Peeping Toms in einer selfie-voyeuristischen Welt

Ein Essay von Nikodemus Murnberger.

„I don’t think there is anything more frightening than a camera, a camera which is filming and which is watching you.“[1] Diese erschreckende Eigenschaft der Kamera demonstriert Regisseur Michael Powell in seinem Film Peeping Tom.[2] Der Skandalfilm thematisiert die voyeuristischen Perversionen eines in der Kindheit traumatisierten Mannes. Mark Lewis hat nämlich seinen Kameraapparat in eine Mordwaffe umgebaut, um so die Ermordung von Frauen aufzuzeichnen. Seinen Apparat, bestehend aus drei Kameralinsen, hat er mit einem Spiegel versehen, damit seine Mordopfer ihren eigenen Toden ins Auge blicken können. Die grausamen Szenarien, die sich im Laufe des Films mehrmals wiederholen, sind aber ein genialer Ausdruck der komplexen Beziehung des Kamerablicks und geben Aufschlüsse zur voyeuristischen Alltagswelt der heutigen Smartphonekameras.

Abb. 1: Peeping Tom: Mark Lewis bedroht seine Opfer mit einer Klinge am Kamerastativ.

Abb. 2: Peeping Tom: Die Mordopfer blicken in den Spiegel während ihres Todes.

I don’t think there is anything more frightening than a camera, a camera which is filming and which is watching you.

Wenn Mark Lewis seine Morde begeht, ist er kein gewöhnlicher Mensch mit einer Kamera. Vielmehr ist er eine Kreatur, die zu einer Hälfte Mensch ist und zur anderen eine Maschine. Er tötet mit einer Klinge am Kamerastativ, während die Kamera selbst wie ein Schild wirkt,der ihn vor seiner eigenen Grausamkeit schützt. Seine Mordopfer sind hingegen einem Spiegel ausgesetzt, indem sie ihr eigenes angsteingeflößtes Gesicht erblicken (siehe Abb. 2). Die „anthropomorphe Kamera“[3] erinnert hier an die mythologische Schreckensfigur der Medusa. Denn sowohl die Blicke der Kamera, als auch die von Medusa, bedeuten für diejenigen, die ihnen ins Auge sehen, den Tod. Während Mark Lewis eine Fusion aus Mensch und Maschine darstellt, so vereint die Figur Medusa Mensch und Tier, sowie das Abscheuliche mit dem Wunderschönen. Auf diese Dichotomie möchte Michael Powell aufmerksam machen, indem er auf die immerzu gepriesene Schönheit der Kamera verzichtet und ihre abscheuliche Seite offenbart.[4]

Das Grausame und Erschreckende der Kamera lässt sich aber schon in einer einzelnen Fotografie beobachten. Denn durch das Drücken des Auslösers einer Kamera wird ein Bild geschossen, das den sonst lebendigen Moment einfriert. Viele indigene Völker verachten aus diesem Grund die Fotografie, weil ihrer Ansicht nach ein Teil der Seele gestohlen wird. Ähnlich wie Medusas Blick fixiert und paralysiert das Foto die lebende Figur und entzieht ihr die Handlungsmacht.[5]

In Peeping Tom erfolgt diese Paralyse nicht durch Fixieren oder Einfrieren, sondern durch die Begegnung mit dem verängstigten Selbst. Während die Opfer zwischen Leben und Tod schweben, erschrecken sie vor ihrem eigenen Anblick. Vor allem das Erblicken des deformierten Selbst löst das Schrecken der Mordopfer aus und erklärt den markanten Ausdruck der Angst in dessen Gesichtern. Der Spiegel an der Kamera führt hier zu einer Konfrontation mit der erschreckenden Andersartigkeit des sterbenden Selbst.[6]

Indem viele Menschen ihren Alltag im öffentlichen Raum visuell dokumentieren, um ihn auf sozialen Plattformen zu veröffentlichen, mit ihren Freunden zu teilen oder nur für sich als Erinnerung aufzubewahren, werden sie zu ’Peeping Toms’

Was soll nun so eine grausame Inszenierung der Kamera mit dem heutigen Alltag zu tun haben? Heutzutage trägt nahezu jede*r Smartphonekameras bei sich und verwendet diese auf eine Art, die der Gebrauchsweise von Mark Lewis gar nicht so entfernt erscheint. Indem viele Menschen ihren Alltag im öffentlichen Raum visuell dokumentieren, um ihn auf sozialen Plattformen zu veröffentlichen, mit ihren Freunden zu teilen oder nur für sich als Erinnerung aufzubewahren, werden sie zu ’Peeping Toms’. Bewusst oder unbewusst fangen sie mit der Kamera fremde Menschen ein und filmen sie unerlaubt bei ihren alltäglichen Tätigkeiten. Die unwissentlich gefilmten Menschen befinden sich zwar meistens im Hintergrund, doch die Kameras etlicher neuer Smartphone-Modelle sind mit diversen Linsen ausgestattet (siehe Abb. 4), sodass sie beinahe jedes Detail aufzeichnen können. Die Devise der Hersteller lautet: Mehr Kameralinsen, mehr Bilder – und man könnte hinzufügen: mehr Überwachung. Ironischerweise ähneln sie bei dieser Entwicklung mehr und mehr der Kamera von Mark Lewis.

Abb. 3: Peeping Tom: Die Dreifach-Linsen-Kamera unter dem Mantel von Mark Lewis versteckt.
Abb. 4: Neues Smartphone-Modell ebenfalls mit Dreifach-Linsen-Kamera.
 https://tech-ish.com/2020/03/10/iphone-12-64mp-camera/

Zu Beginn des Films versteckt Mark Lewis seine Kamera geschickt unter seinem Mantel, um so seine nichtwissenden Opfer zu filmen (siehe Abb. 3). Heutzutage brauchen Smartphonekameras gar nicht versteckt zu werden, sie verschwinden nämlich in der Masse. Im öffentlichen Raum werden massenhaft Smartphones im selben Moment verwendet, sodass eine Einzelperson nicht wahrnehmen kann, wann, wo und wie oft ein Video von ihr aufgenommen und gespeichert wurde. Ähnlich wie im Film kann diese Omnipräsenz der Kamera für perverse Zweck missbraucht werden, wie beispielsweise für das heimliche Filmen unter den Rock einer Frau.[7]

Abb. 5: Die Selbstinszenierung beim Selfiemachen.
 https://unsplash.com/photos/RNoslAw80b8

Noch bedeutender im Bezug zu Peeping Tom ist die Frontkamera der Smartphones, die das Aufnehmen von Selfies ermöglicht (siehe Abb. 5). Denn der Bildschirm, der das gefilmte Gesicht wiedergibt, verhält sich wie die spiegelnde Einrichtung von Mark Lewis. Die Selfiemacher*innen sehen sich selbst an, während sie sich fotografieren oder sprechen sogar in einer Videoaufnahme mit sich selbst. Auf den ersten Blick erscheint diese Aufnahme wie ein einfaches Spiegelbild, geht man jedoch den psychologischen Gründen einer Selfieproduktion nach, so gelangt man zu einer anderen Interpretation: Häufig ist die Anerkennung des eigenen Erscheinungsbildes das Motiv eines Selfies. Denn der Prozess des Selfiemachens ist Das Spiegelbild bzw. der Bildschirm ist folglich der Anblick des ’deformierten’ Selbst auf der Suche nach Anerkennung.
ein Akt der Selbstobjektivierung, bei der das Individuum sich aus der Perspektive eines Beobachters erblickt.[8]

Das Spiegelbild bzw. der Bildschirm ist folglich der Anblick des ’deformierten’ Selbst auf der Suche nach Anerkennung.

Die Besonderheit des Selfies ist die Selbstinszenierung des Individuums, bei der in der Regel der eigene Arm an der Kamera ansatzweise zu sehen sein muss. In einem direkten Vergleich mit den Ereignissen in Peeping Tom repräsentiert der Arm den Fuß des Kamerastativs. Das Messer am Ende des Stativs, welche die Mordopfer deformiert, kann nur symbolisch aufgefasst werden; und zwar als den (erzwungenen) Anreiz der Selfiemacher*in das bessere Ich verkörpern zu wollen. Das Spiegelbild bzw. der Bildschirm ist folglich der Anblick des ’deformierten’ Selbst auf der Suche nach Anerkennung.

Direktnachweise

[1] Michael Powell, “Interview with Bertrand Tavernier” [1968] Michael Powell Interviews. Ed. Lazar, David. Jackson: University of Mississippi, 2003, in: Virginie Selavy, „Peeping Tom: The Petrifying Gaze of Mechanical Medusa“, Monstrum 1/1, 2018, S. 116-134.

[2]Peeping Tom, R.: Michael Powell, USA 1960.

[3] vgl. Christine N. Brinckmann, Die anthropomorphe Kamera. Und andere Schriften zur filmischen Narration,hg. Christine N. Brinckmann/Mariann Lewinsky/Alexandra Schneider, Zürich: Chronos 1997.

[4] vgl. Virginie Selavy, „Peeping Tom: The Petrifying Gaze of Mechanical Medusa“, Monstrum 1/1, 2018, S. 119.

[5] vgl. Virginie Selavy, „Peeping Tom“, S. 118.

[6] vgl. Virginie Selavy, „Peeping Tom“, S. 120.

[7] vgl. Smart as photography – Felix Michl: Die Omnipräsenz von Hanydyphotographie, R.: DGPh Deutsche Gesellschaft für Photographie, https://www.youtube.com/watch?v=HCcPGzKyJtY, 23.11.16, 21.01.20.

[8] vgl. Sophia J. Lamp/Alyssa Cugle/Aimee L. Silverman/M. Tené Thomas/Miriam Liss/Mindy J. Erchull, „Picture Perfect. The Relationship between Selfie Behaviors, Self-Objectification, and Depressive Symptoms“, Sex Roles, 81, 2019, S. 704-712.

Quellenverzeichnis

Christine N. Brinckmann, Die anthropomorphe Kamera. Und andere Schriften zur filmischen Narration, hg. Christine N. Brinckmann/Mariann Lewinsky/Alexandra Schneider, Zürich: Chronos 1997.

Sophia J. Lamp/Alyssa Cugle/Aimee L. Silverman/M. Tené Thomas/Miriam Liss/Mindy J. Erchull, „Picture Perfect. The Relationship between Selfie Behaviors, Self-Objectification, and Depressive Symptoms“, Sex Roles, 81, 2019, S. 704-712.

Virginie Selavy, „Peeping Tom: The Petrifying Gaze of Mechanical Medusa“, Monstrum 1/1, 2018, S. 116-134.

Smart as photography – Felix Michl: Die Omnipräsenz von Hanydyphotographie, R.: DGPh Deutsche Gesellschaft für Photographie, https://www.youtube.com/watch?v=HCcPGzKyJtY, 23.11.16, 21.01.20.

Peeping Tom, R.: Michael Powell, USA 1960.

Abb. 1: Peeping Tom: Mark Lewis bedroht seine Opfer mit einer Klinge am Kamerastativ, Peeping Tom, R.: Michael Powell, USA 1960.

Abb. 2: Peeping Tom: Die Mordopfer blicken in den Spiegel während ihres Todes, Peeping Tom, R.: Michael Powell, USA 1960.

Abb. 3: Peeping Tom: Die Dreifach-Linsen-Kamera unter dem Mantel von Mark Lewis versteckt, Peeping Tom, R.: Michael Powell, USA 1960.

Abb. 4: Neues Smartphone-Modell ebenfalls mit Dreifach-Linsen-Kamera, https://tech-ish.-com/2020/03/10/iphone-12-64mp-camera/.

Abb. 5: Die Selbstinszenierung beim Selfiemachen, https://unsplash.com/photos/RNoslAw80b8.

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