Was wäre wenn …

Review by Denise Steininger

End of the Century (Fin de Siglo), by Lucio Castro, Argentina 2019

Ungewöhnlich lange wird in den Film eingeführt, ohne ein gesprochenes Wort folgen wir Ocho in langen Einstellungen durch Barcelona. Gleichermaßen beobachtend, sieht Ocho von seinem Airbnb-Balkon aus einen Mann in einem Kiss-Shirt, Javi. Erst nach dem dritten Aufeinandertreffen spricht er ihn an, lädt in zu sich hoch. Nach ein paar hölzernen Phrasen kommt es zum leidenschaftlichen Sex. Mit Javi verändert sich die davor anhaltende Ruhe, ein Dialog entsteht, welcher den ganzen Film lang anhalten wird. Sie verbringen Zeit zusammen, bei Wein und Käse erzählen sie sich voneinander. Ocho habe sich erst kürzlich von einer 20-jährigen Beziehung getrennt und Javi lebe in einer offenen Ehe mit einem Deutschen und einer gemeinsamen Tochter zusammen. Das Gefühl kommt auf, sie würden sich bereits kennen und Javi bejaht Ochos Vermutung.

Es kommt zu einer Rückblende, in der wir erfahren werden, wie sich die beiden vor 20 Jahren zum ersten Mal getroffen haben. Ocho streift wieder durch Barcelona, jedoch irritierenderweise sieht er um keinen Tag jünger aus, nur durch kleine Details lässt sich die Rückblende ausmachen. Obwohl den Konventionen nicht folgend, mutet es so viel mehr einer Erinnerung an, denn wie in Erinnerungen rückt unser Selbst, und vor allem dessen Erscheinung, in den Hintergrund. Durch dieses introspektive, ästhetische Mittel ist es, als ob wir ein Tagebuch aufschlagen. Obgleich es nicht um eine autobiografische Erzählung handelt, führt uns der Film so näher an die Figuren heran.

So werden wir auch noch in einen weiteren Zeitstrang eingeführt, eine mögliche Zukunft, wenn alles anders gelaufen wäre. Es handelt sich nicht um eine ideale Version der Zukunft, in der sie beide die große Liebe gefunden und mit einander glücklich in ein Happy End steuern. In vielen Liebesgeschichten scheint es, als ob die Wunden der Protagonist*innen nur für die Heilung, durch der/des jeweils anderen, da sind. Ocho und Javi hingegen sind mehr als Topf und Deckel, sie haben beide ein gelebtes Leben.

Die lange Rückblende und die mögliche Zukunft eröffnen den Blick auf eine andere Lesart, die der Queer Future. Nach dem Zitat von José Esteban Muñoz »Queerness is not yet here. We are not queer yet.«[1], lässt sich im negativen Unterton des Zukunftszeitstrangs im Film eine Kritik an einem zu kurzsichtigen Denken einer Queer Future deuten. Wie der Titel verrät, thematisiert der Film eine Wende, Vergangenheit und Zukunft vergleichend und vereinend. Wie Muñoz plädiert auch der Film »[…] queerness […] can be distilled from the past and used to imagine a future.«[2]

Lucio Castro gelingt es mit „End of the Century“, seinem ersten Langfilm als Drehbuchautor und Regisseur zu überraschen und zu berühren. Trotz oder vielleicht gerade des geringen Budgets wegen zu besonderen Mitteln greifend, wirkt der Film lange nach. Auch der Irritation und Verschachtelung der Zeitstränge verschuldet verliert man sich gerne im Film, jedoch laden, die wunderschön inszenierten, künstlerischen Einstellungen ein, auch das zu genießen.

[1] Muñoz, José Esteban, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, S. 1

[2] Ebd.

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