Nadescha Jakobowski
Mit einer einzigartigen Mischung aus Drama, Coming-of-Age und Monsterfilm erschafft der 102-minütige Spielfilm How to Be Normal and the Oddness of the Other World (Originaltitel: Wie man normal ist und die Merkwürdigkeiten der anderen Welt) aus dem Jahr 2025 eine vielschichtige Welt, die durch eine unterschwellige humoristische Note aufgelockert wird. Diese genreübergreifende Erzählweise spiegelt die fragmentierte Wahrnehmung der psychisch labilen Hauptfigur, Pia, wider und zieht das Publikum in ihre ungewöhnliche Realität hinein. Regisseur Florian Pochlatko spielt mit den Ebenen der Realität und versetzt so die Zuschauenden in einen ähnlich verwirrten Zustand, in dem sich die Protagonistin Pia (gespielt von Luisa-Céline Gaffron) befindet. Beim Anschauen des Films stellt sich oft die Frage, was nun Realität und was Einbildung Pias ist. Diese unklare Zuordnung wird anhand von Montage und Voice-Overs verursacht. Und genau diese Seherfahrung macht Pochlatkos Werk so besonders. Das Publikum erhält Einblicke in Pias Welt aus der „normalen“, nüchternen Perspektive vermischt mit Pias psychotischer Wahrnehmung und ihren schwankenden Grenzen der Realität.
Die 26-jährige Wienerin Pia kehrt nach einem weiteren Aufenthalt in der Psychiatrie zurück in ihr Elternhaus. Doch das vertraute Umfeld bietet kaum Halt – im Zusammenleben mit ihren Eltern wird ihr bewusst, dass nicht nur ihr eigenes Leben aus den Fugen gerät. Ihr Vater Klaus (gespielt von Cornelius Obonya) und ihre Mutter Elfie (gespielt von Elke Winkens) ringen gleichermaßen damit, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sich unaufhaltsam verändert. Neben ihren psychischen Erkrankungen wie Depression, Psychose und Schizophrenie wird Pia zusätzlich von der Vergangenheit eingeholt. Ihr Ex-Freund Joni (gespielt von Felix Pöchhacker) sehnt sich nach der „alten Pia“, ist jedoch bereits in einer neuen Beziehung. Diese emotionale Zerrissenheit wird für das Publikum deutlich spürbar, da es Pias und Jonis Telefonate sowie ihre ambivalenten Gespräche hautnah miterlebt. Um sich von Joni und der Vergangenheit abzulenken, stürzt sich Pia in eine neue Bekanntschaft – doch loslassen kann und will sie nicht. Auch beruflich kämpft sie mit Herausforderungen. Ihr Vater verschafft ihr einen Aushilfsjob in seiner Druckereifirma; doch der monotone Arbeitsalltag wird schnell zur Belastungsprobe. Zwischen Schreibtisch und Kopierer beginnt Pia zu halluzinieren, fühlt sich verfolgt und zunehmend entfremdet von einer „normalen“ Welt, in die sie nicht hineinzupassen scheint. Um Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, setzt Pia alles daran, sich selbst zu optimieren: Sie macht Yoga, folgt online Beauty-Tutorials und geht zur Therapie. Doch ihre Bemühungen scheinen ins Leere zu laufen. Nicht, weil sie scheitert, sondern weil ihr Umfeld sie weiterhin als krank definiert. Ihre Mutter ersetzt Keramikgeschirr durch Plastik, ihr Vater entfernt spitze Gegenstände aus der Firmenküche, und ihre Mitmenschen begegnen ihr mit vorsichtiger, aber unsensibler Distanz. In ihrer Wahrnehmung verwandelt sie sich in ein gigantisches Monster. Ein Monster mit einer Gouda-Scheibe im Gesicht, als Symbol dafür, dass sie ihr wahres Gesicht verloren hat. Doch was bedeutet überhaupt „normal“? Ist Pia das Monster oder ist sie vielleicht die Einzige, die in einer Welt voller Monster authentisch bleibt?
Pochlatko verwebt in How to Be Normal gekonnt mehrere Handlungsstränge zu einem vielschichtigen Porträt menschlicher Krisen und Alltäglichkeiten. Neben Pias eigenem Weg erhalten wir auch Einblicke in das Leben ihrer Eltern, die verzweifelt versuchen, ein „normales“ Dasein zu führen. Die überforderte Elternschaft, geprägt von den Herausforderungen im Umgang mit ihrer psychisch leidenden erwachsenen Tochter, steht dabei ebenso im Fokus wie Klaus’ monotoner und repetitiver Arbeitsalltag. Elfie, die verzweifelt darum kämpft, ihre Tochter wieder in die Gesellschaft zu integrieren, droht dabei selbst an den persönlichen Belastungen zu zerbrechen. Schließlich sucht sie in einer Psychotherapiesitzung den erhofften Halt. Jedoch wird sie enttäuscht und muss die Sitzung vorzeitig abbrechen, weil sie sich nicht ernstgenommen fühlt. Diese vielschichtigen Schicksale verdeutlichen eindrucksvoll, dass jeder seine eigenen Lasten trägt und die individuellen Krisen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, letztlich universelle menschliche Erfahrungen darstellen.
Der Film erzählt Pias Geschichte größtenteils aus ihrer Perspektive, doch durch geschickte Montagetechniken verschwimmen die Grenzen der Wahrnehmung: Szenen, die das Publikum zunächst als Pias Sicht interpretiert, entpuppen sich unerwartet als die Realität anderer. Besonders stark eingesetzt wurde diese Montagekunst in der Szene, in der Pia nachts ungehemmt in Jonis Wohnung stürmt. Zunächst ist das ehemalige Pärchen in Jonis Bett nebeneinander liegend zu sehen. Sie unterhalten sich ruhig und wirken vertraut. Im nächsten Moment klopft es erst einmal, dann ein weiteres Mal immer energischer gegen die Wohnungstür. Das Publikum sieht, wie Joni aus dem Bett aufsteht und Pia liegen bleibt. Mit einer Kamerafahrt begleiten wir Joni zur Tür. Er öffnet diese und Pia stürmt hinein. Sie ist zunächst apathisch und fährt danach ruhig mit ihren Fingern über einen an der Wand hängenden Bilderrahmen und flüstert dabei, dass Pia überall sei. Von jetzt auf gleich kippt ihre ruhige Stimmung und Pia greift Joni an. Dabei hält sie ihm die Spitze eines Regenschirmes an den Hals. Die Kamera schwankt leicht zur Seite und Jonis neue Freundin erscheint im Türrahmen stehend im Nachthemd gekleidet. Durch diese kurze Einstellung wird deutlich, dass sie diejenige war, die tatsächlich mit Joni in dessen Bett gelegen hat und nicht Pia. Durch diese Szene wird nicht nur Pias fragmentierte Wahrnehmung spürbar, sondern auch die Frage aufgeworfen, wie subjektiv Normalität tatsächlich ist. Der Frage nach Normalität geht der Film intensiv auf den Grund. Ist es normal, morgens etliche Pillen einzuschmeißen, um den Tag ohne Panikattacken, depressiven Schüben und Fressattacken zu überstehen? Ist es normal, nicht mit einer längst beendeten Beziehung abschließen zu können? Ist es normal, dass ein Kleinkind die einzige Person ist, die einen zu verstehen scheint? Und ist es normal, mit 26 auf die Hilfe und Unterstützung der Eltern angewiesen zu sein?
Neben den persönlichen Krisen der Charaktere spielt der Klimawandel eine weitere Rolle im Film. Fernseh- und Radiosender berichten eindringlich über verheerende Naturkatastrophen, was zu einer ambivalenten Deutung führt: Während die Welt der Protagonistin ins Wanken gerät, scheint auch die scheinbar „normale“ Gesellschaft ihre Stabilität zu verlieren. Diese Perspektive wird zusätzlich durch die parallelen Lebensstränge der Eltern untermauert. Alternativ könnte man argumentieren, dass die dargestellten Umweltkrisen metaphorisch das innere Ungleichgewicht in Pias eigener Welt widerspiegeln. Ebenfalls zu beleuchten ist hierbei, dass Pia mit den Naturkatastrophen gleichgesetzt wird. Sie wird als Monster der Stadt, mit Käse im Gesicht, im Fernseher inszeniert, vor dem sich die Menschen fürchten und zu fliehen versuchen. Diese Metapher unterstreicht die zweite Deutung der Klimakrisen. Pia bringt die „normale“ Welt durcheinander und stellt das Unheimliche und das Gefährlichste in der Welt dar. Gar das Unnormale.
Außerdem beeindruckt der Film durch eine vielschichtige visuelle und inhaltliche Gestaltung, die die Zuschauenden unmittelbar in die Welt der Protagonistin eintauchen lässt. So werden beispielsweise Szenen, in denen Pia auf Partys ist, in einem hektischen Rhythmus und mit verschwommenen Bildern inszeniert. Dadurch entsteht ein Gefühl der Überwältigung und des Mitfeierns. Ebenso wirkungsvoll ist die dynamische Montage der Fress-Attacken, nachdem Pia ihre Pillen abgesetzt hat. Die Fress-Attacken werden in schnellen Schnitten hintereinander geschnitten und verstärken so die Intensität der dargestellten Emotionen. Auch spiegeln die schnellen Schnitte die Hektik einer Fress-Attacke wider. Neben der Montagearbeit wurde viel Wert auf das Colour Grading gelegt. Gezielt eingesetzte Farbfilter unterstreichen die verschiedenen Stimmungen, die die Darstellenden durchlaufen. Der nahezu deprimierende Büroalltag in der farblosen, tristen Firma wird mit dunklen und gräulichen Farbfiltern inszeniert. Gesättigte und kräftige Farbtöne sind hingegen in dem Setting und dem Colour Grading von Szenen zu finden, in denen es Pia den Umständen entsprechend gut geht. So wie beispielsweise in der Szene, in der sie mit Joni auf der Wiese im Wiener Augarten liegt und die beiden sich unterhalten. Auch die Szenen, in denen Pia Yoga macht und währenddessen mit ihrem Nachbarsjungen Lenni spricht, spiegeln ihr Wohlbefinden wider. Dieser visuelle Unterschied repräsentiert die Lebendigkeit der Szenen ziemlich angemessen. Auch wird dadurch deutlich gemacht, dass ein monotoner 9-to-5-Job nicht viel dazu beiträgt, eine labile Person glücklich zu machen.
Um den ernsten Themen des Films eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, integriert Pochlatko gekonnt humorvolle Elemente in seine Inszenierung. Bei einem Gespräch mit einem Arzt versucht Pia diesem aufgebracht zu vermitteln, dass sie verzweifelt ist und die Medikamente bei ihren Wahnvorstellungen nicht gegenwirken. Dieser hält ihr daraufhin unbeeindruckt einen Tischkalender mit einem Zitat hoch: „Glaub‘ nicht alles, was du denkst“. Ein weiteres kleines amüsante Detail ist die Tasse, aus der die Protagonistin trinkt. Auf dieser steht „Britney survived 2007. You can handle today“. Diese Motivationssprüche wirken fast schon ironisch, wenn man bedenkt, wie schwerwiegend Pias Erkrankungen eigentlich sind. Auch die Zwischensequenzen im Mittelteil des Films, in denen Pia am Smartphone durch Beauty-Videos scrollt und sich albern überzogene Gesichtsmasken aufträgt, verleihen dem Geschehen eine gewisse Leichtigkeit und schaffen kurze Momente der Alltagsflucht. Sie schaut sich zudem ein kurzes YouTube Video an, welches drei Anzeichen von ADHS erklärt…die drei Anzeichen sind jedoch banale Dinge, die nahezu auf jede Person zutreffen und somit keinen seriösen Eigentest gewähren.
How to Be Normal ist kein klassisches Tutorial, das Schritt für Schritt erklärt, wie man nach einem Klinikaufenthalt wieder „funktioniert“. Vielmehr führt uns der Film vor Augen, wie brüchig und individuell jede Rückkehr ins vermeintlich normale Leben sein kann und wie sehr gesellschaftliche Erwartungen oft im Widerspruch zu den realen Bedürfnissen der Betroffenen stehen. Pias Suche nach Stabilität und Zugehörigkeit ist kein lineares Lernprogramm, sondern ein ständiges Aushandeln von Identität, Grenzen und Selbstwahrnehmung.
Gerade durch die kreative Kombination aus Humor, visueller Überforderung und feinfühligem Drama gelingt es Regisseur Florian Pochlatko, die Vielschichtigkeit psychischer Erkrankungen greifbar zu machen. Doch so eindrucksvoll und wichtig diese filmische Auseinandersetzung auch ist, How to Be Normal ist kein Film, den man leicht konsumiert. Für Zuschauende, die selbst mit psychischen Erkrankungen kämpfen, können bestimmte Szenen emotional belastend oder triggernd wirken. Der Film verlangt viel an Aufmerksamkeit, an Einfühlungsvermögen und an psychischer Stabilität. Deshalb ist er besonders jenen zu empfehlen, die bereit sind, sich mit der Thematik mit einer gewissen emotionalen Distanz auseinanderzusetzen und sich gleichzeitig darauf einlassen möchten, dass „normal“ ein Begriff ist, der in all seiner Unsicherheit neu gedacht werden muss. Doch ist das Streben nach Normalität vielleicht selbst schon das Unnormalste von allem?