„Wer ist hier der König?“ Claus Peymann zwischen Mitbestimmung und Theaterdiktatur

von Alexandra Wimmer

Claus Peymann fotografiert im Garten seines Hauses, Berlin-Köpenick 2004.
Foto: Oliver Mark

I. Einführung
Kaum einer wurde im Laufe seiner Karriere mit so vielen zweifelhaften Attributen bedacht wie Claus Peymann – von der Presse, der Literatur und nicht zuletzt von sich selbst: Rappelkopf, Berserker, Enfant terrible, Poltergeist, anachronistisches Monstrum… um nur einige wenige zu nennen. Nur eines traf nie auf ihn zu: „Everybody’s Darling“.

Über Jahrzehnte hinweg hat sich der Theatermensch Claus Peymann durch seine gewalt-assoziierte Rhetorik, seinen kämpferischen Gestus und durch seinen Spürsinn für Wespennester, in die er nur zu gerne hineinstach, das Image des zugleich streitsüchtigen Hitzkopfes wie harmoniebedürftigen Theatervaters aufgebaut. Skandale, öffentlich ausgetragene Zwistigkeiten, Pressekonferenzen und Interviews, bei denen er die einen vergötterte, die anderen verdammte, festigten diesen Ruf. Geprägt von der 68er-Generation verlangte er stets das Aufbegehren gegen die vermeintlich Mächtigen, die aber nicht das alleinige Ziel seiner verbalen Angriffe blieben.

These, Fragestellung, Aufbau
Als einer der erfolgreichsten und meist umworbenen Intendanten seiner Zeit trug Peymann maßgeblich dazu bei, einen von rhetorischer Gewalt und Drohungen geprägten Regie- und Führungsstil zu legitimieren. Dabei waren ihm aber zumindest zu Beginn seiner Laufbahn kooperative Formen der Zusammenarbeit im Theater nicht fremd. Peymann gehörte sogar zu jenen, die sich für mehr Mitbestimmung aller Mitwirkenden einsetzten.

Wie hat er sich schließlich von einem, der das Theatersystem revolutionieren wollte, zum Big Player mit autoritärem Führungsstil entwickelt? Welche Narrative bemüht Peymann, um diesen Führungsstil zu rechtfertigen? Und gab es Schauspieler:innen, die ihre Stimme gegen ihn erhoben?

Diese Arbeit skizziert zuerst, welche bedeutenden Eckpunkte seines Werdeganges das Image Peymanns maßgeblich mitgeprägt haben. Dabei beschränkt sie sich auf die wesentlichen Stationen seines Wirkens und die wichtigsten Theaterskandale, auf die sich auch Peymann selbst in Interviews und Publikationen immer wieder bezieht und damit die öffentliche Wahrnehmung seiner Person festigt.

Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt jedoch in der Entwicklung Peymanns vom Mitinitiator der Mitbestimmungs-Bewegung in den 1960er- und 70er-Jahren hin zum autoritären Einzelkämpfer. Folglich wird beschrieben, wie und wodurch sich seine Einstellung zu kollaborativen Führungsstilen verändert hat, wie er selbst die Beziehung zu seinen Ensembles beschreibt und mit welchen Schauspieler:innen es bisher zu öffentlichen Konfrontationen kam.

II. Peymanns Wirken und Werken: Vom Studententheater ans Wiener Burgtheater
Claus Peymann, geboren 1937 in Bremen, entdeckte sein Interesse am Theater bereits in der Schulzeit.[1] Während des Studiums in Hamburg wirkte er 1959 erstmals als Schauspieler an der Hamburger „Studiobühne“ mit. Bereits 1962 inszenierte er sein erstes eigenes Stück. Wenig später wurde er zur „internationalen theaterwoche der studentenbühnen“ in Erlagen eingeladen und gewann den ersten Preis. Weitere Auszeichnungen im Studententheater folgten. Nachdem zahlreiche Assistenz-Bewerbungen bei damals führenden Regisseuren erfolglos blieben, inszenierte Peymann weiter an kleineren Bühnen etwa in Hamburg oder Göttingen.

Alsbald wurde er allerdings zur Proberegie ans Frankfurter Theater am Turm (TAT) eingeladen und kurz danach als Oberspielleiter engagiert. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Stücke junger Autoren des Suhrkamp Theaterverlages auf die Bühne zu bringen. Bereits seine erste Inszenierung, die Publikumsbeschimpfung von Peter Handke im Jahr 1966, löst heftige Diskussionen aus. Das Stück wurde am TAT nur zwei Mal aufgeführt. Vor allem in der zweiten Vorstellung kam es zu Tumulten.

1969 verließ Peymann das TAT und begründete u.a. mit Peter Stein und Botho Strauß die Berliner Schaubühne, der er bald darauf wieder den Rücken kehrte, um als Gastregisseur zu arbeiten. Unter anderem gastierte er 1972 bei den Salzburger Festspielen, wo er sich als „1968er Bürgerschreck und Feind der Festspiel-High-Society“[2] inszenierte. „…[S]chon vor Probenbeginn bezeichnet er einer Münchner Zeitung gegenüber die Festspiele als ‚schicke Scheiße‘ und ‚ungeheures, flambiertes Salzburger Nockerl‘.“[3] Zudem entfachte während der Proben zu Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige ein Streit zwischen Festspiel-Direktorium und Peymann, da das Ende des Stückes zwei Minuten völliger Dunkelheit vorsah, die Feuerpolizei aber diesem Wunsch nicht nachkommen wollte. Es kam zu heftigen, teils tätlichen Auseinandersetzungen. Schließlich erfolgte nach der Premiere keine zweite Aufführung in Salzburg.

Damit nicht genug. Hernach kritisierte der österreichische Rechnungshof Peymanns Inszenierung. Für Requisiten seien zu hohe Kosten entstanden, die Festspiele hätten einer unvorteilhaften Tantiemenvereinbarung zugestimmt und Peymann selbst hätte während der Proben raue Mengen an teurem, französischem Sekt verlangt, den er auch bekam. Ein darauffolgender Rechtsstreit zwischen dem Salzburger Festspielfonds, vier Schauspielern und Claus Peymann endete mit einem Vergleich.[4]

1973 wurde Peymann von Hans Peter Doll als Schauspieldirektor und Mitglied eines 5er-Direktoriums an das Stuttgarter Schauspiel berufen. Hier formierte sich u.a. mit dem Dramaturgen Hermann Beil und den Schauspieler:innen Kirsten Dene, Branko Samarovski, Martin Schwab und Gert Voss eine langjährige Gefolgschaft. Es waren gleichsam künstlerisch erfolgreiche wie politisch brisante Jahre. Dass Peymann Geld für eine Zahnbehandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, führte schlussendlich dazu, dass sein Vertrag über 1979 hinaus nicht verlängert wurde.

1979 wanderte Peymann an das Bochumer Schauspielhaus, wurde dort Intendant, kündigte eine Vielzahl an Schauspieler:innen und baute u.a. mit zahlreichen anderen aus Stuttgart ein neues Ensemble auf. In seiner siebenjährigen Amtszeit schaffte er es – nach eigenen Angaben – das Haus zu 85% Auslastung zu führen.[5] Den größten Erfolg, bevor er ans Wiener Burgtheater eingeladen wurde, feierte er mit der Wiederentdeckung und der Rekontextualisierung des von den Nazis vereinnahmten Stückes Die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist.

Als Peymann 1984 an das konservative Wiener Burgtheater eingeladen wurde, waren Konflikte vorprogrammiert. Eine Atmosphäre, die Peymann keineswegs scheute: „Manchmal fürchte ich mehr eine unkritische Zustimmung als Ablehnung oder Protest. Neue Widersprüche müssen wir finden“[6], gab er in Theater heute als Antwort auf die Frage, warum er das erfolgreiche Bochumer Ensemble ohne Not verlasse.

Die markanteste Inszenierung seiner Direktionszeit war gewiss Heldenplatz von Thomas Bernhard, die beim konservativen Publikum der Burg, das von Peymann mit Vorliebe als „die Lodenbrigaden“ bezeichnet wurde, und der Kritik für heftige Debatten sorgte. Schon vor der Uraufführung des bis dahin noch unbekannten Stückes befürchteten die Kronen Zeitung und die Wochenpresse eine globale Beschimpfung Österreichs und forderten, das Stück abzusetzen oder zu zensieren. Politiker:innen gerieten unter Druck, die Aufführung zu untersagen. Schauspieler:innen stiegen aus der Produktion aus. Die Premiere wurde von einem Aufgebot von 200 Polizist:innen begleitet. Die Aufführung selbst fand unter stetigen Zwischenrufen aus dem Zuschauer:innenraum statt und endete schließlich mit einer 45-minütigen Mischung aus Applaus und Buhrufen. Was mit einem Theaterskandal anfing, entwickelte sich mit 120 Aufführungen zu einer der erfolgreichsten Produktionen des Burgtheaters.

Wenn auch keine der danach folgenden Inszenierungen je ähnlich großes Aufsehen erregen konnte, setzte Peymann seinen Weg fort und stellte werktreuen Inszenierungen deutschsprachiger Klassiker Aufführungen jüngerer Literat:innen, allen voran Thomas Bernhard, Peter Handke, Peter Turrini und Elfriede Jelinek, gegenüber.

13 Jahren am Burgtheater folgten schließlich 18 Jahre am Berliner Ensemble. Für Peymann die Erfüllung eines Lebenstraumes. Noch einmal sorgte Peymanns Sympathie für die RAF für Aufsehen. 2007 bot er dem Terroristen Christian Klar, der vorzeitig aus der Haft entlassen werden sollte, ein Praktikum am Berliner Ensemble an. Klar lehnte ab. Er befürchtete „zu viel Theater“ um seine Person und das Theaterhaus.[7]

2017 verabschiedete sich der inzwischen 80-Jährige vom BE, aber nicht in die Pension. Seither kehrt Peymann auch immer wieder nach Wien zurück. Und zwar ans Theater in der Josefstadt, der, wie er sie früher gern bezeichnete, „besten Schnarchstätte Wiens“. 2020 inszenierte er Bernhards Der deutsche Mittagstisch, 2021 Eugène Ionescos Der König stirbt und 2023 Samuel Becketts Warten auf Godot.

III. Mitbestimmung
Gemeinsam mit Peter Stein und Peter Zadek gehörte Claus Peymann zu jenen führenden Regisseuren, die maßgeblich von den politischen Ideen der 68er-Generation geprägt wurden. In ihrer Tätigkeit am Theater waren sie nicht nur um künstlerische, sondern auch um organisatorische Innovationen bemüht. Unter dem Schlagwort „Mitbestimmung“ gab es Ende der 1960er-Jahre an vielen deutschen Theatern Ideen für mehr Mitsprache bei der Spielplangestaltung und Besetzung. Die Konzepte unterschieden sich maßgeblich voneinander: von mehrköpfigen Direktoren-Teams bis hin zu Konzepten der kollektiven Mitbestimmung, bei denen vom Hausmeister bis zum Publikumsdienst alle Abteilungen des Hauses stimmberechtigt waren.[8]

Allen Ansätzen gemeinsam war, dass sie vom Begehren der Schauspieler:innen nach mehr Selbstausdruck ausgingen. Die Darsteller:innen sahen ihre künstlerische Freiheit von der Dominanz der Regie beschnitten. Die Arbeit am Theater sei ein Vorgang der Unterdrückung und Einengung: „Der Regisseur arbeitet alleine die Konzeption für die Aufführung aus, ohne daß der Schauspieler ein Recht auf Mitverantwortung hätte“[9] hieß es in einem Brief des Kölner Arbeitskreises Bertolt Brecht.

Nicht selten blieb es aber beim Konzept, das nie in die Praxis umgesetzt wurde. So auch am Frankfurter TAT, für das Peymann 1969 gemeinsam mit Peter Stein, Dieter Reible und dem Dramaturgen Peter Kleinschmidt ein Dreierdirektorium vorschlug, das dem Generalintendanten unterstellt sein sollte. Darüber hinaus sah der Plan Produktionsgruppen, bestehend aus Vertretern aller künstlerischen Abteilungen, vor. Alle Darstellungsformen, von der Konzeption über die Besetzung bis hin zum Plakat, sollten in gemeinsamer Abstimmung entwickelt werden. Geplant war, die Schauspieler:innen so bald wie möglich in diese Prozesse einzubinden.[10] Eine Gewaltentrennung war aber für die damalige Intendanz am TAT nicht denkbar. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Peymann verließ Frankfurt und gründete gemeinsam mit Stein und Botho Strauß die Berliner Schaubühne, die nach dem Modell der Mitbestimmung geführt wurde.

Obwohl er sich intellektuell vom kollaborativen Ansatz angezogen fühlte und ihn aktiv mitgestaltete, scheiterte Peymann an seiner Praxis. Sowohl seine Arbeitsweise – die „stalinistische“ Manier seiner Regieführung – als auch seine Stückauswahl – sie sei von zu geringer politischer Relevanz – ließen sich nicht mit der Kollektivarbeit vereinbaren und standen im Widerspruch zum politischen Theater der 68er. Die Mehrheit des Ensembles übte scharfe Kritik, sodass sich Peymann bereits kurz nach der Eröffnung des Theaters von ihm verabschiedete um wieder als Gastregisseur zu arbeiten.[11] Die Episode an der Schaubühne beschrieb er später wiederholt als katastrophalen Tiefpunkt seiner Karriere.[12]

Er distanzierte sich folglich vom umfassenden Ansatz der Mitbestimmung. Künstlerische Entscheidungen dürften nicht demokratischen Prozessen unterworfen werden. Allerdings sei es sinnvoll, die Gesamtleitung der Schauspielhäuser demokratisch zu führen.[13] In diesem Sinne sollte das fünfköpfige Direktorium am Stuttgarter Schauspiel handeln, dem Peymann von 1974–1979 angehörte. Formal war Peymann darin ein gleichberechtigtes Mitglied der Führungsriege, aber wieder sah die kollegiale Zusammenarbeit in der Praxis anders aus. Peymann machte von Anfang an klar, dass er es war, der an der Spitze des Leitungskollektivs stand. Der Grund für seinen absoluten Führungsanspruch lag laut Peymann darin, dass es unverzichtbar sei, eine klare Befehlsstruktur im Haus zu erhalten, um es nach außen abzusichern und nach innen stabil zu halten.[14]

In späten Jahren verabschiedete sich Peymann endgültig vom Mitbestimmungsmodell. Er lehnte kollektive oder zumindest demokratische Entscheidungsfindung ab, weil ihnen die Gefahr innewohnt, künstlerische Prozesse zu verwässern und sie faulen Kompromissen zu unterwerfen.

„Mir geht die aktuelle Diskussion über das hierarchische Theatersystem auf die Nerven. Mitbestimmung haben wir in den 1960er-Jahren auch versucht und nicht geschafft. Das ist Quatsch, das geht nicht. Die Gefahr ist, dass die Freiheit der Kunst der Kleingeistigkeit der öffentlichen Meinung geopfert wird.“[15] 

Peymanns Bemühen galt dem Erhalt der alleinigen Autorenschaft, der Umsetzung einer Interpretation, die dem genialen Gedanken des Regisseurs folgte. Die Mehrheit sei dazu nicht in der Lage. Bei aller Ablehnung hatte Peymann aber dann doch eines mit den Initiator:innen der Mitbestimmung der 1960er-Jahre gemeinsam: die Forderung nach mehr künstlerischer Freiheit – nur eben der seinigen.

Claus Peymann entwickelte sich also durch seine Erfahrungen in Frankfurt und Stuttgart von einem Verteidiger der Mitbestimmung zu einem Verfechter strenger Hierarchien, deren Spitze er stets für sich beanspruchte. Wie gestaltete sich folglich die Zusammenarbeit zwischen Schauspieler:innen und Claus Peymann? Hierzu ist es vorerst wichtig, zwei zentrale Narrative anzusprechen, mit denen Peymann die Beziehung zu „seinen“ Schauspieler:innen charakterisierte.

IV Peymanns Theaterfamilie. Alles nur aus Liebe
Der Name Claus Peymann ist eng mit jenen der ihm nahen Dichter:innen verbunden. Allen voran Thomas Bernhard, gefolgt von Peter Handke, Peter Turrini und Elfriede Jelinek. Sein engster Vertrauter war, neben Thomas Bernhard, gewiss der Dramaturg Hermann Beil, der Peymann auf seinem Lebens- und Karriereweg von Stuttgart aus bis ans Berliner Ensemble begleitete. Mit dem Bühnenbildner Achim Freyer (inzwischen 89) arbeitet Peymann immer noch zusammen. Aber auch unter den Schauspieler:innen fanden sich einige ihm über Jahre hinweg getreue Gefolgsleute: Gert Voss, Kirsten Dehne, Branko Samarovski oder Martin Schwab. Theaterstars, denen Peymann in zahlreichen Interviews namentlich Rosen streute. Er sei ein Theatermensch und die Ensembles seine Theaterfamilie, wurde Peymann nicht müde zu beteuern. Um den „familiären“ Zusammenhalt zu begründen, bemühte Peymann in zahlreichen Interviews und Publikationen zwei zentrale Narrative.

Allen voran sei es die Liebe zum Theater, die allen am Theater Wirkenden gemein sei und die als einzige geeignet sei, das emotional und organisatorisch fragile Gefüge des Theaters zusammenzuhalten:

„Alle Verträge, alle Regularien, alle Kodizes und alle Kulturpolitik sind zum Scheitern verurteilt, weil sie die Liebe, die die Basis des Theaterspielens ist, nicht mit einrechnen können.“[16]

Nicht die Macht halte das Theater zusammen, sondern die Leidenschaft und die Liebe, auf deren Spiel und deren Verführung es sich einzulassen gilt.[17] Sie rechtfertige auch jedes Mittel, das dem künstlerischen Ergebnis zuträglich sei.

Neben der alles verbindenden und rechtfertigenden Theaterliebe betont Peymann immer wieder die eigene Abhängigkeit von den großen Schauspielstars:

„In der Theaterfamilie bin ich der Familienvorstand, im Grund aber die Hausfrau, die den Königen und Königinnen der Schauspielerei die Szene bohnert.“[18]

Es bereite ihm Angst, die Schauspieler:innen nicht erreichen oder sich nicht verständlich machen zu können. „So bin ich abhängig gewesen von Gert Voss und Carmen-Maja Antoni. Wer ist hier der König?“[19]

In diesem Zusammenhang bezog sich Peymann immer wieder auf die bereits vorher genannten Theaterstars, sparte aber die vielen anderen aus, die im Rahmen der Probenarbeit weniger zimperlich behandelt wurden. So entgegnete ihm beispielsweise die Schauspielerin Therese Affolter: „Königin? Man hat wirklich nicht das Gefühl, von ihm immer als Königin behandelt zu werden, oder?“ [20]

Und Peymann selbst schlug – von Journalist:innen immer wieder auf seinen rauen Probenstil angesprochen – 1988 in einem viel rezipierten Interview mit André Müller von Die Zeit bereits weniger wertschätzende Töne an:

„Ich liebe die Spontaneität, aber ich bin, darüber dürfte ich gar nicht sprechen, ein Vergewaltiger auf der Probe. Wenn in den Kopf eines Schauspielers nicht hineinwill, was ich mir vorgestellt habe, wende ich die bedingungsloseste und brutalste Gewalt an. Das geht von Gebrüll bis zu Mord und Totschlag. Ich breche den Widerstand, und ich weiß, daß es andere Regisseure genauso machen. […] Tabori ist eine absolute Sau in der Arbeit. Der gibt in nichts nach, ein Tyrann erster Güte. Ein Wunder, daß die Schauspieler sich das gefallen lassen.“[21]

Auch Peter Zadek hätte mit Liebesentzug gearbeitet, Tadeusz Kantor hätte seine Schauspieler sogar während der Vorstellung verprügelt. Dennoch seien all diese Quälereien und Verrücktheiten zulässig. Erstens machen es ohnehin alle so, das Theater bestehe ja bekanntlich aus der Begegnung von Verrückten, [22] und zweitens – und das ist die Hauptsache – dienen sie einem möglichst großen Theaterabend.[23] Die ursprünglichen Ideen der schauspielerischen Mitbestimmung, denen sich Peymann zu Beginn seiner Karriere verpflichtet fühlte, scheinen nun endgültig in weite Ferne gerückt.

V Widerspruch: Muliar, Voss und Blendl
Da Peymann stets die Auseinandersetzung suchte und nie um ein Wort der Provokation verlegen war, gab es zahlreiche Konflikte. Nicht alle sind dokumentiert, nur drei exemplarische Schauspieler:innen, die auch den öffentlichen Widerspruch wagten, können im Rahmen dieser Recherche vorgestellt werden.

Als Peymann ans Wiener Burgtheater kam, standen mehrere Ensemblemitglieder der Intendanz aus Bochum mit innovativen Ambitionen äußerst kritisch gegenüber. Öffentlich äußerte sich vor allem Burgschauspieler Fritz Muliar, der schon damals den Status des Volksschauspielers genoss. Er hielt Peymann als für das Amt ungeeignet. Schon allein, weil er Deutscher war. Im Ö1 Mittagsjournal gab er zu verstehen, er hätte sich einen Österreicher für dieses Amt gewünscht. Peymann solle Muliar zudem als „Lügner“ bezeichnet haben, worauf Muliar seine Pensionierung einreichte und Peymann wegen übler Nachrede klagte.[24] In seinem Buch „Liebesbriefe an Österreich“[25] äußerte sich Muliar kritisch gegenüber Peymann und widmete ihm „ein böses Kapitel“[26]. Fortan führten die beiden einen Rechtsstreit, der kurz vor Muliars Tod noch einmal aufflammte, als ihn Peymann in einem neu erschienenen Buch als „Volltrottel“ bezeichnete. [27]

Spät entzweite sich Peymann auch mit Gert Voss in einem öffentlichen Schlagabtausch. Als Peymann Voss im Rahmen eines Interviews mit der Berliner Zeitung bezichtigte, am Wiener Burgtheater „in Rente“ zu sein und eine „Mordspension“ zu kassieren, bestritt Voss dies vehement in einem offenen Brief. Voss kündigte juristische Schritte an, sollte Peymann nicht dementieren, worauf sich Peymann – wiederum in einem öffentlichen Brief und nicht ganz ohne Häme – bei Voss entschuldigte.

2022 ergriff erstmals eine Frau öffentlich das Widerwort. In einem Interview – wiederum in der Berliner Zeitung – beschwor Peymann – wieder einmal – die Liebe zum Theater und den Zweck eines gelungenen Theaterabends, der alle Mittel heiligt:

„Ja, ich habe gebrüllt. Aber nur in größter Not, in schwachen Momenten, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Ich brülle aus Liebe! Zu einer Liebesbeziehung gehört die Auseinandersetzung. Das Leben ist nicht harmlos, es ist Blut und Schrecken. Warum soll ausgerechnet das Theater ein Platz der Seligen sein? Da werden nur keine Waffen eingesetzt. […] Im Theater streiten wir unbewaffnet.“[28]

Die Schauspielerin Mareile Blendl meldete sich darauf in Form eines offenen Briefes zu Wort, den sie in ihrem Blog[29] sowie auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte. Blendl kannte Peymann und seine Arbeit aus persönlicher Erfahrung, sie hatte mit ihm bis 2007 am Berliner Ensemble zusammengearbeitet. Sie forderte Peymann auf: „Nehmen Sie das zurück!“ Brüllen sei kein künstlerischer Vorgang, sondern eine Form des Machtmissbrauchs, der sich kein Schauspieler gerne aussetze. Peymann habe wiederholt Grenzen überschritten und seine Schaupieler:innen der Unfähigkeit bezichtigt.

„Sie haben uns nicht einmal gesehen. Sie waren mit Sich selbst beschäftigt. Damit, ihre Macht und Geltung zu zementieren. […] Dahinter steht eine folkloristische Idee von Theater: Der hochbegabte Künstler, der Menschenmasse formt. Das brüllende Genie. Wir Spieler sollten dankbar sein! Für die Form, in die wir gepresst wurden. Lieben sollen wir Sie, zum Dank. Nein danke! Brülle ich.“[30]

Damit kehrte Blendl einerseits zum ursprünglichen Gedanken der Mitbestimmung – der Forderung der Schauspieler:innen nach mehr Selbstbestimmung im künstlerischen Ausdruck – zurück. Andererseits brach sie auch die Spielregeln bisheriger öffentlicher Konflikte rund um Peymann. Diese focht Peymann zumindest mit hierarchisch Ebenbürtigen aus: mit Journalist:innen, anderen Intendanten (gendern überflüssig), mit etablierten Schauspieler:innen oder Politiker:innen, aber nicht mit einfachen (ehemaligen) Ensemblemitgliedern. Ein Vorgang, für den ich im Zuge meiner bisherigen Recherche kein Beispiel aus den vorangegangenen Jahrzehnten finden konnte.

Im Unterschied zu Muliar und Voss kündigte Blendl keine rechtlichen Schritte an. Sie klagte nicht wegen Ehrenbeleidigung oder Rufschädigung, sondern forderte Peymann zum Abschluss ihres Statements auf, mit ihr über Macht und Machtverhältnisse am Theater in Dialog zu treten. Peymann kam dieser Forderung nicht nach, dafür ein Amtskollege: Der zu diesem Zeitpunkt scheidende Regensburger Intendant Klaus Kusenberg sprang für Peymann in die Presche. In dem offenen Brief, veröffentlicht in Kusenbergs persönlichem Blog, schrieb er, er verachte einerseits die „druck- und angstbasierte Probenarbeit“ Peymanns, andererseits zolle er ihm Respekt für alles, was er bei ihm über das Theater gelernt habe. Weiter hätte Peymann in dem Interview nichts anderes getan, als auf eine provokante Frage zu antworten. Anstands- und respektlos und gar nicht mutig fände er, Kusenberg, dass sich Blendl einen „machtlosen 85jährigen Greis“ als Gegner ausgesucht habe. Und die vermeintlich vorgeschobene Diskussion über Macht- und Machtmissbrauch am Theater auf Kosten eines Menschen führe, dessen Persönlichkeitsrechte sie durch den Schlamm ziehe.[31]

Wieder kein Kommentar von Peymann selbst. Mareile Blendl antwortete Kusenberg erneut in einem offenen Brief, in dem sie ihre Beweggründe weiter ausführte. Erniedrigung und Drohung seien keine legitimen Arbeitsmittel am Theater. Auch wenn sie unter dem Vorwand der Liebe und Kunstfreiheit lange legitimiert wurden. Und auch wenn sie die Schuld für das Brüllen viel zu lange bei sich selbst gesucht habe.

Wieder reagierte Peymann nicht. Kusenberg dieses Mal auch nicht. Auch Blendl verfolgte ihr Gesprächsangebot über Macht und Machtverhältnisse am Theater nicht weiter. Auf Blendls Facebook-Seite sind zwar einige Unterstützungsbekundungen nachzulesen, bald widmete auch sie sich in ihren Social Media Kanälen und in ihrem Blog wieder aktuellen schauspielerischen Arbeiten und Veröffentlichungen.

Die deutschsprachige Presse hatte etwaige Tumulte rund um Claus Peymann bislang immer bereitwillig aufgegriffen. In diesem Zusammenhang war es einzig Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung. Er brachte den Stein mit seinem Peymann-Interview ins Rollen und gab auch den Briefwechsel zwischen Blendl und Kusenberg wieder.

VI FAZIT
Claus Peymann ist eine der umstrittensten Theaterpersönlichkeiten seiner Generation, die ihre Karriere als Erneuerer von Organisationsstrukturen begann und als Bewahrer hierarchischer Machtverhältnisse beschloss. Seine despotische Regieführung und das angstbasierte Arbeitsklima wurden zugunsten seiner erfolgreichen Inszenierungen und Intendanzen stets toleriert. Einige persönliche Fehden mit Schauspielstars, die Peymann Ehrenbeleidigung vorwarfen, sind überliefert.

Anders verhielt es sich mit Mareile Blendl, die Peymann dazu aufforderte, mit ihr über Machtstrukturen und Machtmissbrauch am Theater zu diskutieren. Der Kern der Auseinandersetzung lag hier erstmals auf struktureller, nicht mehr auf persönlicher Ebene – auch wenn Klaus Kusenberg vermutete, Blendl handle aus persönlicher Kränkung. Es hätte ein spannender und fruchtbarer Generationenkonflikt entstehen können zwischen einem Alt-68er, der Mitbestimmung erlebt und abgelegt hat, und einer Schauspielerin, die aktiv über zeitgemäße Arbeitsbedingungen am Theater reflektiert. Leider hat sich der sonst so streitbare und gar nicht öffentlichkeitsscheue Peymann nie dazu geäußert. Was bleibt ist die Frage, warum Blendls Gesprächsaufforderung nicht auch von anderen Theaterschaffenden aufgegriffen wurde. Vielleicht polarisiert „das anachronistische Monstrum“[32] Peymann nicht mehr. Vielleicht liegt es an der Forderung nach mehr schauspielerischer Mitbestimmung, die von anderen Bewegungen wie #MeToo bereits besser abgedeckt werden. Oder ist sie gar endgültig abgehakt?

Literatur
Blank, Claudia: Regietheater. Eine deutsch-österreichische Geschichte: Otto Brahm, Max Reinhardt, Leopold Jessner, Fritz Kortner, Gustaf Gründgens, Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann. Leipzig, Henschel 2020.

Blendl, Mareile: Herr Peymann, nehmen Sie das zurück! Eine Intendantenbeschimpfung, https://www.mareileblendl.com/unregelmaessigekolumne/herr-peymann-nehmen-sie-das-zurck-eine-intendantenbeschimpfung (aufgerufen am 10.1.2024).

Blendl, Mareile: Falscher Klaus!, https://www.mareileblendl.com/unregelmaessigekolumne/falscher-klaus-1 (aufgerufen am 10.1.2024).

Carlson, Marvin: Claus Peymann and the Performance Of Scandal. In: Contemporary Theatre Review Vol. 18:2, 2008, S. 193-207 https://doi.org/10.1080/10486800801908307 (aufgerufen am 7.1.2024).

Kollmann, Hans: Jedermanns Prüfer. Die Salzburger Festspiele und der Rechnungshof. Böhlau Verlag, Wien 2020.

Kusenberg, Klaus: Offener Brief an Mareile Blendl. 23.6.2022, https://www.klauskusenberg.de/offener-brief-an-mareile-blendl/ (aufgerufen am 9.1.2024).

Peymann, Claus, Brucher-Herpel, Claus: Directing Handke. In: The Drama Review 16:2, 1972, S. 48–54, https://doi.org/10.2307/1144712 (aufgerufen am 6.1.2024).

Medienberichte und Fachzeitschriften:

Ich habe vor Wien keine Angst. Theater Heute im Gespräch mit Claus Peymann, Hermann Beil, Uwe Jens Jensen and Afred Kirchner. Interview: Peter von Becker, Michael Merschmeier. In: Theater heute, 06/1984, S. 1–7.

Mitbestimmung, Theaterräte, Kollektive Arbeitsprozesse: Zur Strukturkritik des gegenwärtigen Theaterbetriebs. O.A. In: Theater Heute 12/1969 S. 26–32.

Claus Peymann: „Mein Geheimnis? Ich war nie brav!“ In: Bühne, 23.9.2021, https://www.buehne-magazin.com/a/claus-peymann-in-den-kammerspielen-im-theater-in-der-josefstadt/ (aufgerufen am 9.1.2024).

Claus Peymann: „Schauspieler lieben mich, trotz oder wegen meiner Brüllerei“. Interview: Ulrich Seidler. In: Berliner Zeitung, 29.5.2022, https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/theater/claus-peymann-schauspieler-lieben-mich-trotz-oder-wegen-meiner-bruellerei-li.230214 (abgerufen am 9.1.2024).

Ich bin ein Sonntagskind. André Müller spricht mit Burgtheaterdirektor Claus Peymann. In: Die Zeit, 27. Mai 1988, https://www.zeit.de/1988/22/ich-bin-ein-sonntagskind (aufgerufen am 7.1.2024).

Fritz Muliar zu seiner Klage gegen Klaus Peymann. Interview: Eva Maria Klinger, Ö1 Mittagsjournal: 5. November 1986. Quelle: Österreichische Mediathek, https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/?pool=BWEB&uid=0900A91D-0C4-000BA-00000E20-08FFF165&vol=49762&cHash=c7764cb69e15986c3bb846d814514987 (aufgerufen am 8. Jänner 2024).

Ex-Terrorist sagt Peymann ab. Klar fürchtet zu viel Theater. Von: Alke Wierth. In: taz, Berlin 9.1.2009, https://taz.de/Ex-Terrorist-sagt-Peymann-ab/!5169834/ (aufgerufen am 9.1.2024).

Das „anachronistische Monstrum“ wird 80. In: Deutschlandfunk Kultur. Interview und Gestaltung: Maria Ossowski, https://www.deutschlandfunkkultur.de/regisseur-und-intendant-claus-peymann-das-anachronistische-100.html (aufgerufen am 10.1.2024)

Abbildung Deckblatt: Claus Peymann fotografiert von Oliver Mark im Garten seines Hauses, Berlin-Köpenick 2004, https://de.wikipedia.org/wiki/Claus_Peymann

Peymann-Porträt des ORF auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=OjghSC1vsx8.


[1] Vgl. Blank 2020, S. 192ff.

[2] Blank 2020, S. 195.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Kollmann 2020, S. 134ff.

[5] Theater heute 6/1984, S. 3.

[6] Ebd.

[7] taz, 9.1.2009.

[8] Vgl. Theater heute 12/1969, S.26-32.

[9] Vgl. Theater heute 12/1969, S. 26f.

[10] Vgl. Theater heute 12/1969, S. 27.

[11] Vgl. Carlson 2008, S. 196.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. Peymann zit. nach Schütt 2008, S. 87f.

[14] Vlg. Blank 2020, S. 196.

[15] Die Bühne, 21. September 2021.

[16] Berliner Zeitung, 29.5.2022.

[17] Berliner Zeitung, 29.5.2022.

[18] Peymann zit. nach Schütt 2008. S.88.

[19] Berliner Zeitung, 29.5.2022.

[20] Affolter zit. nach Schütt 2008. S.88.

[21] Die Zeit, 27.5.1988.

[22] Vgl. Die Bühne, 21. September 2021.

[23] Peymann zit. nach Schütt 2008, S 151.

[24] Mittagsjournal: Fritz Muliar zu seiner Klage gegen Klaus Peymann. Interview: Eva Maria Klinger, 5. November 1986.

[25] Fritz Muliar: Liebesbriefe an Österreich. Wien Ueberreuter, 1986.

[26] Peymann zit. nach Schütt, 2008, S. 286.

[27] Peymann zit. nach Schütt 2008, S. 230.

[28] Berliner Zeitung, 29.5.2022.

[29] https://www.mareileblendl.com/unregelmaessigekolumne/herr-peymann-nehmen-sie-das-zurck-eine-intendantenbeschimpfung.

[30] Ebd.

[31] https://www.klauskusenberg.de/offener-brief-an-mareile-blendl/.

[32] https://www.deutschlandfunkkultur.de/regisseur-und-intendant-claus-peymann-das-anachronistische-100.html.