von Johanna Berger
Schule, vor allem Volksschule ist in Österreich ein System, das fast jede*r am eigenen Leib erfahren und im Erwachsenenleben immer weiter vergessen hat. Oft bleiben nur die persönlichen Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit zurück. Schule, in der Erinnerung eines Erwachsenen, ist ein festgefahrenes, statisches System und wenn man nicht mehr selbst darin festhängt, wieso bedarf es dann einer Veränderung?Genau an diese Stelle tritt Beckermanns „Favoriten“ und bricht mit den einseitigen Verbildlichungen des Schulsystems á la „American Highschool“. Strukturen, die außenstehenden Betrachter*innen sonst verdeckt bleiben werden offen gelegt und aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Schule, für Menschen außerhalb des Systems neu, für Schul-, Lehr- und Bildungspersonal leider nicht.
Es klingelt, und aus Lautsprechern strömt laut eine Neuadaption von „Head, Shoulders, Knees and Toes“. Die Kinder der 2. Klasse der größten Volksschule im 10. Wiener Bezirk tanzen zusammen mit ihrer Lehrerin Frau Idiskut im Klassenzimmer. Die Sessel sind zurückgerückt, Hände zucken durch die Luft, die Kindergesichter sind konzentriert, der Raum gefüllt mit Kinderlachen und die Kamera ist mittendrin.
Drei Jahre lang begleitet Ruth Beckermann gemeinsam mit einem Kamerateam die Klasse durch den Schulalltag. Scheinbar gewohnt an die ständigen Beobachter, gehen die Kinder ihren täglichen Aufgaben nach. Die Kamera findet sich so gut in das schulische Geschehen ein, dass man als Betrachter*in fast den Eindruck bekommt man könnte den Kinder beim Denken zusehen. Grund dafür ist der gewählte Ausschnitt der Kamera. Das Bild ist meist eng, es gibt kaum Platz um die Gesichter der Kinder herum. Spielerisch scheint Ruth Beckermann dadurch auf „die eigene Welt“ anzuspielen, in der sich die Volkschüler*innen befinden.
Dennoch sind die Kinder alles andere als verschlossen. Nach dem Motto „das ist meine Welt, komm ich zeig sie dir!“ bringen sich die Schüler*innen im Laufe der Dokumentation mehr und mehr in das filmische Geschehen ein. Selbst führen sie Interviews und drehen kleine Alltagvideos am Handy, welche im Kinosaal für Erheiterung des Publikums sorgen. Im Umfeld der Kinder ist die Kamera wie ein alter Vertrauter positioniert, außenstehend aber gebilligt gewährt sie den Zuschauenden einen Einblick in die Gefühls- und Lebenswelt der Schüler*innen, die einem Erwachsenen meist verwehrt bleiben. Auch der Lehrkörper bleibt vom Blick der Kamera nicht verschont. Mit Frau Idiskut erweitert die Kamera den Blick von der „Kinderwelt“ hin zur „Erwachsenenwelt“ und legt so die Strukturen der Wiener Volksschule offen. Das Bild um den Lehrkörper bei der Konferenz herum wirkt weiter, die Schule muss sich einer größeren Struktur unterordnen. Gesprochen wird vor allem von Lehrkraftmangel, unzureichenden Förderungen, zu wenig Material: Von fast allem fehlt etwas und das macht sich im Laufe von Ruth Beckermanns Film bemerkbar.
Die Schüler*innen Frau Idiskuts Klasse sind Kinder mit Migrationshintergrund, vielleicht bereits der dritten Generation. Alle lernen sie Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache während sie versuchen, zwei Welten unter einen Hut zu bringen. Gespräche über die Welt und Politik führen den Zusehenden die Bezugspunkte, welche die Schüler*innen haben, klar vor Augen. „Aber was ist mit Syrien? Immer nur geht es um die Ukraine“ sagt ein Schüler, als die Klasse Geschehnisse und Nachrichten bespricht. Sowohl Österreich als auch das Land der Familie wird als Heimat betrachtet und in der Schule zum Ausdruck gebracht. Dabei versucht Frau Idiskut beides so gut wie möglich zu fördern, um den Kindern das Gefühl von Zugehörigkeit weiter zu vermitteln: „Stimmt“, sagt sie, „Syrien darf man nicht vergessen, was passiert denn in Syrien grade?“.
Wo es geht, versucht die Lehrerin ihre Kinder zu fördern und stößt dabei immer wieder an Grenzen. Material sowie Lehrkräfte sind zu wenig vorhanden, um 25 Kinder ausreichend und individuell fördern zu können. Immerhin stehen Klassen wie die von Frau Idiskut leider nicht im Fokus der österreichischen Bildungspolitik.
Vor allem im vierten und letzten Volksschuljahr der Kinder, wird der Druck unter dem sowohl Lehrerin als auch Schüler*innen stehen nochmals hervorgehoben. Die Kamera macht noch einen weiteren Schritt auf die Kinder zu, spricht nun mit ihnen, bringt sich in das Klassenzimmergeschehen mit ein. Vor allem bei der (Deutsch-)Schularbeitsrückgabe fallen Tränen, das Ziel eines österreichischen Gymnasiums, verbunden mit Status, rückt in die Ferne.
Tränen fallen auch auf Seiten der Lehrkraft als diese verkündet keinen Ersatz für den Zeitraum ihres Mutterschutzes gefunden zu haben, die Ressourcen sind für die Klasse einfach zu begrenzt.
„Favoriten“ ist eine Dokumentation die durch das Storytelling nicht nur einen einzigartigen Blick auf das Schulleben und die Gefühlswelt der Kinder preisgibt, sondern auch die Strukturen und Probleme des österreichischen Schulsystems freilegt. Während Zusehende sich an dem neu gewonnen Blickwinkel und den unverfälschten Reaktionen der Kinder erheitern, wird klar, das Lehrpersonal der größten Volksschule in Wien hat schon länger mit Mängeln an allen Ecken und Enden zu kämpfen. Ruth Beckermanns Film schafft es, durch gelungene Kameraführung und Schnitt eine Verbindung zwischen dem privaten und dem schulischen Umfeld der Kinder herzustellen und so den Spaß aber auch den Druck unter dem die Schüler*innen als auch die Lehrer*innen stehen zu verdeutlichen.
Die Dokumentation zeigt also wirklich etwas Neues: Schule als System und Gemeinschaft, Schule aus einer Perspektive, die sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte berücksichtigt und sonst verdeckte Strukturen freilegt.