karriere, kauft sich ein Auto, heiratet später doch, lässt sich scheiden und lebt bis zu ihrem Lebensende ohne Mann. Zu ihrer Zeit blieb dieser Lebensentwurf nicht ohne Widerstand und so musste sie kämpfen.

Ihr Enkelsohn Stéphane wird 1972 in der französischen Schweiz geboren.[1] Seine Eltern sind wohlhabend, konservativ und unterstützen ihren Sohn mit allen Mitteln dabei, den Weg zu gehen, den sie für ihn vorgesehen haben. Diesen Weg geht er eine Zeit lang. Es ist eine Zeit der Selbstverleugnung.

Es sind Videoaufnahmen des jugendlichen Stéphanes zu sehen, in denen er sich als Frau inszeniert – geschminkt, mit Perücke, in Kleidern. Doch stets als Posse, um zynisch Distanz zu Frauen zu gewinnen.
Es ist eine ähnliche Distanz, mit der Riethauser sein früheres Ich aus dem Off kommentiert.

Dieses Ich entdeckt zunehmend, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Doch in sein Tagebuch schreibt er, er wünschte fast, er sei eine Frau damit er sich dem Mann, den er begehrt, hingeben könne. Homosexualität bleibt ein Tabu. Sein Bild von Männlichkeit ist an Heterosexualität gebunden. Und so erlebt Stéphane zunehmend eine Identitätskrise, die ihn zur Reflexion zwingt. Er erkennt die soziale Konstruktion von Genderidentitäten. Frauen und Männer existieren nicht einfach, sie werden dazu gemacht. [2] Sein Coming Out geht mit einem Wertewandel einher, der fast schon zu radikal für eine einzelne Biografie erscheint.

Heute kämpft Riethauser als Aktivist gegen Homophobie und Sexismus. Nur einer Person verschweigt er seine Sexualität – seiner Großmutter Caroline. Zu groß ist die Angst davor, dass die Lücke, die zwischen den Generationen klafft, unüberwindbar sein könnte. Der Film wirft die Frage auf, wie bedingungslos familiäre Liebe ist.

Die besondere Fülle an Videoaufnahmen zeichnet ein buntes Bild: Es ist eine Collage aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven. So sind auch Filme des Vaters zu sehen, der einst selbst vom Filmemachen träumte. Videos, die eine glückliche Familie Riethauser zeigen. Viele intime Dialoge mit seiner Großmutter. Überall sind Geschlechter- und Identitätspolitiken eingeschrieben. Das Videomaterial wird zum Untersuchungsgegenstand.

Ausgehend von der eigenen Biografie gelingt Riethauser ein intimes Familienportrait, das gleichzeitig eine ganze Gesellschaft zu analysieren beginnt.

[1] https://madamefilm.com/en/bio/  2019, zuletzt geöffnet am 27.11.2019.

[2] https://madamefilm.com/en/story/  2019, zuletzt geöffnet am 27.11.2019.

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