Review by Lisa Detzel-Varouxis
A Dog Barking at the Moon (Zai jian nan ping wan zhong),
by Lisa Zi Xiang, Stateless 2019
“If you prick us do we not bleed? If you tickle us do we not laugh? If you poison us do we not die? And if you wrong us shall we not revenge” [1]
In Lisa Zi Xiangs erstem Film entfaltet sich Bruch nach Bruch die zerstückelte Geschichte einer gebrochenen Familienfreske. Die neurotische Li Jiumei erwischt ihren Ehemann mit einem anderen, und scheint ihre einzige Zuflucht in den strengen Doktrinen einer Sekte zu finden. Ihre klarsehende Tochter Xiaoyu versucht sie zur Vernunft zu bringen. Seit Li Jiumei ihren Sohn verloren hat und ihre Tochter geboren ist, hat sie angesichts der Tradition ihre Ehre verloren. Ihre Tochter, für schuldig gehalten, wird unermüdlich von ihrer Mutter belästigt. „Since you’ve been born we haven’t had a happy day„. Li Jiumei streunt wie ein gefangenes Tier in einem Labyrinth von wiederkehrenden Sprüchen, sich jedem Wutanfall unterwerfend. Die erwachsene und schwangere Tochter kommt aus den Vereinigten Staaten – wo sie mit ihrem Ehemann Benjamin lebt – zu Besuch zurück. Die Mutter-Tochter Geschichte, wie in Lady Bird angesetzt, nimmt immer mehr Platz ein. Alte Wunden wurden nie geheilt, und alles hängt in der Luft, ohne Möglichkeit die Zeit umzudrehen.
Die Jugend der Mutter erfahren wir durch kurze Lichteinbrüche in das Zimmer, wo sie gemeinsam mit ihrer Freundin Liu Yuanyuan lebte. Durch das Fenster glänzt eine kummerlose joie de vivre, die in der Folge der nächsten Szenen in einen dunklen Tunnel verschwinden wird. Es erscheinen fein geschnittene Rahmen, wie Scheuklappen, in denen die Familie wie in Kästen eingesperrt ist. Einer dieser Kästen enthält eine lauschende Mutter, die auf einmal die Tür aufschlägt, um ihren Mann mit einem anderen zu erwischen. Die von dieser Tat verursachten Schäden zerschmettern bis in die nächste Szene, in Form von Konfettis, in den Klassenraum von Xiaoyu. Jahre später liegen diese Konfettis, Brüche einer schmerzhaften Kindheit, immer noch herum, und immer wieder stolpert Xiaoyu darüber. Die klassische Lebensvorstellung der Wohlhabenden Chinas scheitert, der Lack verwittert. Man fühlt immer schärfer, dass die höfliche Unterwerfung unter jegliche Sitten endlich aufhören muss, und eine heteronormative Einstellung eine genau so toxische Doktrin wie diejenige der Sekte ist. Ein anderer Kasten erlaubt einen Blick in das Elternzimmer, wo die Mutter spricht, und die Stimme ihres unsichtbaren Mannes monosyllabisch antwortet. Diese Rollen verlassen die beiden nicht mehr: er bleibt ein Gespenst, niedergeschlagen, sich seinem Schicksal unterwerfend, und – symptomatisch einer Männerrolle – schließt sich einfach aus jeglichen parentalen Verantwortungen aus, und überlässt alles der gequälten Mutter. In der überwiegend männlichen Filmkunst setzt sich A Dog barking at the Moon dezidiert als eine Geschichte der Frauen fest. Die Protagonistinnen verhandeln unterschiedliche Genrebilder und pflegen mehr oder weniger sorgsam die Illusion des Glückes. Die Mutter scheint für die traditionelle Frauenrolle maßgeschneidert zu sein: „How can a woman live life without being married, it would be weird”, sagt sie ihrer Freundin Liu Yuanyuan. Diese, als einzige mit blauer Hose (an bas bleus erinnernd – gebildete Frauen im 19. JH, die von Männern ausgelacht wurden) in Mitte aller Kleidertragenden Mädchen meint, sie fühlte sich noch nie von Männern angezogen und sei nicht an einer Familie interessiert. “Marriage is about finding someone to fit the role” schließt daraus die junge Mutter. In China – wie auch anderswo – sitzen traditionelle Modelle noch felsenfest.
Xiaoyu hört sich die von ihrer Mutter ausgeliehenen Kassetten der Sekte an, und schenkt uns dabei ihr Profil. In einer Nahaufnahme taucht unter ihren kurzen Haaren ihr Ohr auf, verborgenes Teil des Gesichts, in dem, wie aus einer Sorge um Gleichgewicht, zwei Schönheitsflecke zu sehen sind. In den kalten Bildern des Dekors ist Intimität Tabu, und ständig sind wir – Abbild der respektierten Schamhaftigkeit Chinas – auf Armeslänge von den Figuren ferngehalten. Die Schönheitsflecke sind Besonderheiten, die unbemerkt hätten bleiben können. Sie sind fast Defekte inmitten der langgliedrigen, verfeinerten Oberflächen des feindlichen Familienhauses, ein von Intimität und Sicherheit geleertes home, welches dem Gemeinplatz des „Zuhauses“ widerspricht. Kein Ort zwischen den makellosen Wänden erlaubt das Verstecken: die Protagonistinnen sind wie Flecken hineingeworfen. „I can’t stand dirt“ verkündet die Mutter, und weist unterschwellig auf die Sexualität ihres Mannes, die sie als virale Krankheit versteht. Es gibt tausend Weisen, ein Gesicht zu filmen. Wir hätten die 107 Minuten verbringen können, ohne je diese zwei Schönheitsflecke zu sehen, doch ihr Sternbild bricht durch, Festung von Zartheit. In der Ohrmuschel klingt das leise Echo der in Geheimnissen versinkenden, verbeulten Leben. Im digitalen Zeitalter ist die lebensechte Haut eine seltene Sache; sie wird heuchlerisch erstickt, aufgedeckt wie nie zuvor, und doch verformt, gefiltert, geschminkt, verändert bis zu dem Punkt, wo ihr nichts Organisches mehr bleibt. Xiaoyu hat zwei Flecken, und in diesen wohnt der greifbare Beweis ihrer Menschlichkeit.
Xiaoyu, die unter der Flut von Beschimpfungen ihrer Mutter die Zähne zusammenbeißt, und deren Schultern sich immer mehr unter der Last des Lebens beugen, ist eine Dichterin. Romantisch und der Sackgasse, die ihre beiden Eltern aufrechthalten, bewusst, wünscht sie sich heimlich eine mirakulöse Rettung: dass diese Maskerade tatsächlich eine sei, das Leben nur ein Theaterstück; und in diesen Wunsch tauchen wir hinein. Als Brechungen der langgespannten, naturalistischen und ernsten Geschichte, hauchen uns wunderschöne Szenen ein neues Leben ein: manche verzichten auf die vierte Wand und werden auf einer Theaterbühne gespielt, andere sehen wie Träume aus. Xiaoyu als Kind rennt hinter einem Papierflugzeug her und wird schnell von dem Regen verjagt, den das Sprengen einer Straßenkehrmaschine produziert. „If only the plane had left sooner…“ Die erwachsene Xiaoyu und ihr geliebter Benjamin rennen selbst vor einem größeren Regen weg, aber keine Straßenkehrmaschine ist in Sicht.
Wir sitzen Wesen gegenüber, deren Hände und Füße an mondäne Muster gefesselt sind, in denen ihre Menschlichkeit verschwindet. Die Hälfte des Films zeigt Essenszenen, Verkörperung des glücklichen Familienlebens: hier aber ist jedes Tischende eine feindliche Front. Bodenlose Schluchten trennen eine Familie, die nichts von einer Einheit hat, und wo Ehe unendlich zerbrochener als Scheidung aussieht. Xiaoyus überforderte Klein-Mädchen Pupillen werden später unsichere, fliehende Augen, und ihr Körper etwas zu starr, wie erfroren, von wiederkehrenden Asthmakrisen erschüttert. Sie wird nie von dem Hass ihrer Mutter und der Abwesenheit ihres Vaters kuriert. Während einer Schlüsselszene sitzen alle am Tisch, aber was man zu sehen bekommt, ist ein Konzert von Nahaufnahmen, die uns in eine minimalistische Welt mitnehmen: zerknautschte Kette, berührte Hände, zurückgekämmte Haare… und plötzlich, auf der ganzen Leinwand, das Gesicht der Mutter, die von der Schwangerschaft ihrer Tochter erfährt. Während die ganze Tischgesellschaft Hände, Berührungspunkte, Verbindung zu den anderen ist, bleibt die Mutter das einzige Gesicht, die einzige Fassade, in einer liebeslosen Ehe verhaftet, von geheimen leidenschaftlichen Gefühlen für ihre Jugendfreundin abgewendet, und die wahrscheinlich nicht einmal Kinder wollte: sie hat alles gemacht, wie es sich gehört, und wurde davon zerstört. Die Konflikte lösen sich aus der Wut, mit welcher jede sich gegen sich selbst, unter ihrer eigenen Haut, schlägt: in einem Körper befindet sich immer ein Doppelgänger, die Rolle und deren Schauspielerin.
Fliegen auf der Fruchtschale verraten die Falschheit des Familienideals, und wie verrottet dieses eigentlich ist. In dem Gemälde von Joan Miro “Dog Barking at the Moon” (1926) steigt eine Leiter bis in den Himmel hoch. Sie ist eine nahe Auswegmöglichkeit, aus dem Albtraum heraus, in ein Theaterstück oder einen Film hinein, und dieser ist höchst empfehlenswert.
[1] Shakespeare William, The Merchant of Venice, Mineola: Dover Publications Inc. 1995.