Jonas Platz
In einer Westernstadt ohne Namen: Der Hombre spricht niederösterreichisch, der Sheriff heißt Fritz, Winnetou, der Häuptling der Apachen sieht dem Schlagersänger Waterloo verdächtig ähnlich. Handys, Tetrapackmilch und Filterzigaretten sind selbstverständlich, im Saloon gibt es Ottakringer. Was zunächst nach einem Sketch aus einem Film von Michael „Bully“ Herbig klingt, ist in Wahrheit Florian Flickers Porträt eines Themenparks, der 2001 bei Wöllersdorf eröffnet wurde. Die Dokumentation No Name City (AUT 2006) zeichnet den verbissenen Kampf um die Existenz der gleichnamigen Westernstadt, obgleich die virtuose Verdichtung der zwischenmenschlichen
Konflikte einen bisweilen glauben lässt, man befände sich in einem Spielfilm.
Denn rein auf die Handlung fokussiert, ist Florian Flickers Meisterwerk ein Melodram. Im Zentrum steht der Konflikt um die Machtstrukturen innerhalb der Westernstadt. Ursprünglich dort als Hausmeister angefangen, reißt der vormalige Abteilungsleiter Armin Groß die Verwaltung des Themenparks sukzessive an sich, was auf den Protest der anderen Bewohner stößt. Viele waren von Anfang an dabei: der Erlebnispark ist ihr Lebenswerk. Wir sehen Menschen, die sich für diesen Lebensstil abseits der sie belächelnden restlichen Welt entschieden haben und ihr Dasein vollumfänglich dem Erhalt der Stadt widmen, während wechselseitige Intrigen, kaputte Eisenbahnen und die ständige Sorge, die Pferde über den Winter zu bringen, das Idyll der Westernstadt stören.
Diese melodramatischen Konflikte innerhalb des alternativen Wild West Mikrokosmos stellen als solche in Zeiten immer fortwährender Reality-Soaps keine Besonderheit dar: entscheidend ist die Tatsache, dass es sich tatsächlich um einen rein dokumentarischen Film handelt, der so pointiert collagiert ist, dass man kaum glauben kann: Hier ist alles real, nichts ist gestellt. Dieses Wissen ist wesentlich für die außergewöhnliche Seherfahrung, die No Name City ermöglicht. „Film ist nicht nur das, was man sieht“, postuliert der Filmwissenschaftler André Bazin. In seinen Arbeiten hebt er immer wieder die besonderen Vorzüge des guten Dokumentarfilms hervor. Gut im Sinne Bazins meint eine wahrhaft immersive und glaubhafte Wirkung, die nur dann entstehen kann, wenn die Kamera wesentlicher Bestandteil des Geschehens wird und nicht von außen oder oben herab auf das Thema blickt.
Eben das ist bei No Name City der Fall. Dieser Eindruck wird durch den Umstand, dass Florian Flicker und sein Team sich bewusst für einen Monat in die Westernstadt einquartiert hatten, um somit hautnah am Geschehen beteiligt zu sein, nurmehr unterstrichen. Bestimmte Konflikte wurden durch die Anwesenheit der Kamera wohl erst möglich oder zumindest befeuert. Bemerkenswert, weil damit die Realisierung des Films „völlig identisch ist mit dem Geschehen von dem er […] berichtet: weil er selbst nur ein Aspekt dieses Abenteuers ist.“
In No Name City wird dies immer wieder deutlich: In einer relativ ausführlichen Szene sehen wir, wie Flicker selbst sich einkleiden lässt und zu einem von ihnen wird. Wir zum bloßen Zusehen verdammten Anderthalbstundentouristen – ein Schicksal, dass durch die Schließung der Stadt seit 2009 endgültig besiegelt ist – können dabei nicht umhin, uns über die schrulligen Individualisten, die über die symbolische Bedeutung von Adler- und Fasanenfedern philosophieren oder in Apachenkostümierung österreichische Chartschlager singen, zu amüsieren; und auch Flicker kann sich in manchen Szenen ein wenig trockene Süffisanz nicht verkneifen.
Dennoch – und das ist die große Stärke von No Name City – gelingt es dem Film, vom natürlichen Voyeurismus – der jedem Dokumentarfilm anhaftet – einmal abgesehen, das Schicksal der Stadt und der dort Lebenden in seiner ganzen Tragweite einzufangen, ohne zu verurteilen. Natürlich müssen wir lachen, wenn zwei Frauen im Gespräch anfangen, Männer mit Schuhen gleichzusetzen. Doch gleichzeitig spüren wir, dass die beiden viel Enttäuschung und Leid mit
Männern erlebt haben – die eine meint sogar, sie sei in die No Name City vor einem geflohen.
Auch dass sich der Untergang der Westernstadt 2009 als unheilvoller cantus firmus während des ganzen Films bereits prophetisch andeutet, wirkt an keiner Stelle fatalistisch oder zynisch. No Name City ist ein meisterhaftes Porträt über eine alternative Lebenswelt, in die viele Menschen all ihre Mühe gesteckt haben, auf der Suche nach einem gemeinsamen Zufluchtsort, der immer wieder von altbekannten Problemen des Alltags heimgesucht wird und die Utopie dieser Menschen zu zerstören droht. Gleichzeitig ist er ein virtuoses Beispiel, das die großartigen Möglichkeiten des Dokumentarfilms aufzeigt, wobei er stets im Dienste des Lebens steht.