Lara Sönser
Zwei Mädchen auf einem Fahrrad. Die Größere der beiden tritt in die Pedale, die Kleinere sitzt hinten auf dem Gepäckträger. In einem Innenhof werfen sie Tennisbälle in Tonnen. Die beiden malen mit Kreide bunte Kästen auf den Asphalt. Im Schatten der Bäume spielen die Mädchen Himmel und Hölle. Die kleinen Schuhe klackern über den Betonboden. Lachend springen sie von Feld zu Feld. Daneben der marschierende Gleichschritt eines Soldaten.
Eine Stimme aus dem Off erläutert, dass die Großmutter zwanzig Jahre lang eine Militärkantine leitete. Die Erzherzog – Johann – Kaserne im Süden der Steiermark. „Wie war es damals, hier aufzuwachsen?“ fragt Katharina Copony in diesem Dokumentarfilm ihre Mutter und deren Schwestern, die als Kinder schon mitten im Geschehen der Kaserne aufwuchsen. Die ganze Welt schien sich nur über das Gebäude und den Hof zu erstrecken, auf dem täglich Soldaten marschierten. Coponys Mutter spricht über frühkindliche Erfahrungen – zwischen einer dauerbeschäftigten Mutter, einem katholischen Vater und der eingeschränkten Welt der Kaserne.
Ein Wechsel der Stimme aus dem Off: Nun spricht nicht mehr Copony selbst, wie zu Beginn des Films. Zuvor wurden die weiblichen Familienmitglieder nach ihren Erfahrungen des Aufwachsens befragt, doch nun ist es die Stimme ihrer Mutter. Während Coponys Mutter ihr Aufwachsen in der Kaserne rekonstruiert und sich zurückerinnert, kommt es auf visueller Ebene zu einer Form des Reenactments. Die Erinnerungen der Mutter werden mit Schauspieler*innen am Ort des Erlebten verknüpft. Alle Aufnahmen werden von den jungen Darsteller*innen in der damaligen Kaserne reinszeniert. Die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und Erlebten scheinen zu verschwimmen mit der Reinszenierung der kindlichen Erinnerungen. Während die Mutter erzählt, sind zwei Kinder zu sehen, die über die Risse im Boden schreiten. Ein Schnitt zu den Soldaten. Die Stiefel der Männer heben und senken sich im Takt. Es entsteht eine hybride, filmische Welt, die sich zwischen Spielfilm und Dokumentation bewegt.
Die Aufnahmen der Soldaten zeichnen ein Bild von Gehorsam und Disziplin. Zu sehen sind Kinder, die sich durch Korridore und Gänge der Kaserne bewegen. Selbstbewusst nehmen sie Abzweigung nach Abzweigung – zielstrebig und nachahmend, im Gleichschritt, wie bei den Soldaten. Die Mutter von Katharina beschreibt das Aufwachsen mit der Großmutter. Als die Kinder in der Kantine ankommen, ist die Mutter nur schemenhaft zu erkennen. Alles wird auf Augenhöhe der Kinder gefilmt. Die Perspektive ihrer persönlichen Erfahrung steht im Vordergrund. Es habe nie einen persönlichen Moment mit der Mutter gegeben, da diese so sehr in ihre Arbeit eingebunden war. Auch dies wird durch die Bildsprache verdeutlicht: Nie bekommen wir die Großmutter von Copony wirklich zu sehen. Die Kinder befinden sich in ihrer eigenen Welt, die durch die Grenzen der Kaserne strikt geregelt erscheint. Während sich die Zuschauer*innen in der visuellen Welt der Kindheit befinden, erzählt Coponys Mutter von späteren Begegnungen mit der Großmutter im Erwachsenenalter. Währenddessen sind die Mädchen weiterhin in der Kaserne zu sehen. Die Zeitstränge beginnen sich zu verweben. Erinnerungen an Kindheit, Jugend, Vergangenheit und Gegenwart scheinen im Prozess der Rekonstruktion zu verschmelzen.
Ein Bruch entsteht. Die Kindheit schwindet, die Jugend beginnt. Sie erzählt von übergriffigen Kommentaren der Soldaten – die Großmutter von Copony blendete diese aus. Verwoben in die pubertäre Entwicklung entstehen existenzielle Fragen. Sie beginnt den Katholizismus zu hinterfragen. So erzählt die Mutter, dass sich jedes Gewitter wie der Zorn Gottes über die Kaserne legte. Der jugendliche Widerstand bewegte sie dazu, die religiöse Erziehung infrage zu stellen. Der Vater, streng katholisch, und eine Mutter, die sich der Religion ebenso unterordnete. Eine innere Spannung gegenüber familiären Idealen entsteht. Eine Wandlung tradierter Glaubenssätze findet statt. Nur mit ihrer Schwester konnte sie darüber sprechen. Die Verbundenheit zu ihren Geschwistern wird immer wieder betont – eine tiefgehende Beziehung scheint sich durch ihr gemeinsames Aufwachsen zu ziehen. Copony betont in ihrem Film durch die Nacherzählung der Mutter immer wieder das weibliche Kollektiv innerhalb der Familie und arbeitet besonders deren persönliche Geschichte heraus.
Nicht nur die persönliche Historie, sondern auch die österreichische Geschichte wird aufgearbeitet, in Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte. Die Mutter arbeitete am Feld, der Vater, der sich gegen das NS – Regime richtete, wurde eingezogen. Ein Jahr war nicht klar, ob der Vater noch lebte. Trotz der offenen Ablehnung gegenüber dem Regime, kam es zu einem klaren Schweigen über die Erlebnisse im Krieg. Diese Schweigekultur fand sich nicht nur in der eigenen Familie wieder, sondern erstreckte sich auch auf den Schulunterricht. In diesem wurde lediglich über den ersten Weltkrieg gesprochen. Die Traumata der eigenen Familie blieben unverarbeitet, erst die Kinder der Großmutter setzten sich damit auseinander. Neben dem Tabu des Erinnerns kommt es zu einer visuellen Auseinandersetzung mit Bildern des Heeres, in denen die österreichische Flagge gehisst wird. Es kommt zu einer Hinterfragung der österreichischen Historie, des Patriotismus, der Erinnerungskultur und des Umgangs mit den Geschehnissen des zweiten Weltkriegs. Themen die nicht nur innerhalb der eigenen Familienhistorie von Relevanz sind.
Die Grenzen der Kaserne werden zu eng. Mit dem Besuch des Gymnasiums entwickelt die Mutter von Copony eigene Ideale und Vorstellungen der Welt. Es kommt zum Streit in der Kaserne. Das Gymnasium würde die Kinder verderben, so der Vater. Die Mutter von Copony spricht aus dem Off: „Es kommt zu einem Bruch. Etwas neues beginnt.“ Eine Entfernung gegenüber der Kaserne setzt ein. Die Mutter von Copony und ihre Geschwister führen ein Leben, das nicht mehr von der Kaserne eingenommen ist. Die Lebensrealität hat sich erweitert, der Weg führt in die Großstadt. Es wird erzählt, dass alle eine unterschiedliche Wahrnehmung vom Aufwachsen in der Kaserne und von den Eltern haben. Auch hier betont die Filmemacher*in, wie individuell Erinnerung funktioniert. Wie sie möglicherweise verfremdet und dennoch sind alle durch deren Aufwachsen verbunden.
Auch die Enkelkinder spielen im Hof der Kaserne. Eine neue Generation ist zu sehen. Nun wird über die Großmutter in der Kantine gesprochen. Die Enkelkinder (aus Coponys Perspektive) werfen einen erneuten Blick auf die Frau in der Militärkantine. Eine neue Beschreibung der Großeltern, eine veränderte Perspektive auf Familie entsteht. Ende der 70er – Jahre wird die Kantine vom Bundesheer übernommen, das Kantinenleben schwindet. Die Erinnerungen bleiben. „Was trägt sich durch die Generationen, trotz aller Veränderungen? Was wirkt auf uns ein?“, fragt die Filmemacher*in.
Copony widmet sich in diesem Werk der kollektiven Familienhistorie und wirft dabei die Frage auf, in welcher Weise sie selbst und all ihre Vorfahr*innen miteinander verknüpft sind. Es kommt zu einer Analyse der eigenen Herkunft und der Frage, wie uns ein Ort prägt, selbst wenn wir an diesem nicht aufwachsen. Durch die besondere Verschmelzung von autobiografischen Elementen und der Reinszenierung am Ort des Geschehens entsteht eine eindrückliche Perspektive auf die eigene Familie und inwiefern wir mit dieser in Verbindung stehen. Copony kehrt in die Kaserne zurück, als einen Ort des kollektiven Erinnerns, der sie und all die Frauen in ihrer Familie miteinander verbindet. Ein möglicher Annäherungsversuch an das eigene Sein, auf der Suche nach Erinnerungen und familiären Verknüpfungen. Die Geschichte der Großmutter, der Mutter, der Schwestern – der Frauen in ihrer Familie – aufzuarbeiten, bedeutet auch, die eigene Herkunft und Identität zu verarbeiten. Sich möglicherweise wiederzufinden, aber auch darin zu verlieren, um sich selbst einen Raum in dieser familiären Verknüpfung zu schaffen.