Andrea Szabo
Ruth Beckermanns Favoriteni hat für begeisterte Gesichter bei der Eröffnung der Diagonale am 04.04.2024 gesorgt. Vielleicht zu begeistert? Die Dokumentation über die herzigen Grundschulkinder der größten Volksschule Wiens im zehnten Bezirk scheint zunächst ein leichtes Thema. Beckermann öffnet den Zuschauer*innen zwar nur eine Tür zum Klassenzimmer, auf den zweiten Blick jedoch eine Tür in eine ganz andere Welt, die so nah und doch so weit entfernt von uns liegt. Nämlich in der „lebenswertesten“ Stadt der Weltii – Wien. Und genau deshalb ist es so befremdlich eine so andere Seite der eigenen Stadt kennenzulernen. Ein Ort, an dem vermeintlich nicht nach den Spielregeln gespielt werden muss. Eine Schule, an der Bildung an zweiter Stelle steht.
Regisseurin Ruth Beckermann versucht in ihrer Dokumentation die Krise des österreichischen Bildungssystems und die Schwierigkeiten der migrierten Kinder, die kaum Deutsch sprechen, aufzudecken. Indem sich Beckermann phantomhaft hinter die Kamera zurückzieht, lässt sie den Alltag der Kinder für sich selbst sprechen. Hoffentlich muss das im Nachhinein auch keiner der Angehörigen bereuen…
Ruth Beckermann und ihr Kameramann Johannes Hammel begleiten die Kinder einer Grundschulklasse über einen Zeitraum von drei Jahren, und dennoch scheint lediglich die Oberfläche eines komplexen Problems berührt worden zu sein: einem bedauerlich schlechten Lehrplan und einer unsicheren Lehrerin gegenüberstehend die Tränen der Kinder in Close-ups. Ist das genug für eine Dokumentation? Ja und Nein. – Die Qualität der geäußerten Inhalte wurden stets vom Kamerateam beeinflusst. Vor allem aber, weil es Kinder schwer haben, sich vor der Kamera zu präsentieren. Die Aufnahmen scheinen überwiegend realitätsgetreu, doch merkt man schnell, dass die Kinder durch die Kamera auch verunsichert wirkten, vielleicht sogar unter Druck standen. Es wäre wichtig gewesen zu wissen, wie häufig das Kamerateam da war. Jeden einzelnen Schultag? Einmal die Woche? Oder nur einmal im Monat? Haben es bewusst nur polarisierende Szenen in den Schnitt geschafft? Umso essenzieller für die Glaubwürdigkeit der Aufnahmen wäre gewesen herauszufinden, wie sehr sich die Kinder dem Team fremd gefühlt haben. Beckermanns Dokumentation hat es trotz dieser Mängel geschafft, dem Publikum einen ganz persönlichen und hautnahen Zugang zu der Welt dieser Kinder zu verschaffen. Durch ihren Stil, sich selbst und die Kamera so gut es geht aus dem Vordergrund
zu halten, fühlte sich der Alltag echt und roh an. Auch, wenn nur wenig gezeigt wurde. Schließlich beschränkt sich unser Blick eigentlich nur auf das Klassenzimmer. Trotzdem bekommt man durch die Kamera das Gefühl, mit den Kindern zu spielen, zu lernen und zu leben. Camouflage-artig nimmt uns die Handkamera auf Augenhöhe mit durch den Alltag der Schüler*innen. Aber was bedeutet es, Kinder sprechen zu lassen?
Die Kinder des Favoriten sprechen für alle, die von ihrer Realität betroffen sind. Sie sprechen für die, die es schwer haben, sich in einer neuen Kultur zu etablieren. Sie sprechen für die, die vom österreichischen Bildungsstandard ausgegrenzt werden. Sie sprechen für die Lehrkräfte, Eltern und schließlich für sich selbst. Somit ist Beckermanns Dokumentarstil in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Stimme das Unkonventionelle sprechen lässt, bemerkenswert.
Aber es wäre falsch, sich von ihrer unschuldigen Kunst blenden zu lassen. Als Zeug*innen ihres Werks muss realisiert werden, dass die Videobeiträge für die Kinder nichts anderes als ein Spiel gewesen sind. Nur leider kommt dieses Spiel mit der Folge der öffentlichen Darbietung. Klar ist es wichtig und richtig, Klarheit über die alltägliche Realität der Kinder zu schaffen, deren Privileg es nicht ist, fließend Lesen und Schreiben zu lernen, mit der Hoffnung, ihnen eines Tages eine bessere integrierte Zukunft zu schenken. Die Geschichte und Realität der Kinder des Favoriten aus hautnahen Quellen zu hören, wäre ein Privileg. Da sich das die Betroffenen wie so oft nicht leisten können, bleibt dies weiterhin eine Wunschvorstellung, die in den privilegierten Händen Beckermanns ruhen darf. Wie würden Dokumentationen aussehen, wenn sie nicht von privilegierten Stimmen, sondern stattdessen von Betroffenen direkt geschaffen werden? Vielleicht sind genau diese Machtstrukturen analysebedürftiger denn je. Doch eins muss man der Dokumentation lassen: Wir sehen endlich die Schwächen und Sorgen der Schüler*innen und Wegschauen bleibt keine Option mehr. Doch Kinder so vorzuführen und sich dafür Preise einzusammeln kann genauso moralisch fragwürdig eingestuft werden, auch, wenn die Absicht Beckermanns eine andere war.
Ist es in Ordnung, Kinder nach ihrer Positionierung zum Ukrainekrieg zu befragen? Kinder so früh in die Politik miteinzubeziehen ist gar nicht so verkehrt. Es ist großartig zu sehen, dass die Lehrkraft versucht, den Kindern zu vermitteln, dass sie auch ein Stimmrecht haben und selbst Stellung beziehen müssen in unserer Welt. Noch schöner ist es, den Kindern dabei zuschauen zu dürfen, wie sie dazu angeregt werden, über Gleichberechtigung und hegemoniale Machtstrukturen zu reflektieren und sie zu durchbrechen. Es ist interessant zu beobachten, wie dabei Erlerntes aus der eigenen Kultur und Erziehung mit den Werten und Normen der
österreichischen Kultur kollidiert. Dabei wird dem Publikum die eigene Schulzeit ins Gedächtnis gerufen. Während die Frage danach, ob „Frauen Bikinis tragen dürften“ früher nicht im Bildungsraum diskutiert wurde, steht diese und noch ähnliche Fragen heute immer häufiger im Vordergrund. Ob die Lehrkraft dafür überhaupt ausgebildet ist, ist fraglich. Aber wenn sie tagtäglich mit kritischen Inhalten konfrontiert wird, bleibt einem keine andere Wahl (solange kein entsprechendes Schulfach etabliert wird), als die Schüler*innen selbstständig aufzuklären. Eine zentrale Frage, die sich in Beckermanns Dokumentation erkennen lässt: Bis wohin reicht die Verantwortung des Schulsystems? Die Fragen häufen sich und es ist klar, dass die Dokumentation genau das bewirken wollte.
Beckermann scheint auf den ersten Blick einen ausgewogenen Einblick in das Leben der Schüler*innen und der Lehrerin zu bieten. Doch eigentlich liegt das Hauptaugenmerk hauptsächlich auf den Kindern, die ständig neuen Herausforderungen ausgeliefert sind. Dass sich die Lehrkraft mit dem Lehren schwertut, ist schon ein Statement über das Bildungssystem selbst. Doch wäre es schön gewesen, auch ihre Perspektive anhand von ausführlichen Interviews zu Gesicht zu bekommen. Die Dokumentation schenkt uns zwar einen allgemeinen Überblick darüber, wie es an allen Ecken brennt, doch wäre es genau deshalb umso wichtiger gewesen, mehr Fragen zu stellen. Aber vielleicht ist es genau dieser künstlerische Stil Beckermanns, der es zulässt, sich die Frage zu stellen, wo man denn überhaupt als Stadt anfangen sollte. Fragen zu stellen, die ohne die Aufnahmen vielleicht nie aufgekommen wären. Ein Lösungsansatz wird nicht geboten. Ob das in einer Dokumentation notwendig ist? Nein, auf gar keinen Fall. Vor allem, wenn sich die Fragen erst im Verlaufe des Dokumentierten entfalten, auf die es noch keine Antwort gibt.
Diese Szene kennen wir alle: Die Klasse soll sich heute besonders gut benehmen und fleißig mitarbeiten, da der/die Lehrer*in in der heutigen Stunde von der Schulleitung einer Lehrprobe unterzogen wird. Das hat den Effekt, dass die Schüler*innen unter der Aufsicht der Schulleitung und der Bitte der zu prüfenden Lehrkraft, Leistungen erbringen, die außerhalb dieser Umstände eine untypische und ja, vielleicht sogar verzerrte Reflexion der Schüler*innen ist. Könnte ein Kamerateam denn nicht auch eine ähnliche Wirkung gehabt haben?
Es ist fragwürdig, Kinder so verletzlich zu zeigen und ihnen so nahe zu treten. Hatten sie denn überhaupt die Chance, sie selbst zu sein? Dass Kinder im Netz tabu sein sollten, ist doch kaum zu debattieren. Zwischen sieben und zehn Jahren kann man nicht behaupten, reif und
selbstständig genug zu sein, um bewusste Entscheidungen treffen zu können. Und genauso, wie es kritisch ist es, seine Kinder für Inhalte auf YouTube, Instagram und Facebook zu posten, sollte genauso darauf aufmerksam gemacht und reflektiert werden, weshalb Kinder für diese Dokumentation aufgenommen werden mussten. Es ist klar und deutlich, worauf Beckermann aufmerksam machen will – auf die Probleme der Integration migrierter Familien und Kinder; auf die mangelnden Beihilfen der Schulsysteme, diese Kinder auszubilden; und auf den schlechten Lehrplan und die mangelnden Lehrkräfte. – Doch ein Aspekt scheint bei Beckermanns Doku unterzugehen und gleichzeitig eine unausweichliche Konsequenz zu sein: Denn es ist bösartig, Familien, die kaum deutsch sprechen, einen Vertrag vorzuhalten, um ihre Kinder drei Jahre lang dokumentieren zu dürfen und ihre Bildung zu beeinflussen. Und das alles nur, um die Eltern im Kinosessel versinken zu lassen, weil sie bemerken, dass die kritischen Aussagen ihrer Kinder für immer im Netz bleiben. Das Konzept, dieser Realität so nahe treten zu wollen, ist leicht gedacht ein unfassbarer Eindruck. Vielleicht hätte eine Dokumentation mit Voiceovers keinen so starken Eindruck hinterlassen. Schade nur um die Aussagen der Kinder. Denn diese werden mit wenig Pech ihr weiteres Leben bestimmen, während Beckermann auf dem nächsten Filmfestival absahnt.
i Favoriten, R.: Ruth Beckermann, AT 2024.
ii Stadt Wien, „Lebensqualität – Wien ist und bleibt Nummer eins”, Wien-gv.at, https://www.wien.gv.at/politik/international/vergleich/mercerstudie.html#:~:text=2023%20wurde%20Wien%20 erneut%20von,(Neuseeland)%20auf%20Platz%203, 21. 06. 2024.