„An was erinnerst du dich? Frag ich meine Mutter und ihre Schwestern.“

Lara Sönser

Zwei Mädchen auf einem Fahrrad. Die Größere der beiden tritt in die Pedale, die Kleinere sitzt hinten auf dem Gepäckträger. In einem Innenhof werfen sie Tennisbälle in Tonnen. Die beiden malen mit Kreide bunte Kästen auf den Asphalt. Im Schatten der Bäume spielen die Mädchen Himmel und Hölle. Die kleinen Schuhe klackern über den Betonboden. Lachend springen sie von Feld zu Feld. Daneben der marschierende Gleichschritt eines Soldaten. 

Eine Stimme aus dem Off erläutert, dass die Großmutter zwanzig Jahre lang eine Militärkantine leitete. Die Erzherzog – Johann – Kaserne im Süden der Steiermark. „Wie war es damals, hier aufzuwachsen?“ fragt Katharina Copony in diesem Dokumentarfilm ihre Mutter und deren Schwestern, die als Kinder schon mitten im Geschehen der Kaserne aufwuchsen. Die ganze Welt schien sich nur über das Gebäude und den Hof zu erstrecken, auf dem täglich Soldaten marschierten. Coponys Mutter spricht über frühkindliche Erfahrungen – zwischen einer dauerbeschäftigten Mutter, einem katholischen Vater und der eingeschränkten Welt der Kaserne. 

Ein Wechsel der Stimme aus dem Off: Nun spricht nicht mehr Copony selbst, wie zu Beginn des Films. Zuvor wurden die weiblichen Familienmitglieder nach ihren Erfahrungen des Aufwachsens befragt, doch nun ist es die Stimme ihrer Mutter. Während Coponys Mutter ihr Aufwachsen in der Kaserne rekonstruiert und sich zurückerinnert, kommt es auf visueller Ebene zu einer Form des Reenactments. Die Erinnerungen der Mutter werden mit Schauspieler*innen am Ort des Erlebten verknüpft. Alle Aufnahmen werden von den jungen Darsteller*innen in der damaligen Kaserne reinszeniert. Die Grenze zwischen dem Dokumentarischen und Erlebten scheinen zu verschwimmen mit der Reinszenierung der kindlichen Erinnerungen. Während die Mutter erzählt, sind zwei Kinder zu sehen, die über die Risse im Boden schreiten. Ein Schnitt zu den Soldaten. Die Stiefel der Männer heben und senken sich im Takt. Es entsteht eine hybride, filmische Welt, die sich zwischen Spielfilm und Dokumentation bewegt. 

Die Aufnahmen der Soldaten zeichnen ein Bild von Gehorsam und Disziplin. Zu sehen sind Kinder, die sich durch Korridore und Gänge der Kaserne bewegen. Selbstbewusst nehmen sie Abzweigung nach Abzweigung – zielstrebig und nachahmend, im Gleichschritt, wie bei den Soldaten. Die Mutter von Katharina beschreibt das Aufwachsen mit der Großmutter. Als die Kinder in der Kantine ankommen, ist die Mutter nur schemenhaft zu erkennen. Alles wird auf Augenhöhe der Kinder gefilmt. Die Perspektive ihrer persönlichen Erfahrung steht im Vordergrund. Es habe nie einen persönlichen Moment mit der Mutter gegeben, da diese so sehr in ihre Arbeit eingebunden war. Auch dies wird durch die Bildsprache verdeutlicht: Nie bekommen wir die Großmutter von Copony wirklich zu sehen. Die Kinder befinden sich in ihrer eigenen Welt, die durch die Grenzen der Kaserne strikt geregelt erscheint. Während sich die Zuschauer*innen in der visuellen Welt der Kindheit befinden, erzählt Coponys Mutter von späteren Begegnungen mit der Großmutter im Erwachsenenalter. Währenddessen sind die Mädchen weiterhin in der Kaserne zu sehen. Die Zeitstränge beginnen sich zu verweben. Erinnerungen an Kindheit, Jugend, Vergangenheit und Gegenwart scheinen im Prozess der Rekonstruktion zu verschmelzen. 

Ein Bruch entsteht. Die Kindheit schwindet, die Jugend beginnt. Sie erzählt von übergriffigen Kommentaren der Soldaten – die Großmutter von Copony blendete diese aus. Verwoben in die pubertäre Entwicklung entstehen existenzielle Fragen. Sie beginnt den Katholizismus zu hinterfragen.  So erzählt die Mutter, dass sich jedes Gewitter wie der Zorn Gottes über die Kaserne legte. Der jugendliche Widerstand bewegte sie dazu, die religiöse Erziehung infrage zu stellen. Der Vater, streng katholisch, und eine Mutter, die sich der Religion ebenso unterordnete. Eine innere Spannung gegenüber familiären Idealen entsteht. Eine Wandlung tradierter Glaubenssätze findet statt. Nur mit ihrer Schwester konnte sie darüber sprechen. Die Verbundenheit zu ihren Geschwistern wird immer wieder betont – eine tiefgehende Beziehung scheint sich durch ihr gemeinsames Aufwachsen zu ziehen. Copony betont in ihrem Film durch die Nacherzählung der Mutter immer wieder das weibliche Kollektiv innerhalb der Familie und arbeitet besonders deren persönliche Geschichte heraus.

Nicht nur die persönliche Historie, sondern auch die österreichische Geschichte wird aufgearbeitet, in Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte. Die Mutter arbeitete am Feld, der Vater, der sich gegen das NS – Regime richtete, wurde eingezogen. Ein Jahr war nicht klar, ob der Vater noch lebte. Trotz der offenen Ablehnung gegenüber dem Regime, kam es zu einem klaren Schweigen über die Erlebnisse im Krieg. Diese Schweigekultur fand sich nicht nur in der eigenen Familie wieder, sondern erstreckte sich auch auf den Schulunterricht. In diesem wurde lediglich über den ersten Weltkrieg gesprochen. Die Traumata der eigenen Familie blieben unverarbeitet, erst die Kinder der Großmutter setzten sich damit auseinander. Neben dem Tabu des Erinnerns kommt es zu einer visuellen Auseinandersetzung mit Bildern des Heeres, in denen die österreichische Flagge gehisst wird. Es kommt zu einer Hinterfragung der österreichischen Historie, des Patriotismus, der Erinnerungskultur und des Umgangs mit den Geschehnissen des zweiten Weltkriegs. Themen die nicht nur innerhalb der eigenen Familienhistorie von Relevanz sind.

Die Grenzen der Kaserne werden zu eng. Mit dem Besuch des Gymnasiums entwickelt die Mutter von Copony eigene Ideale und Vorstellungen der Welt. Es kommt zum Streit in der Kaserne. Das Gymnasium würde die Kinder verderben, so der Vater. Die Mutter von Copony spricht aus dem Off: „Es kommt zu einem Bruch. Etwas neues beginnt.“ Eine Entfernung gegenüber der Kaserne setzt ein. Die Mutter von Copony und ihre Geschwister führen ein Leben, das nicht mehr von der Kaserne eingenommen ist. Die Lebensrealität hat sich erweitert, der Weg führt in die Großstadt. Es wird erzählt, dass alle eine unterschiedliche Wahrnehmung vom Aufwachsen in der Kaserne und von den Eltern haben. Auch hier betont die Filmemacher*in, wie individuell Erinnerung funktioniert. Wie sie möglicherweise verfremdet und dennoch sind alle durch deren Aufwachsen verbunden. 

Auch die Enkelkinder spielen im Hof der Kaserne. Eine neue Generation ist zu sehen. Nun wird über die Großmutter in der Kantine gesprochen. Die Enkelkinder (aus Coponys Perspektive) werfen einen erneuten Blick auf die Frau in der Militärkantine. Eine neue Beschreibung der Großeltern, eine veränderte Perspektive auf Familie entsteht. Ende der 70er – Jahre wird die Kantine vom Bundesheer übernommen, das Kantinenleben schwindet. Die Erinnerungen bleiben. „Was trägt sich durch die Generationen, trotz aller Veränderungen? Was wirkt auf uns ein?“, fragt die Filmemacher*in. 

Copony widmet sich in diesem Werk der kollektiven Familienhistorie und wirft dabei die Frage auf, in welcher Weise sie selbst und all ihre Vorfahr*innen miteinander verknüpft sind. Es kommt zu einer Analyse der eigenen Herkunft und der Frage, wie uns ein Ort prägt, selbst wenn wir an diesem nicht aufwachsen. Durch die besondere Verschmelzung von autobiografischen Elementen und der Reinszenierung am Ort des Geschehens entsteht eine eindrückliche Perspektive auf die eigene Familie und inwiefern wir mit dieser in Verbindung stehen. Copony kehrt in die Kaserne zurück, als einen Ort des kollektiven Erinnerns, der sie und all die Frauen in ihrer Familie miteinander verbindet. Ein möglicher Annäherungsversuch an das eigene Sein, auf der Suche nach Erinnerungen und familiären Verknüpfungen. Die Geschichte der Großmutter, der Mutter, der Schwestern – der Frauen in ihrer Familie – aufzuarbeiten, bedeutet auch, die eigene Herkunft und Identität zu verarbeiten. Sich möglicherweise wiederzufinden, aber auch darin zu verlieren, um sich selbst einen Raum in dieser familiären Verknüpfung zu schaffen. 

Austroschwarz, ein filmisches Geflecht über das Schwarz-Sein in Österreich

Rosa Binar

Austroschwarz bezeichnet sich selbst als ein essayistischer Dokumentarfilm über das Schwarz-Sein in Österreich. Mwita Mataro steht dabei als Protagonist, Buchautor und Regisseur im Mittelpunkt. Zur Seite als ebenfalls Co-Autor und Regisseur steht ihm Helmut Karner. 

Mit einer Mischung aus dokumentarischen-, Tagebuch-/Vlog-, musikalischen-, animierten Comiczeichnungen und Spielfilmelementen sucht Mataro seinen Weg durch das verflochtene Thema Rassismus in Österreich. Jedes Erzählelement führt Diskussionen, Schwierigkeiten und Dilemma an und zeigt neue Aspekte von Rassismus in Österreich auf. 

Ein herausstechendes Erzählelement des Filmes spielt sich in einem Studio-Set ab. In diesem befindet sich eine kleine bunte Welt aus Pappkarton und einige Requisiten. Mit denen sich Mataro und sechs Kinder auseinandersetzen. Mataro beginnt das Spiel, indem er die Kinder um die Hilfe bittet, seine Geschichte weiterzudenken. Als Spielfiguren dienen dafür angemalte Kartoffeln. 

Obwohl das Setting zunächst simple erscheint, ergeben sich einigen Fragen zu seiner Symbolik. Mataro setzt den Startpunkt der Geschichte und lässt die Kinder dadurch ihre Fantasie in einem Rahmen begrenzt freien Lauf. Denn in dem sognannte „Greenland“ sind alle Kartoffeln grün, bis auf eine Familie „die Blues“. Diese passen sich der Gesellschaft an, indem sie sich jeden Morgen grün anmalen. Eines Tages vergisst jedoch „Blue Kid“ diesen Prozess. Daraufhin folgt eine ausgrenzende Erfahrung, die dazu führt, dass „Blue Kid“ das Anmalen hinterfragt und sich auf eine Reise begibt. 

Der Prozess des Anmalens bietet Raum für Diskussionen. Es wird nicht klar, ob das Anmalen wörtlich gemeint ist. Können die Blues also ihre Äußerlichkeiten ändern, um das Andere an ihnen zu verbergen? Ist nicht gerade das eine große Belastung des Alltagsrassismus, die fehlende Möglichkeit, jemals angepasst genug zu sein. Da sich eine Hautfarbe gerade nicht ändern lässt. 

Verbirgt sich in diesem hypothetischen Spiel vielleicht der Wunsch nach der Fähigkeit, selbst bestimmen zu können, wann sich dem alltäglichen Rassismus mit Haut und Haar gestellt und wann dem durch ein Anmalen entgangen werden kann. 

Oder ist ein ganz anderes Anmalen gemeint? Ein kulturelles vielleicht. Das Gefühl, seine eigene kulturelle Prägung nicht nach außen tragen zu dürfen, da sie mit negativen Eigenschaften verbunden wird. 

An dieser Stelle hätte der Film dem Publikum mehr Kontext liefern können. Gleichzeitig ist es denkbar, dass diese Irritation nur bei Zuschauenden entsteht, die selbst keine Rassismuserfahrungen gemacht haben. Der Film scheint hier bestimmte Vorerfahrungen anzusprechen, die mit dem symbolischen Bemalen des eigenen Körpers in Resonanz treten.

Auch wenn die Sequenz teils undeutlich ist, zeigt sie die tragische Genauigkeit, mit der die Kinder Strukturen dieser Welt fassen. Sie stellen heraus, dass die Blues ihre Farbe ändern müssen, um ihnen ihre Macht zunehmen. Sie betonen, dass das Anmalen zur Normalität gehört, während es diese schwierig macht. Die kindliche und doch unverfälschte Sicht lässt den Zuschauer benommen staunen. 

Die Szenen zeigen einen wichtigen Einblick in die Wahrnehmungen von POC-Kindern auf Strukturen und Diskriminierung. Elemente der Kindergeschichten werden zudem in animierten Comic Sequenzen verarbeitet. Diese stellen neben ihrer liebevollen Gestaltung eine Art Verbindung zwischen den Wahrnehmungen der Kinder und Mataro’s Erzählungen dar. 

Ein weiteres führendes Erzählelement des Filmes sind Mataros Tagebucheinträge in Form einzelner Vlogs. Diese sind von einem offenen und ehrlichen Mataro geprägt. Er bespricht mit dem Zuschauer die Dilemmata des Filmes. Wie das Gefühl, als Schwarzer Künstler nicht mehr darüber reden zu wollen, Schwarz zu sein und doch immer wieder das Gefühl zu haben, darüber reden zu müssen. 

Schließlich meldet er sich in Videoform aus einer psychologischen Reha, in der er Abstand zum Thema des Filmes sucht. Doch auch hier wird er mit Alltagsrassismus konfrontiert. Der Film betont immer wieder die Unausweichlichkeit dieser Erfahrungen für POC in Österreich.  

Die Vlogs verdeutlichen Mataro‘s engen persönlichen Bezug zu dem Film und seine Schwierigkeiten, Abstand zu dem Thema zu finden. Der fehlende Abstand ist eine Herausforderung, die Mataro selbst anspricht und die dem Zuschauer ebenfalls in anderen Elementen des Filmes deutlich wird. Denn Mataro ist in jeder Hinsicht eingebunden, so auch in den Expertengesprächen, die immer wieder in den Film integriert werden. In diesen treten verschiedenste Menschen ins Bild, die ihre Expertise über Rassismus teilen. Trotzdem und vielleicht dadurch, dass Mataro die Gespräche führt, entsteht dabei wenig Diskussion. Auch sie sind von Mataro’s Gedanken geprägt. Gleichzeitig zeigt der Film anschaulich die wichtigen Arbeiten von Menschen im Kampf gegen Rassismus in Österreich und bittet ihren Stimmen eine Bühne. Sie bringen verdrängte Themen wie die Geschichte Schwarzer Menschen in Österreich ans Licht, statt sie weiter dem Vergessen zu überlassen.

An eine Dokumentation kann der Anspruch der Objektivität gestellt und beanstanden werden, dass dieser hier nicht gegeben ist. Doch kann Austroschwarz nicht als klassischer Dokumentationsfilm gefasst werden, beinhaltet er doch viele persönliche essayistische Aspekte. 

In dem Erzählelement Vlog wird klar, dass der Film nicht objektiv sein will und es somit nicht muss. Es wird offengelegt, dass es sich hierbei um subjektive Erfahrungen handelt. Gleichzeitig wird mit den Expertengesprächen und Kinderszenen auch eine Verbindung zur Allgemeingültigkeit gesucht. Hier spiegelt sich ein Element von Rassismus Erfahrungen, die einerseits strukturell und allgemeingültig sind und andererseits von vielen individuellen sozio-demografische Aspekten geprägt sind. 

Um nun noch ein drittes Erzählelement von vielen des Filmes zu nennen, soll auf eine Szene mit Spielfilmcharakter eingegangen werden. In dieser steht Mataro auf einer Bühne und spricht emotional von seiner Frustration über die österreichische Gesellschaft und ihren Umgang mit Rassismus. Diese sehr emotionale Szene stellt einen Höhepunkt des Filmes dar. Sie wirkt befreiend und verzweifelt zugleich. All der Frust über den erlebten Rassismus bricht aus ihm heraus. Das sanfte Heranführen an das Thema endet. Die Wut über die Ignoranz vieler wird im Film vielleicht des aufklärerischen Willens wegen zuerst klein gehalten, aber schließlich nicht zurückgehalten. Das Spielfilmelement gibt dafür einen Rahmen, der die verzweifelte Kampfbereitschaft im Auftreten von Mataro auffängt. 

Der Film Austroschwarz erzählt uns Mataro Geschichte in vielen verschiedenen Perspektiven. Diese übernehmen eigene Funktionen und eröffnen neue Blickwinkel auf ein verstricktes Thema. Dem Film gelingt es, viele wichtige Punkte von Rassismus in Österreich zu verdeutlichen und erfahrbar zu machen. Er öffnet einen Raum, der dem Zuschauer zum Weiterdenken anregt. Er legt offen, wie er selbst mit Schwierigkeiten kämpft, das Thema Rassismus in Österreich würdig zu inszenieren. Dadurch wird dem Zuschauer die Angst genommen, eigene Unverständlichkeiten zuzugeben und eine neue Offenheit und Diskurs kann entstehen.  

Was uns bindet – ein Geflecht aus Schmerz und Komik

Alexandra Metzger

„Ehrlich – berührend – brutal“ … mit diesen drei Begriffen beschreibt Ivette Löcker ihren tragikomischen Dokumentarfilm mit den Mitgliedern der Familie Löcker als Protagonistinnen und Protagonisten. Die in Berlin lebende Salzburgerin löst mit der Frage „Was verbindet euch?“ eine regelrechte Lawine an Gefühlen bei ihrer Familie aus. Mutter und Vater leben getrennt, aber doch zusammen. Sie teilen sich ein Haus im Lungau, Salzburg, was laut Ivettes Mutter einer der beiden ausschlaggebenden Teile der Verbindung zwischen ihr und ihrem Ehe-Gatten ist. Der zweite Aspekt sind die Kinder. Das „Paar“ hat miteinander drei Kinder Ivette, Simone und Marlies. Außerdem teilen sie sich einen Hund „Daisy“, wobei dieser wohl größere Überlebenschancen bei Ivettes Mutter hat – zumindest ihr zufolge. Sie leben seit 18 Jahren in einer unabhängigen Abhängigkeit voneinander, wobei Frau Löcker ihren Ex-Partner bemuttert und Herr Löcker seine Ex-Partnerin auf Trab hält. Ivettes Mutter spricht davon, nie allein zu sein, im Guten, wie im schlechten Sinn. Ob es die Angst ist allein zu sein oder emotionale Abhängigkeit ist, dass die beiden davon abhält sich voneinander scheiden zu lassen, sei dahingestellt.

Für den Großteil der Zuschauenden ist diese Familie ein Wrack, andere sehen die eigenen Eltern auf der Leinwand. Der Film regt dazu an, eine Reflexion der eigenen Familie vorzunehmen und Gemeinsamkeit, sowie Unterschiede zu Familie Löcker zu erkennen. Die Regisseurin selbst empfindet das Zusammenleben ihrer Eltern als außergewöhnlich und als ein „komisches Arrangement“. Im Gespräch bei der Diagonale 2025 bestätigt sie das, indem sie einräumt, nicht von der Reichweite solcher Familienkonstellationen geahnt zu haben. Der Baumeister bringt die Geschichte der Eltern Löcker auf den Punkt: „Das Halbherzige ist das Schlimmste überhaupt … eine halbherzige Partnerschaft ist nichts …“ Werner und seine Frau haben sich auf ein Arrangement geeinigt, woran sie halbherzig Anteil nehmen. Mit dieser Lebensweise ist es offensichtlich nicht einfach, sich glücklich schätzen zu können. Beide sind dazu verdammt miteinander in einer Hass-Liebe zu bestehen. Diese Verbindung spiegelt sich im Hase-Hund-Motiv wider, das sich im Laufe des Films immer wieder aufrollt. Der Hase repräsentiert die Mutter der drei Schwestern und der Hund den Vater. Die Inszenierung der. Tiere, mit dem Hasen als Gejagter und dem Hund als Jäger, stellt die Konstellation zwischen Herrn und Frau Löcker dar. Mit einem Jump-Scare zeigt Ivette Löcker dem Publikum eine Szene, worin Daisy (der Hund der Löckers) beinahe einen Hasen erwischt, mit dem Gedanken an die Folgen, die kurz zuvor von ihrer Mutter berichtet wurden. In Minute 1:29:48 der Dokumentation ruht die Kamera auf einem seltenen Bild: Hund und Hase sind eingesperrt in Hasenkäfigen.

„Der Film soll anfangen wie Blue Velvet, das war von Beginn an klar.“ Darüber ist sich das Filmteam einig. Verschiedene Aufnahmen des Hauses und Gartens aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Löcker-Mama wässert ihren Garten und kurze Einstellungen des Alltags der Eltern werden gezeigt. Darauffolgend setzt das Gespräch zwischen Kamera und Eltern der drei Schwestern, die in gemeinsamer Verlegenheit und Unbehagen nebeneinander der Kamera gegenübersitzen, an. Ivette stellt als Figur aus dem Off verschiedene Fragen, die von beiden zu beantworten sind. In den ersten Minuten der Dokumentation über Familie Löcker werden die charakterlichen Eigenschaften von Mutter und Vater dem Publikum am Silber-Tablet serviert. Eine einfühlsame und zurückhaltende „Schwammerlsucherin“ trifft auf einen impulsiven und unverblümten „Realisten“. Auf die Frage, warum sich die beiden nie scheiden lassen haben, finden sie in der Gewöhnung aneinander und der gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Antwort.

Der Titel des Dokumentarfilms Was uns bindet ist nicht nur auf die elterliche Beziehung bezogen, sondern auch auf das frisch vererbte Bauernhaus, das die beiden Schwester Ivette und Simone an deren Kindheitsort zurückführt und daran wohl binden soll. Mit sich selbst in der Doppelrolle als Schauspielerin und Regisseurin, gibt sie nicht nur Einblicke in das Leben ihrer Familienmitglieder, sondern auch in das eigene. Die Beziehung zu ihrer Familie ist schwierig. Eine gewisse Szene im Film bestätigt diese Annahme: über Skype telefoniert sie mit ihrer Schwester Marlies und erzählt dieser unter Tränen von den Worten ihres Vaters. Er ist seit langer Zeit offen für eine neue romantische Beziehung und ist wohl unter anderem der Kinder zu Liebe bei deren Mutter geblieben. Ihrer jüngsten Schwester entlockt sie, dass deren Verbindung zu den Eltern mit Kind schwieriger geworden ist, aber für sich selbst war die Trennung der Eltern kein Leichtes. Nach vielen Streitgesprächen zwischen Herrn und Frau Löcker zieht die jüngste Schwester Marlies in den Keller, um dieser Zerrissenheit zu entkommen. „Manchmal muss man lachen, um nicht zu weinen.“ Die Mutter der drei Schwestern lebt wohl nach diesem Motto, vor allem, wenn sie Zeit mit Werner (Vater von Ivette, Simone und Marlies) verbringt. Ihr belächelndes Verhalten ihm gegenüber erinnert an den Versuch ihrem Gatten humoristisch entgegenzuwirken.

Die Entstehung des Projektes Was uns bindet (2017) fußt auf der Zustimmung und Teilnahme der Familie Löcker mit all ihren Mitgliedern. Ivette Löcker beschreibt im Gespräch bei der Diagonale 2025 die Reaktionen der einzelnen Angehörigen. Der Zustimmungswille passierte in Abstufungen, die mit dem extrovertierten Vater Werner Löcker beginnt. Laut Ivette war er sofort dabei, wohingegen ihre Mutter ihrer Überredenskünste unterworfen werden musste. Bei den beiden Schwestern spielte sich das Gespräch wohl ähnlich ab, da die mittlere der drei, Simone, das Projekt „nicht in Frage gestellt hat“. Wohingegen die jüngste Schwester Marlies nur einverstanden war, wenn sie über Skype teilhaben konnte. Letztendlich stand dem Dreh des Films nichts mehr im Weg. Der Kameramann, Frank Amann, folgte der Familie durch den Alltag, ob im salzburgischen Lungau oder dem Kindheitsort der Mutter in Slowenien namens Markovci, am Berg oder im Tal, die Kamera war immer dabei. Durch diese begleitende Rolle war es dem Team möglich unter anderem landschaftliche Aufnahmen zu ergattern, die immer wieder als Rahmenhandlungen zwischen Dialoge montiert wurden. Mittels Groß- und Nahaufnahmen wird der dokumentarische Charakter des Films deutlich und die Nähe zu den Charakteren reduziert. Essayistische Elemente im Film: subjektive Reflexion ihrer Familienmitglieder und des eigenen Erbes, sowie die Konfrontation mit der Vergangenheit. Löcker stellt hauptsächlich ihren Eltern philosophische Fragen und reflektiert dabei auf deren Sicht. Des Weiteren bringt der dokumentarische Filmstil eine gewisse Authentizität hervor, die durch die Charaktereigenschaften und intimen familiären Beziehungen untereinander schöpfen. Alle Emotionen der psychischen Weite werden vor laufender Kamera gezeigt. Nichts bleibt im Verborgenen. Löcker verwendet poetische Bilder und eine offene narrative Struktur, um die Komplexität ihrer Familiengeschichte zu erfassen. Dies ermöglicht dem Zuschauer, eigene Interpretationen zu entwickeln.