Wie wär’s mit C?

Ein Essay von Tobias Hollinetz

Szene 1 – ext., Nacht, vor einem Kino in städtischer Gegend.


Narrator: Zwei Menschen in zu großen Mänteln und dementsprechend schwer auszumachenden Alter und um ein Haar nicht harmonierenden Hüten, gehen im Gespräch vertieft aus einem Kino. Der Einfachheit halber und weil sie selbst der Meinung wären, dass ihre Ideen sie besser beschreiben als ihre Namen, nennen wir sie schlicht A und B. Sie bewegen sich zunehmend eine stark befahrene Straße über den Bürgersteig hinab.
A [energisch]: …ja aber das meine ich ja, wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit selbst als verlängerter Arm der Wirklichkeit global hinterfragt und privatisiert wird. Und was tut das Kino? Es dreht sich im Kreis!
B [angestrengt]: Na sicher, das mag schon stimmen, aber inwiefern ist das neu? Wirklichkeiten stoßen seit Menschengedenken aneinander, verändern, beeinflussen und streiten sich bis zur Sublimation. Genau deswegen finde ich es schön, wenn das Kino auch seinen Teil zu der Debatte beiträgt.
A: Aber Kino trägt ja nicht dazu bei, es hat selbst ständig behauptet diese Wirklichkeit zu sein und kommt jetzt zu dem Schluss, dass es diese Vormachtstellung verloren oder nie besessen hat. Wir sind konstant von bewegten Bildern umgeben, konsumieren sie ohne Ende – das formt unseren Blick und macht den Alltag zur Inszenierung. Aber wer zieht nun die Grenze dazu was Kino, welche Bilder „echt“… [A unterstreicht die Hasenbeine gestisch mit den Fingern beider Hände.] …sind und welche nicht? Welche Situation real ist und welche gespielt? In diesem Klima setzt es seinen langen Ringkampf mit der Realität fort und muss – wie mir scheint – kräftig durschnaufen. Es frisst sich langsam selbst, findest du nicht? Inwiefern ist dieser Beitrag denn nun nach außen hin relevant? Was soll das beitragen?
Narrator: Sie bleiben vor einer roten Fußgängerampel stehen.
B: Ach komm, schau – klar die Medienlandschaft verändert sich konstant und im Wechselspiel auch unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit – aber das meine ich eben genau. Es ist ja Teil dieser Landschaft und der Wirklichkeit, interagiert mit ihr und verändert sich dadurch, kommentiert und reagiert. Wann hat Kino je behauptet buchstäblich die einzige Realität darzustellen? Es ist ja einfach nur ein weiterer Blick auf die Dinge. Ich glaube du sprichst dem Kino hier gerade eine größere Rolle in der Welt zu als ich – [leiser, unter dem Atem] könnte ein bisserl ein Ego-Thema von dir und diesem Kino sein, aber I don’t judge.
Narrator: Die Ampel wird grün, sie setzen den Spaziergang fort und A schüttelt verärgert den Kopf.
A: Na ja – es gibt eine eigene Gattung nur dafür – schonmal was von Dokumentationen gehört? Und was ist denn genaugenommen die ZiB jeden Tag? Und komm mir jetzt nicht mit meinem Ego daher, sonst nerv ich dich mit einer Metapher.
B: Verschon‘ mich bloß! Und die ZiB würde ich jetzt nicht mit Dokumentationen in einen Topf hauen – da ist eine Reportage für mich schon etwas anderes.
A: Ich glaube du verstehst mich einfach falsch – da geht es um diesen Realitätsanspruch. Aber gut, beschränken wir uns auf die Festivalarena. Früher haben dort oppositionelle Wirklichkeiten wieder und wieder versucht ihre Vormacht unter Beweis zu stellen – seit sie diese Funktion verloren oder überwunden haben, je nachdem, gerät halt Film selbst unter Bedrängnis. Noch dazu, wo es selbst in den ländlichsten Kreisen bekannt wird, dass das Dargestellte nicht vollständig von der Realität zu trennen ist, sondern sich hinter der Leinwand echte, atmende Lebewesen zur Decke strecken und den Hintern ausruhen. Ja, man könnte fast meinen, dass auch die Filmbranche selbst wieder einmal kapiert hat, dass die errichtete Trennlinie, genannt Leinwand, zwischen virtuellem und physischem kein Naturgesetz ist. So wie auch die Spuren dieser Stadtstraße hier menschengemacht sind. Und jetzt beschäftigen sie sich mit nichts anderem mehr! Das hatten wir doch eh alles schon mit dem Neoformalismus abgehakt dachte ich.
B [Schnauft genervt]: Und hier kommt sie meine Damen und Herren. Stadtstraße, sehr originell, bitte erklär’s mir.
A [gerät zunehmend in Fahrt – stichelt]: Na gut, wenn du schon so lieb darum fragst. Ich würde sagen, dass es zwar schon seit langem ein paar Betrunkene gibt, die in Schlangenlinien fahren – manche haben vielleicht auch erkannt, dass man von der Stadtstraße abfahren kann oder gar nie auffahren muss – trotzdem gibt es die Stadtstraße nach wie vor und sie wird weiterhin genutzt. Das wäre das immersive Kino, klassischer Spielfilm – Amischinken halt.
B: Jaja, ich versteh dich schon.
A: Nun aber scheint es so als hätten sich diese Schlangenlinienfahrer und Stadtstraßenverweigerer über die letzten Jahrzehnte zusammengefunden, um eine alternative Straße zu bauen und sie als neues Verkehrsmittel zu verkaufen. Diese Straße heißt Festivalkino und du kannst mir nach der Viennale nicht erklären, dass Film nicht an einem Identitätsproblem knausert.
B: Das alles mag schon einen wahren Kern haben, aber ich fand die Filme einfach originell und schön – eben genau wie sie mit der Wirklichkeit interagieren und auch selbst darauf hinweisen, dass es diese außerhalb des Filmes gibt. Ich sehe das nicht zwingend als Identitätsproblem des Mediums, sondern viel mehr stärke und Rolle des Kinos, ebensolche Fragen zu stellen. Das kann die ZiB eben nicht. Denk an Nous, étudiants! – da fassen sie ja genau ihre zentralafrikanische Lebensrealität dokumentarisch ein und gießen es in eine Spielfilmformel, ohne den Metakommentar zu scheuen. Der Junge, der den Regisseur im Film direkt, vor der Kamera, mit seiner Unzufriedenheit über dieses Zerrinnen der echten Freundschaft mit seiner Spielfilmrolle konfrontiert ist für mich genau ein solcher Beitrag zu der Diskussion der Schnittpunkte zwischen Inszenierung und Realität, die du bereits erwähnt hast. Durch dieses Spannungsverhältnis, der Hand, die durch die Leinwand greift – oder dem Autofahrer, der aussteigt und sich in den Stadtstraßenverkehr wirft meinetwegen – ganz genau kapier ich nicht, was du mit deinen Sprachbildern immer ausdrücken willst – dadurch werden genau solche Diskussionen wir die unsere gerade ja angeregt. Dadurch beginnt man ja erst darüber zu sprechen und sich bewusst zu werden, dass diese Filme auch dieser Realität entspringen, egal, ob Spielfilm oder Dokumentarfilm. In der Essenz sind sie doch dasselbe! Und ich denke wir haben keinen Film gesehen, der den alleinigen, den „Hauptanspruch“ stellt Realität zu sein? Also vermengst nicht eigentlich du gerade das Kino direkt mit der Realität und bist frustriert darüber, dass es diesem Anspruch nicht gerecht wird? Worum geht es dir eigentlich?!
Narrator: B hat sich so heißgeredet, dass B beinahe über die nächste rote Fußgängerampel gelaufen wäre – A reißt B fest bei dem Mantel zurück. Durch den Ruck löst sich der unstimmige Hut vom Kopf Bs und wird vor den Augen beider von einem Autoreifen mitgenommen. Mehrere Autos Hupen Laut.
A [erschrocken]: Pass doch auf! Ach du scheiße das war knapp.
Narrator: B hat die Augen aufgerissen und presst ein: Danke hervor. Sie warten kurz, die Ampel wird grün und sie gehen wieder weiter. Nach etwas stillem Sammeln und sich beruhigen, beginnen beide wieder zum Gespräch zurückzukehren.
A [müde]: Ich glaub ich bin einfach frustriert, dass ich immer seltener überrascht werde.
B: Ja, das kann ich verstehen – aber deswegen hilft es ja dann jeden Film dahingehend zu betrachten, was er selbst versucht beizutragen und zu sagen, anstatt ihn krampfhaft in ein größeres Weltbild zu drücken, dessen Zerfall du fürchtest und welches unmittelbar mit deinem Selbstbild verknüpft ist.
A: Das tu ich gar nicht, dir geht es hier mehr um mich selbst als mir. Ich hab nur das Gefühl, dass diese Filmfestivalästhetik – das Langsame aufstapeln von Eindrücken, oft ohne direkten Zusammenhang und die eben dadurch erweckte semi-dokumentarische Form in sich selbst oft schon als so Wertvoll betrachtet wird, dass der tatsächlich übermittelte Inhalt keine Rolle mehr spielt. Dann noch ein paar metatextuelle Elemente reintackern und fertig ist das Kunstwerk. Da bildet sich gerade eben eine Parallelstraße zu der Stadtstraße, eine dominante Ästhetik – aber ich will etwas komplett Neues sehen, wenn es denn noch sowas gibt.
B: Aber ehrlich; hat dir gar nichts gefallen? Ich fand zum Beispiel De Humani Corporis Fabrica hervorragend genau deswegen, weil er diese ambivalente Form so zum Ausdruck nutzt. Hier haben wir einen Film, der, ohne es direkt in einer viel zu detaillierten Erzählertonspur anzusprechen, was man sieht, auf erschütternde Weise näherbringt, wie Kapitalismus unmittelbar Leben kostet. Diese Tatsache wird dir nicht nur durch das Gegenspiel der langen Einstellungen und dem scheinbar alltäglichen Geplapper der Ärztinnen und Ärzte während sie am offenen Körper operieren hinter die Ohren und bis hinein in dein Hirn tätowiert. Die Bilder sprechen für sich selbst und ermöglichen dadurch unterschiedliche Deutungen. Meine wäre, dass der Film das menschliche Leben in seiner Sterblichkeit und Körperlichkeit aufschlüsseln will. Dann legt er es in die Hände des Krankenhauspersonals und stellt es den Finanzkürzungen, Mängeln und zu geringer Ausbildung im Gesundheitswesen gegenüber. Eine sehr offen konfrontative Schiene also. Dabei schreckt die Kamera vor keinem Körperteil und keiner Prozedur zurück, wie du weißt. Ich kann mich an keinen anderen Film in letzter Zeit erinnern, der mir auf einem solch eindrücklichen Level die riesigen Problemfelder nähergebracht hat. Und das, ohne in großen Tönen zu behaupten, dass alle Krankenhäuser der Welt kurz vor dem Total-Aus stehen. Und er nutzt dazu vielleicht die Mittel, die du erwähnt hast – aber eben mit dem konkreten Ziel, einen ohne Anleitung diesen Themen auszusetzen und so zum Denken anzuregen. Das ist nicht reine Ästhetik um der Ästhetik willen. Es ist ein Einblick und dadurch ein weiteres Fenster auf die Gesamtheit der Wirklichkeit, das uns hilft, diese durch die Facetten zu erschließen und stellt dadurch keinen definitiven Wahrheitsanspruch, sondern trägt seinen Teil zur Aufklärung dieser bei. Hat dir das nicht zugesagt?
A: Ja schon, aber bezogen auf die Kapitalismuskritik fand ich Unrueh persönlich erfrischender und fast tiefgreifender, weil er nicht bloß ein Problem hinschmeißt, mit dem man dann umgehen muss, sondern gerade die Ursache aufzuklären versucht. Also Uhren und ihre inhärente Unruhe als Technologie hinter dem kapitalistischen Wandel. Die messbare Zeit als Motor des Kapitalismus – das finde ich wunderschön! Und gleichzeitig zeichnet er ein authentisches Bild des gesellschaftlichen Zeitgeists. Da verstehe ich auch, wenn man einen ruhigeren, offenen Rhythmus in Verbindung mit einem Blick wählt, der Gesellschaftsgruppen dem Individuum überordnet, auf die sich diese neue Struktur spürbar auswirkt. So herrlich unaufgeregt und alltäglich. Also ja – hier geb ich‘s zu, dass ich die Nutzung dieser Festival-Form mochte. Ich glaube auch, dass diese semi-dokumentarische Art Sinn macht, um das Eingreifen dieser neuen Technologie in die verschiedenen Gewohnheiten zu schildern. So werden die Themen auf konzeptioneller und empathischer Ebene gleichzeitig übermittelt. Ob man jetzt wirklich auf Teufel komm raus in jeder zweiten Einstellung eine neue, off-center-Komposition gebraucht hätte, um diese Ideen zu kommunizieren sei dahingestellt. Also ja, den fand ich zumindest interessant.
B: Ich glaube ich brauch einfach nicht unbedingt diese originellen, intellektuellen Kommentare und Wegweiser, ich finde es schön, wenn Einstellungen für sich allein Sprechen und eine breite Deutung zulassen oder sich überhaupt einer solchen entziehen. Das stellt für mich Kino in Rohform dar.
A: Das kann ich respektieren – wenn man jetzt Unrueh und De Humani Corporis Fabrica nebeneinanderstellt, dann bräuchte man auch nurmehr einen dritten Film, der uns erklärt was zur Hölle wir tun könnten, um all das zu ändern. Aber da bleibt wohl nix anderes übrig als drauf zu warten, dass irgendjemand noch eine dritte Straße oder vielleicht doch sogar ein neues Verkehrsmittel erfindet.
B: lol
Narrator: Beide müssen lachen und übersehen in ihrem Spaß vollkommen die rote Ampel der Stadtstraße, über die sie sich gerade begeben. Der Autofahrer in seinem weißen BMW-SUV hätte vielleicht auch noch rechtzeitig abbremsen können, wenn er nicht gerade dabei gewesen wäre, seine heruntergefallenen McDonalds Pommes zwischen den Beinen herauszufischen und gleichzeitig auf seinem Handy die gefallenen Börsenkurse des Netflix-Konzerns zu bedauern. So gesellen sich zu den menschengemachten Streifen auf der Stadtstraße wenigstens noch zwei weitere menschliche, überwiegend rote Streifen hinzu, die der Straße einen flotten Look – man könnte auch sagen, einen frischen Anstrich – verpassen. Die ZiB wird später sicher auch darüber berichten. Das ist A und B an dem Punkt aber alles längst egal.