Joris Coerdt
Die 74. Berlinale 2024 droht retrospektiv überschattet zu werden von den Reden am Abend ihres vorletzten Tages. Die Gewinner von Nebenpreisen wurden plötzlich zum Politikum, viel mehr noch als der eigentliche Gewinnerfilm. Dabei war von dem Eklat auf dem Festival selbst kaum etwas zu bemerken. Müde murmelte man in den Schlangen vor dem Einlass über verpasste Wettbewerbsbeiträge, zuckte wohlwollend die Achseln über den Goldenen Bären für eine weitere Dokumentation, plante schon, welche Filme nachzuholen wären, die parallel zum Festival regulär im Kino liefen. Vielleicht war es die Trägheit nach zehn Tagen Festivaltrubel, vielleicht der Elfenbeinturm der Cineasten, aber eine tatsächliche Aufregung bezüglich der Israel-Palästina-Kontroverse in den Preisreden musste man am Abend selbst sowie am darauf folgenden Publikumstag in den Kinosälen schon suchen. Kam man jedoch Heim, so war die erste Frage nicht nach den Lieblingsfilmen, nach Star-Selfies oder Merchandisemitbringseln. Das Interesse brannte darauf, wie man selbst den Skandal erlebt habe. Die Antwort: Nicht anders als der Rest. Man las in den Nachrichten davon, so als wäre man nie vor Ort gewesen.
Dabei ist die Berlinale offensichtlich ein politisches Festival, viel mehr als Cannes oder Venedig. Das blieb auch nicht im Festivalalltag ausgeblendet. Auf dem Weg aus der Presse-Vorführung tuschelte man an jeder Ecke über den Tod Nawalnys, jedes zweite Q&A schwenkte den Scheinwerfer erst auf die Ukraine, dann in den Gaza-Streifen und die iranischen Filmschaffende vom Wettbewerbsbeitrag My Favourite Cake fehlten auffällig. Überhaupt bewies Carlo Chatrians letzte Programmauswahl für das Festival ein spürbares politisches Rückgrat. Egal ob Wettbewerb oder Nebenreihe, überall zogen sich die Themen Solidarität und Zivilcourage durch die Festivalfilme – inwieweit das ebenfalls auffällige Nebenthema Tod, Sterben und Trauer in Korrelation dazu steht, sei jedem zur Beurteilung selbst überlassen. Wie leben wir zusammen? Egal
ob als Mieter eines Wohnblocks (Shikun), in der Stadt unter Fremden (Langue étrangère, Black Tea, Les gens d’à côté), auf dem Lande und dem Dorf (Holy Week, Shambhala, Des Teufels Bad, Wo Tu), in der Pandemie (Hors du Temps), im Krieg (In Liebe, Eure Hilde, Marias Schweigen), im Alter (My Favourite Cake), als Kinder in der Schule (Favoriten, Gloria!) oder schlicht schon im Nukleus der Familie (Who Do I Belong To, Kottukaali). Überall betonten die Filme die gegenseitige Abhängigkeit, mal klassischer im Genregewand unter Gangstern wie bei Verbrannte Erde oder Love Lies Bleeding, mal experimenteller zwischen Nationen und Nilpferden bei Pepe. Immer wieder dabei mit der Frage nach dem Zusammenhalt vieler, nicht nach einzelnen Heldinnen oder Märtyrerinnen, sondern speziell nach den Unsichtbaren und Vergessenen am Rand. Dabei sowohl die unauffällige Kraft der zivilen Integrität betonend, wie beim nicht konkret militärischen deutschen Widerstand in In Liebe, Eure Hilde oder bei den nicht kollaborierenden baltischen Künstler*innen in Marias Schweigen, als auch den verdrängten Schrecken von strukturellem Antisemitismus (Holy Week), struktureller Misogynie (Des Teufels Bad) oder der aufkommende Faschismus in gar nicht so weit entfernten Ländern wie Kroatien (Through the Graves the Wind is Blowing). Wo sonst weggeschaut wird, schaute die Berlinale hin. Schmerzvoll wie aber auch hoffnungstiftend. Neben drei bemerkenswerten, wenn auch sehr unterschiedlichen österreichischen Beiträgen dazu (Des Teufels Bad, Favoriten, Andrea lässt sich scheiden), tat sich dabei aber besonders der deutsche Film auf dem Festival hervor. Zum Gegenwartskino hin war sicher das letzte Jahr mit Petzold, Schanelec und Hochhäusler als Zentralgestirn der Berliner Schule stärker für das deutsche Kino auf der Berlinale. Wobei sowohl Arslans neuer Film Verbrannte Erde als schnörkelloser Gangsterstreifen im Geiste seines Im Schatten beeindrucken konnte als auch Dresen mit seinem Hilde einen der besten, zu Unrecht nicht prämierten Wettbewerbsfilme lieferte. Eher zeigte aber das deutsche Kino seine Qualität in der diesjährigen Retrospektive zum Anderen Kino. Die Deutsche Kinemathek präsentierte dabei ihre oft übersehenen Schätze von Filmemacherinnen aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die nicht denselben Weltruhm wie Fassbinder, Herzog oder
Wenders erhielten und nicht mit diversen Blu-ray-Boxen gesegnet sind. So bekam man die womöglich einmalige Gelegenheit Filme von Roland Klick, Helke Misselwitz, Thomas Brasch, Jeanine Meerapfel oder Hansjürgen Pohland auf der großen Leinwand zu sehen. Und was sich dabei besonders bemerkbar machte: Wie aktuell diese Filme noch immer sind, sowohl in ihrer künstlerischen Ästhetik als auch in ihren gesellschaftlichen Diagnosen. Gerade Meerapfels Porträt des Fremdseins und der jüdischen Identität in Deutschland in Im Land meiner Eltern oder das vom Rechtsruck zerrüttete Ostdeutschland in Herzsprung von Misselwitz waren geradezu erschreckend gegenwärtig. Man kann nur hoffen, dass diese Filme neu publiziert und wiederentdeckt werden, liegen sie doch offenbar vor und das auch noch in tadellosem Zustand, oft sogar kürzlich erst restauriert. Erfreulicherweise waren alle Vorführungen der Retrospektive, die ich besuchte, nahezu ausverkauft. Das Interesse scheint also zu bestehen.
Doch war die Berlinale nicht nur politisch. Die Classics waren mehr Delikatessen für Cinéphile, sei es mit Tarkowskijs Schwanengesang Offret, Scorseses launigen Nachtabenteuer After Hours, Tsais Melonen-Sexmusicalkomödie The Wayward Cloud oder den beiden Lubitsch-Komödien Kohlhiesels Töchter und The Love Parade. Auch im Gegenwartskino bestätigte sich die Tendenz der Berlinale neben einer naheliegenden Präsenz deutscher Filme und der Einladung entlegenster Kleinproduktionen aus unterrepräsentierten Ländern wie Nepal oder Tunesien, immer mehr amerikanische Independet-Produktionen aufzunehmen. Wobei man mittlerweile fragen mag, wie Indie A24 nach all dem Wachstum noch ist. Alle Highlights aus Telluride und Sundance laufen auch in Berlin, gewinnen sogar im Fall von A Different Man Preise im Wettbewerb. Durch das vorher schon gesammelte Prestige sind die Schlangen vor den Filmen für die Chance auf Resttickets damit umso länger. Jedoch regt sich eine gewisse Skepsis, ob dies nicht den Rang der Berlinale als Festival schadet, wenn sie sogar im Wettbewerb Filme nur als Zweites oder Drittes spielen. Ich
freute mich sehr, beispielsweise das Mutter-Tochter-Drama Janet Planet zu sehen, doch gerade weil ich schon seit der Premiere Anfang September letzten Jahres in Telluride von dem Film gehört hatte. Natürlich lockern originelle Genreinnovationen wie die Komödie Between the Temples oder
das Horrordrama I Saw the TV Glow das politische Festival auf. Doch lauert dahinter nicht auch der verzweifelte Erhalt von Relevanz durch Starpower auf dem roten Teppich mit ein paar Hollywoodnamen? Der Abgrund tut sich gerade dann auf, wenn die Gewinnerfilme letztlich doch die gewohnten Berlinale-Gewinner bleiben, kleine Arthouse-Produktionen, die selten als der beste Film wahrgenommen werden, bei deren Thema man sich aber auf dessen Wichtigkeit einigen kann. Mati Diop gehört sicher zu den aufregendsten Stimmen des Gegenwartskinos, doch fühlte sich ihre
Raubkunst-Doku Dahomey bei aller Aktualität deutlich weniger wie ein Festivalgewinner an als noch ihr Vorfilm Atlantique. Natürlich gönnt man auch Hong Sang-soo seinen weiteren Preis, wobei es wie eine Erlösung wäre, wenn er endlich mal den Hauptpreis holen könnte und weiterzieht. Denn so bekommt die Berlinale nicht nur etwas Vorhersehbares in ihrem Wettbewerb, man verliert vor allem die Begeisterung an der Preisverleihung und der Goldene Bär schrumpft neben Löwen und Palme immer weiter als Qualitätssiegel. Was von der Preisverleihung primär bleibt, sind kontroverse Reden. Sollte das bei einem Filmfestival so sein, egal wie politisch es sich versteht?
Denn da waren doch die kleinen, starken Produktionen, die beides schafften und dankenswerterweise, wenn auch eher übersehen, ausgezeichnet wurden: So etwa Shahid von der iranisch-stämmigen Filmemacherin Narges Kalhor, die in ihrem autofiktionalen Essay-Drama-Doku-Hybriden von einer überkomplizierten Namensänderung bei den bayerischen Ämtern in eine viel tiefere Identitätskrise einer migrantischen Künstlerin eintaucht. Aber auch die alten weißen Männer haben noch etwas zu sagen. Während Scorsese mit Made in England: The Films of Powell and Pressburger Filmerbe vermittelt, blickt Edgar Reitz in Filmstunde_23 auf seinen Versuch zurück, Film zum Schulunterrichtsfach zu machen, und reflektiert mit den damaligen Schülerinnen von vor 55 Jahren darüber, was für eine gesellschaftliche Utopie möglich wäre, wenn wir durch so einen Unterricht bewusster sehen und erinnern würden. Wie so oft liegen diese Schätze am eher spärlich besprochenen Rand des Festivals, doch muss man lobend betonen, dass die Berlinale auch solchen Filmen immer eine Bühne bietet und damit unterstreicht, wozu Festivals da sind, wozu das Kino fähig ist. Der Besuch des Festivals hat sich also mehr als gelohnt.