The Many Ways to Avert One’s Eyes

Vincent Moeller

In ihrem Essayfilm The Many Ways to Avert One‘s Eyes begibt sich die Filmemacherin Eszter Katalin auf eine kriminologische Spurensuche. Das Verbrechen: ein gescheitertes Interview mit ihrer Großmutter. Der Versuch einer verletzten Person durch den unerbittlichen Blick der Kamera weitere Schmerzen zuzufügen. Und eine Akte unzähliger filmischer Übergriffe, die sich durch die Geschichte des Mediums ziehen, vor allem männlicher, privilegierter Regisseure, die aus ihrer Machtposition heraus die Körper marginalisierter Personen nach Belieben ausstellen. Es sind drei zentrale Spuren, denen Katalin in ihrem Film folgt: Erstens das Interview mit ihrer Großmutter, ihre Erzählungen über die Arbeit in der Fabrik. Zweitens: Die Nachstellung, das Reenactment von Filmszenen, wobei Katalin einen weiten Bogen von Louis Feuillades Les vampires (FR 1915) bis Claire Denis Beau Travail (FR/IT/RU 2000) schlägt. Und drittens: Die minutiös abgefilmten Schritte der Analogfilmentwicklung des mit einer Super 8-Kamera aufgenommenen Filmmaterials. Durch die Mehrsprachigkeit, den autobiografischen Bezug und die Selbstinszenierung Katalins in den Filmzitaten gewinnt der Film eine persönliche Tiefe und erreicht eine genuin essayistische Qualität. Bemerkenswert ist auch Katalins Montagetechnik: Mal werden auditive Ausschnitte aus dem Interview mit ihrer Großmutter über Filmbilder des Belichtungsvorgangs bei der Analogfilmentwicklung gelegt, an anderer Stelle stehen Aufnahmen einer ungarischen Dorflandschaft Seite and Seite mit nachgestellten Szenen aus Godards Le petit soldat (FR 1963). Dennoch zieht sich ein roter Faden durch den Film: Überall werden Spuren der Gewalt sichtbar, nicht körperlicher, sondern struktureller Gewalt. Und immer wieder tritt das Motiv des Abwendens oder Öffnens des Blicks in den Vordergrund.

Selbstinzenierung vor der Kamera als subversive Methode [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_5.large.jpg]

Im Jahr 2016 drehte die Filmemacherin Eszter Katalin ein Interview mit ihrer Großmutter. Diese hat von 1951 bis 1962 in einer Fabrik gearbeitet, in der Bauteile, die teils in der Waffenfabrikation zum Einsatz kamen, mit Nickel beschichtet wurden — eine Arbeit bei der ihre Hände irreparabel beschädigt wurden. Im Rahmen des Interviews wollte Katalin die Kamera ausschließlich auf die Hände ihrer Großmutter richten und somit den Fokus auf die Verletzungen lenken. Diese versteckte ihre Hände aber sofort unter dem Tisch, sodass Katalin ihr filmisches Vorhaben nicht umsetzen konnte. Es entstand ein Interview, in dem Katalins Großmutter von ihren Jahren in der Fabrik berichtet, ihre Hände sind dabei allerdings nur für wenige Sekunden sichtbar. Das Ereignis stellte Katalin vor grundlegende Fragen in Bezug auf Blickpolitiken und das Verhältnis von Kamera, filmender und gefilmter Person: Inwiefern hatte sie ihrer Großmutter ein Form der Repräsentation aufzwingen wollen, die diese selbst ablehnte? Kann der Zwang, den die Filmkamera auf die gefilmte Person ausübt, als gewaltsamer Übergriff verstanden werden? Die Kamera als Waffe? Und welche Möglichkeiten gibt es, das Medium Film ohne Übergriff, ohne Zwang zu nutzen? Das Interview mit der Großmutter bildet zum einen das initiale Ereignis filmischer Gewalt, das die Untersuchung auslöst. Zum anderen offenbaren ihre Schilderungen zur Fabrikarbeit im Verlauf des Films erstaunliche Parallelen zu Aspekten der Filmproduktion. Eines der zentralen Werke, auf das Katalin in ihren Filmzitaten Bezug nimmt, ist Harun Farockis Essayfilm Nicht löschbares Feuer. Farocki reflektiert darin über die Darstellbarkeit von Gewalt im Film, konkret über den Einsatz von Napalm durch die US-Armee im Vietnamkrieg und über die Grenzen der filmischen Darstellung dieser Grauen. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht etwa das Zeigen der durch Napalm verursachten Verletzungen eine nachhaltige Wirkung auf das Publikum entfaltet, sondern vielmehr die Offenlegung des Produktionsprozesses von Napalm. Dieser gleiche einer Black Box: Selbst die beteiligten Wissenschaftler*innen wüssten aufgrund der weit fortgeschrittenen Fragmentierung des Prozesses oft nicht mehr, wozu die einzelnen Teilprodukte eigentlich dienen. In ganz ähnlicher Weise beschreibt auch Katalins Großmutter ihre Rolle bei der Herstellung von Waffenteilen. Und auch der Film selbst gleicht in seiner industriellen Warenförmigkeit und seinem Black-Box-Charakter einem Produkt, dessen innere Funktionsweise sich nur schwer durchdringen lässt. Phasen von Verdunkelung und Enthüllung konstituieren die analoge Filmproduktion. Freilegen und Verdecken, Hinsehen und Wegsehen, Abwenden und Öffnen des Blicks entwickelt Katalin zu zentralen Denkfiguren.

Katalin folgert: Wenn also die durch den Einsatz von Napalm verursachten Schrecken nur durch die Darstellung des Produktionsprozesses von Napalm aufgezeigt werden können, kann auch die dem Film eingeschriebene Gewalt durch eine Abbildung des Produktionsprozesses sichtbar gemacht werden. In der zweiten filmischen Ebene folgen wir Katalin bei der Entwicklung eines mit einer Super 8-Kamera aufgenommenen Analogfilms. Vom Prozess des Filmdrehs über die Zweitbelichtung der Filmbilder bis hin zur abschließenden Projektion wird der gesamte Prozess offengelegt, zumindest soweit dies möglich ist. Auch hier begegnet uns das Motiv des Enthüllens und Verdeckens: Die chemische Behandlung des Filmstreifens geschieht in völliger Dunkelheit. Ein treffendes Bild für jene unsichtbaren Kräfte, die an der Entstehung eines Films beteiligt sind. Gewalt scheint sich irgendwo im Produktionsprozess einzuschreiben. Beispiele lassen sich dafür viele finden, etwa struktureller Sexismus, der sich schon bei der Stoffentwicklung, im Casting, beim Dreh und im Schnitt manifestieren kann. Bemerkenswert ist Katalins Betonung der Materialität von Film: Dieser wird nicht nur durch gesellschaftliche Verhältnisse korrumpiert, sondern trägt die Gewalt bereits in seiner physischen Beschaffenheit, in der Art, wie Bilder sich in das Filmmaterial einbrennen, wie Chemikalien es angreifen. Film „verführe“ aufgrund seiner essenziellen Beschaffenheit zur Gewalt.

Analogfilmproduktion als undurchsichtiger Vorgang [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_2.large.jpg]

Daraus ergibt sich die Frage: Wie lässt sich mit einem korrumpierten Medium arbeiten, wie Protest formulieren, mit und gegen das Medium Film? Dieser Frage widmet sich Katalin unter anderem in der dritten Ebene ihres Films, in der sie Filmszenen aus 100 Jahren Filmgeschichte nachstellt. Sie filmt sich zum Beispiel wie Harun Farocki in Nicht löschbares Feuer an einem Tisch sitzend und ein Skript lesend oder wie Michel Subor in Le petit soldat, wie er vor dem Spiegel die Augen mit der Hand verdeckt. Während das Filmzitat ein geläufiges ästhetisches Mittel auch im Mainstream-Film ist, kommt das gezielte Reenactment von Szenen deutlich seltene vor. Verbreiteter hingegen ist es in der Performancekunst und damit ein zentraler Gegenstand der Theaterwissenschaft. Erika Fischer-Lichte beschreibt Reenactments in ihrem Aufsatz Die Wiederholung als Ereignis als Performances, die „ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit herstellen und damit zugleich ein je besonderes Verständnis von Geschichte implizieren“. Dies lässt sich auf Katalins filmische Reenactments übertragen, denn sie stellen einerseits durch Wiederholung einen Bezug zur Vergangenheit her, vermitteln zugleich aber auch eine bestimmte Vorstellung von Geschichte, in diesem Fall von Filmgeschichte als einer Geschichte von Gewalt. Das Nachspielen wird so zu einem empathischen Akt, trägt aber auch ein subversives Potenzial in sich. Die Neukontextualisierung und Bedeutungsverschiebung der Filmszenen eröffnet Möglichkeiten der Kritik, deren Tragweite Katalins Film nur andeuten kann.

Öffnen und Schließen des Blicks in der Nachstellung einer Szene aus Godards Le Petit Soldat [https://www.sixpackfilm.com/media/images/werke/EszterKatalin_TheManyWaystoAvertOnesEyes_Courtesysixpackfilm_1.large.jpg]

Wo also führt Katalins Spurensuche letztlich hin? Siegfried Kracauer bezeichnet Film in seinem Werk Theorie des Films als „Athenes blanke[n] Schild“. Nur auf der Filmleinwand, so Kracauer, könne man die Reflexionen realer Ereignisse abbilden, die uns im echten Leben „versteinern“ lassen würden. Dieser Feststellung muss man, Katalins Argumentation folgend, wohl widersprechen, denn Kracauer unterschlägt, die aggressive, übergriffige Natur des Films. Häufig schützt Film eben nicht, sondern enthüllt, stellt bloß und verletzt. Zutreffend erscheint Kracauers Denkfigur des Schildes hingegen, rufen wir uns den von Katalin angeführten Aspekt der „Verführung zur Gewalt“ in Erinnerung. Der Schild mag zwar als Defensivmechanismus konzipiert sein, er fordert aber auch eben jene Gewalt heraus, die er bekämpfen möchte. Ohne Gewalt verliert der Schild seine Funktion. Ob es sich beim Film ganz ähnlich verhält, ob Film eben nur durch die Enthüllung, die Grenzüberschreitung funktioniert, ist eine Frage, auf die Katalin zumindest zwei Antworten bereithält: Einerseits kann ein subversiver Ansatz darin liegen, die Prozesse der Filmproduktion sichtbar zu machen, andererseits ist das Reenactment eine aus der Performance-Kunst entlehnte Methode, die die Wiederaneignung und Neukontextualisierung filmischen Materials möglich macht. Katalin stellt in ihrem Film eine beeindruckende Synthese aus Theorie und Praxis her und findet eine filmische Form, die sich selbst und ihre eigene Medialität ständig hinterfragt und auf den Prüfstand stellt.