Filmkritik: Wer wir einmal sein wollten

Richard Konstantin Götz

Hauptfigur Anna trauert einen Film lang ihrem Kindheitstraum nach – den
Filmakademie-Absolvent Özgür Anil sich durch sein Langfilmdebüt vermutlich erfüllt.

Wer wir einmal sein wollten – Anna wollte Schauspielerin werden, ihre Situationship hofft auf eine Karriere als Theaterregisseur und ob ihr Bruder je ernsthafte Pläne hatte, ist zweifelhaft.
Regisseur und Drehbuchautor Özgür Anil inszeniert ein Fest der Trostlosigkeit. Seine Abschlussarbeit an der Filmakademie Wien feierte im Januar 2023 auf dem Max-Ophüls- Festival Premiere und wurde im Anschluss auch auf der Diagonale gezeigt. Egal wer Anil einmal sein wollte, erreicht hat er sicher mehr als seine beklagenswerten Protagonisten. Umso erstaunlicher die Geduld und Hingabe, mit der er seine Figuren in ihrer Lethargie suhlt.

Wer wir einmal sein wollten


Wenn Anna (Anna Suk) nicht gerade ihr Geld als Sekretärin verdient oder ihren (Fast-)Partner Konsti (Gregor Kohlhofer) bei seiner Abschlussinszenierung als Theaterstudent unterstützt, ringt sie in der Abendschule mit ihrer Matura. Als ihr lebensinkompetenter Bruder Patrick (Augustin Groz) in ernsteren Schwierigkeiten zu stecken scheint, gewährt sie ihm Obhut,
während die gemeinsame Mutter im Krankenhaus landet. Zwischen Berufswelt, Beziehung und Familie geht es für Anna mehr so bergab.

Wer wir einmal sein wollten ist ruhig inszeniert, mit langen Einstellungen und weitgehend ohne Musik. Auch inhaltlich geht es weniger um eine Handlung als eine Bestandsaufnahme. Anna streift mit dem immergleichen ermüdeten Gesichtsausdruck von Szene zu Szene, bei ihrem Bruder wird es auch nur einmal turbulent, als er von der Polizei gestellt wird. Regisseur Anil
zeigt uns einen Zustand des Scheiterns und legt uns bleiernen Pessimismus auf die Schultern.
Das tut er, indem er Figuren zeichnet, die entweder dumm sind oder unsensibel oder im Fall von Anna einfach kraftlos. Er schafft eine deprimierende Welt, in der Menschen aufgrund ihrer nervigen Lebensumstände nun mal nicht anders können, als hoffnungslos zu sein. Borges könnte sagen: „Wir sind so arm an Tapferkeit und Glauben… Wir können nicht an den Himmel glauben, wohl aber an die Hölle.“ Was Borges kritisiert, scheint bei Anil witzlos Programm zu
sein. Gründlich walzt der Film seine Trostlosigkeit aus.
Er dauert zwar nur 83 Minuten, mindestens 90 davon aber benutzt er, um mit einer trägen Kamera belastete Menschen zu filmen, die auf Gedeih und Verderb nicht imstande sind erwachsen miteinander zu kommunizieren oder ihr Selbstmitleid zu verwinden. In seiner Unreife ist der Bruder dann auch
etwas überzeichnet. Kann ihm wirklich nicht klar sein, dass ihm gekündigt wird, wenn er wiederholt die Arbeit schwänzt? Muss er es wirklich für eine gute Idee halten, einen Raubüberfall zu begehen? Nicht zuletzt nimmt seine Verhaftungs-Szene unbegründet viel Raum ein: Die ganze Zeit geht es um Anna, die ganze Zeit wissen wir nicht, in welchen Schwierigkeiten genau er steckt – aber seine dramatische Festnahme müssen wir natürlich live
miterleben.

In der latent Haneke-haften Inszenierungsweise kommt es auch so vor, als würde der Film einen besonderen künstlerischen Anspruch auf Tiefgang stellen: die langen Takes, die Ibsen- Aufführung im Film, ein suizidales Mädchen. Tatsächliche Vielschichtigkeit lässt sich dann
aber wenig ausmachen.
Der Film stellt die Frage: Wie schlecht geht es uns?
Geflissentlich vergisst er zu fragen: Wie schlecht muss es uns gehen?
Anil zeigt uns zentraleuropäisches Alltagsleid und inszeniert es als
auswegloses Martyrium. Und schöpft daraus einen Flair von Künstlertum und Lebensernst. Diese Dramaturgie funktioniert nur auf den Schultern schwacher, geschlagener Figuren. Damit feiert Wer wir einmal sein wollten eine angeblich unvermeidliche Trostlosigkeit und pflegt einen selbstherrlichen Pessimismus. Das ist nicht nur langweilig und unglaubwürdig, es ignoriert auch die Chance mit vergleichbaren Mitteln etwas Intelligenteres, Ernsthafteres und
Beeindruckenderes zu erschaffen.

Denn gerade Özgür Anil müsste doch wissen, dass man werden kann, wer man einmal sein wollte.