Péter Rácz
Was haben die blutige Kolonialgeschichte der USA, die Corona-Pandemie und Hacker-Workshops miteinander zu tun? Ziemlich viel, behauptet Johannes Grenzfurthner mit seinem neusten Dokumentarfilm Hacking at Leaves, der diese drei Themen informativ und appellierend zu verarbeiten versucht. Das Endprodukt ist eine Reihe an zwar interessanten, aber unscharfen Einblicken und Zusammenhängen. Die Narration ist durch eine ermüdende Rahmenerzählung von dem Schutzanzug-tragenden Regisseur vorgestellt, als er einer Uncle Sam Karikatur zu erklären versucht, warum die USA dringende systematische Änderungen benötigen.
Der Film beginnt mit der Genozid-gefolgten Gründung und dem konsequenten wirtschaftlichen und militaristischen Aufschwung der Vereinigten Staaten. Die Geschichtsschreibung geht wesentlich tiefer, als die meisten schulischen oder journalistischen Strebungen danach, diese Historien beizubringen. Der Film macht mediale Repräsentation, Ausbeutung und Vernichtung indigener Menschen in Amerika sichtbar. Der Fokus liegt dabei auf der Navajo-Gemeinschaft, die sich hauptsächlich im mittleren Südwesten der USA befindet. Grenzfurthner schafft durch Interviews mit Native Americans einen persönlichen Einblick in die durch Privatisierung und Ignoranz oft lebensbedrohlich gemachten Situationen der Einwohner:innen. Die Überleitung von Vergangenheit in die Gegenwart schafft der Regisseur einzigartig und beeindruckend über die Auswirkungen des Atombomben-Tests auf die Einheimischen.
Auch von den heutigen Lebensumstände, bis zu den Wirkungen der COVID-19 Pandemie erzählen die Interviewten. Beispiele wie Verfilmungen von Karl May Büchern, Videospiele mit indigenen Bösewichten, Werbungen und Statuen verdeutlichen die vorherrschende mediale Repräsentation in den USA. Insbesondere wirksam gilt die Präsenz der Narrative, dass Native Americans eine aussterbende, naturnahe, und unzivilisierte Bevölkerung sind, für die die moderne Welt keinen Platz mehr hat.
Sie sind aber immer noch am Leben und entsprechen einer der Gruppen, die von amerikanischen Krisen und Ausbeutung am meisten betroffenen sind. Die größte Krise der letzten Jahren war das Coronavirus, welches eine hohe Zahl an Opfern forderte. Die Ausbreitung war rasant, die Bekämpfung fast unmöglich. Die interviewten Personen erzählen über Mängel an Wasser, Internet und Infrastruktur in ihrer Umgebung. Der Regisseur macht hier eine wichtige Entscheidung: alle Informationen und Geschichten werden von Betroffenen selber erzählt, Statistiken werden durch persönlichen Interviews kontextualisiert.
In der Nähe der Navajo-Region liegt die Kleinstadt von Durango, Colorado, mit der das andere große Thema von Hacking at Leaves eingeführt wird. Grenzfurthner erzählt hier die Geschichte von Hackerspaces: globale Werkstätten für Informatik, Internet und Maschinenbau-interessierte Menschen. Diese präsentiert er mit hoher Geschwindigkeit und wenig bis keiner Beziehung zu den vorigen Kapiteln. Neben der geographischen Lage gilt die Pandemie als Zusammenhang, als Menschen aus Hackerspaces Schutzanzüge für Krankenhäuser in der Region entwickelten.
An dieser Stelle wird die Gier der Gesundheitsindustrie in den USA thematisiert: Macht der Privatfirmen, Untätigkeit der Regierung und das Stören der Arbeit unabhängiger Freiwilligen, wie den Hackerspaces.
Dieses Segment wirkt besonders irritierend, da die Hackerspace-Geschichte anscheinend der Ausgangspunkt des Filmemachers ist. Dadurch scheint die Erzählung der Ureinwohner als bloße Einführung für das „wirkliche“ Kernthema: eine klassisch amerikanische Erfolgsgeschichte, deren Umstände zwar kritisiert, aber das Endprodukt gelobt wird.
Aus der Rahmenerzählung des Kampfes zwischen Erzähler und Uncle Sam entsteht ein oft peinlicher als schlauer Humor, der nicht nur den Rhythmus der Erzählung bremst oder sogar stoppt, sondern auch stilistisch stark von den ideologiekritischen und antikapitalistischen Ansichten, die Grenzfurthner präsentiert, abweicht. Interviews und Erklärungen werden von Uncle Sams Grimassen und unkreativen One-Linern unterbrochen und Sekunden länger gehalten, vermutlich als Pause für Lachen oder sogar Applaus. Das Vertrauen des Regisseurs in sein komödiantisches Talent untergräbt oft die Botschaften der Erzählungen und behandelt Zuschauer*innen herablassend. Er tut so, als ob das präsentierte Material ohne dem billigen Sarkasmus durch die veraltete Uncle Sam Karikatur nicht verständlich genug wäre.
Grenzfurthner präsentiert seine Thesen in einem Stil, der an YouTube Video-Essays und journalistische Kurzdokumentarfilme von Kanälen wie Vox oder Vice erinnern. In solchen Arbeiten entdeckt und erzählt eine Person teilweise aus dem Off, teilweise vor der Kamera historische Hintergründe und Auswirkungen eines Phänomens oder Ereignisses durch Interviews mit Expert*innen und Analysen von Studien.
Hacking at Leaves basiert ebenfalls auf einer großen Menge an Recherche und organisiert sie auf der Leinwand in einer nachvollziehbaren und beeindruckenden Weise. Die Zoom-Interviews, Quellen und Zitaten werden durch einen alten Fernsehen auf einem unordentlichen Schreibtisch gezeigt. Mit den verpixelten Buchstaben weist diese Inszenierung auf bestimmte Ästhetik und Zeitalter hin, die aber wenig Rolle im Gesamtfilm und seinen Argumenten spielen. Ein, mit der Geschichtsschreibung gleichzeitig wechselndes oder die Themen kombinierendes Aussehen, hätte einen klareren Zusammenhang zwischen Form und Inhalt. Die kreative Bildgestaltung mittels alter Medien bezieht sich nur auf mediengeschichtliche Repräsentation von Native Americans und Hackerkultur, was ohne den historischen und kontemporären Themen nicht irritiert hätte.
„By and for Johannes Grenzfurthner“ steht auf den Credits für den Regisseur, was noch keinem gültigen Zielpublikum entspricht, weil der Film nach einem nichtgelungenen Netflix-Verkauf auf dem Diagonale-Filmfestival gelandet ist. Hacking at Leaves ist dem Titel nach eine Reihe von Symptomanalysen, bei denen das benötigte Vorwissen Kapitel für Kapitel so schwankt, dass die Frage nach potenziellen Adressat*innen immer problematischer wird.
Für Zuschauer*innen ohne Vorwissen bietet der Film zu wenig Einführung in die teilweise überflüssigen Themen und Geschichten, weshalb die Botschaft halbgebacken ankommt.
Ein Publikum mit Vorwissen wird von dem Vorkauen des bekannten Inhalts schnell abgelehnt. Für sie bleibt nur noch der wenig authentische Südstaatenakzent des Uncle Sams als offensichtliche Verkörperung der USA als billige Unterhaltung übrig.
Hacking at Leaves ist ein frustrierender Film in dem der Regisseur das Publikum und sich selbst stetig zu überlisten versucht. Die teilweise informativen und kreativen Segmente werden von irritierender Narration und offensichtlichem Sarkasmus überschattet, das Ergebnis sind langgezogene und ermüdende 108 Minuten.