Ich schreib dir (d)eine Geschichte

Von Katharina Marie Lebmeier

Es ist ganz still. Ab und an raschelt Papier. Wir schwelgen alle in einer anderen
Vergangenheit. Die meisten um mich herum haben große Boxen vor sich stehen – viel Vergangenheit. Ich sitze vor 3 Blättern. Zwei Zeitungsartikel und ein Lohnzettel.

Ist die Vergangenheit für die ich mich entschieden habe weniger wertvoll? Sie
scheint so klein. Ist es genug für (eine) Geschichte? Geschichte(n) schreiben kostet Mut. Es kostete mich viel Mut, mich dazu zu entscheiden, die Geschichte einer (scheinbar) unbekannten Person zu schreiben. Eine Person über die noch nicht viel Geschichte geschrieben wurde. Eine Chance – aber irgendwie auch bedrückend. Was, wenn sich kaum etwas finden lässt? Was, wenn ich Luigia Cerale nicht gerecht werden kann? Was, wenn meine Geschichte unbedeutender ist, als die der anderen.

Die anderen können vielleicht längere, spannender Geschichten erzählen.
Gleichzeitig die Chance, ihr eine, nein IHRE, Stimme zu geben. Sie sichtbar, hörbar, lesbar zu machen. Das hat mich gereizt. Die Chance hier etwas herauszufinden, wovon vielleicht noch nichts bekannt war. Die Chance, dass Chat GPT bei der nächsten Suchanfrage nach Luigia Cerale nicht antwortet mit:

Bis zu meinem letzten Wissensupdate im Januar 2022 habe ich keine spezifischen Informationen über eine Person namens Luigia Cerale gefunden. Es ist möglich, dass sie eine private Person ist oder in einem Bereich tätig ist, der nicht weit verbreitet ist. Falls Luigia Cerale eine öffentliche Persönlichkeit ist oder in einem bestimmten Fachgebiet tätig ist, könnte es hilfreich sein, eine aktuelle Online-Suche durchzuführen.

Denn, nein, meine liebe künstliche Intelligenz, eine aktuelle Online-Suche bringt mir hier auch recht wenig. Da stoße ich nämlich auf 3 verschiedene Geburtsdaten und nicht nachvollziehbare Aussagen. Keine Frage, die Möglichkeiten die dem wissenschaftlichen Arbeiten durch das Internet zukommen sind immens und nicht zu verleugnen und doch ist auch die Möglichkeit immens, auf falsche Informationen oder das Weiterschreiben patriarchaler Strukturen zu treffen.

Was ich über Luigia Cerale finde sind Zeitungsnachrichten, verfasst nach ihrem Tod und ein paar kleinere Biographien im Internet, aus der heutigen Zeit. Ich möchte ihre Geschichte anders schreiben, als es bis jetzt getan wurde. Ich möchte nicht der Vornehmheit & Grazie ihrer Bewegungen oder der außerordentlichen „technischen Fähigkeit ihres Fußes“ (1) den Verdienst zuschreiben, der eigentlich ihr allein, als Mensch, gebührt. Ihre Karriere hat sie nicht Choreographen wie Pasquale Borri, Telle oder Josef Hassreiter zu verdanken. Die optimale Entfaltung ihrer „brillanten Technik“ (2) soll nicht der Ruhm anderer Männer sein.

Zuschreibungen wie diese sind häufig, geht man einmal Texten über bekannte
Frauen nach. Erfolg und Anerkennung wird der Grazie, Talent oder Männern aus dem Umfeld der beschriebenen Frau zugeteilt. Auch Gisela Bock schreibt darüber in ihrem Text Challenging Dichotomies: Perspektives on Women’s History (3). Es ist wichtig Frauen sichtbar zu machen. Das passierte bereits viel in den letzten Jahrzehnten – was dennoch kein abgeschlossener Prozess ist, in einem Feld der Geschichtsschreibung, das auf der Erfahrung von Männern basierte und Männer ins Zentrum als Maß der Dinge stellte. (4) Eingestehen, dass die Frauengeschichtsschreibung bereits einige Erfolge zu verzeichnen hat, dennoch, die Dichotomien schreiben sich häufig fort. Luigia Cerale war nicht nur Tänzerin, die durch und mit Talent das nachtanzte, was ihr vorgetanzt wurde. Sie war eine Künstlerin, schrieb eigene Choreographien, war anerkannt und bekannt in offiziellen Kreisen, gründete Tanzschulen, schrieb eigene Ballette – und das alles ohne aus offiziellen Kreisen der Wiener Gesellschaft zu stammen. Sie selbst war es, die sich die Tür öffnete, zu internationalen Reisen und gesellschaftlicher Anerkennung. Sie ist so viel mehr als eine Tänzerin gewesen.

Ganz anders sieht es mit meiner Chat-GPT-Anfrage aus, wenn ich nach den beiden Tanzpartnern von Luigia frage. Wohlgemerkt, Tanzpaare, für die Luigia Cerale selbst die Pas de Deux choreographiert hat. Zu beiden, Josef Hassreiter & Otto Thieme, weiß mir die KI so Einiges – und siehe da: „Weitere Details zu seiner Karriere und seinem Leben könnten in biografischen Werken, Archiven oder historischen Aufzeichnungen zu finden sein.

Mir wird keine weitere Internetrecherche empfohlen (im gleichen Chatfenster),
sondern diesmal explizit auf Archive verwiesen. Auch die künstliche Intelligenz ist sich wohl über die Stellung von Frauengeschichte in historischen Archiven bewusst. Es klingt fast wie – „da brauchst du gar nicht zu suchen“.

Hab ich aber. Und ich habe etwas gefunden. Allein dafür hat es sich jetzt schon ausgezahlt. Ich weiß mehr als die künstliche Intelligenz.

Geschichte kann nie vollständig sein. Diesen Anspruch kann und sollte man auch nicht an sich selbst haben, wenn man sich vornimmt, Geschichte weiterzuschreiben, umzuschreiben, neuzuschreiben. Geschichte schreiben geht mit Lücken öffnen, Lücken finden, Lücken thematisieren, einher. Geschichte schreiben können wir nur aus der Gegenwart, aus dem Jetzt. Und jedes Stück mehr im Puzzle der Vergangenheit ist ein wertvolles Stück für die Gegenwart.

Im gleichen Atemzug ein komisches Gefühl, so in der Vergangenheit einer fremden Person zu wühlen. Plötzlich scheint sie mir nämlich gar nicht mehr so fremd. Ich will ihr nichts rauben, ich will ihr etwas schenken; das mache ich mir immer wieder bewusst. Auch sie hat eine Geschichte verdient. Eine Geschichte, die von ihr handelt. Auch, wenn ich nicht weiß, wie sie es selbst geschrieben hätte; ich kann sie nicht fragen.

Das was über sie bekannt ist, ist nicht viel. Was über Frauen im Archiv zu finden ist, ist meist nicht viel. Luigia war keine unbekannte Person. Sie ist es heute.
Bekannt bis ins Kaiserhaus, eingeladen zu sämtlichen hoheitlichen, staatlichen,
offiziellen Ereignissen, sogar bis in Versailles. (5) Diesen Informationen nach zu urteilen muss sie fast ein Star des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen sein.

In diesem Kontext kann ich Falco nicht zustimmen, wenn er sagt: „In Wien musst du erst sterben, um geliebt zu werden.“ Exemplarisch an Luigia Cerale wird erkennbar, dass das nicht unbedingt gilt. Vor allem nicht für Frauen der Vergangenheit.

Wie Schaser in ihrem Text Bedeutende Männer und wahre Frauen (6) schreibt, begründet sich das Fehlen von Frauenbiographien in der Geschichtswissenschaft oft auf den Umstand, dass die Quellenlage unzureichend ist. Während Frauen die Erinnerung an Ehemänner, Brüder oder Väter pflegen, passiert dies umgekehrt nur selten. (7) Zumindest in der Vergangenheit. Dieses Bewusstsein macht Veränderung in der Zukunft möglich.

Wir sind es, die Geschichte schreiben.

Doch in dem, wie wir dieses Wissen, diese Geschichte schreiben, liegt die Bedeutung dessen, was Archivarbeit ausmacht. Deshalb ist es wichtig ihre Geschichte (neu) zu schreiben. Denn so wie wir im heute die Geschichte schreiben, formen wir unsere Zukunft. Wie auch Hannes Schweiger in seinem Artikel über die „Biographiewürdigkeit“ (8) formuliert, wir müssen uns selbst die Rechenschaft geben, was wir mit unserer Geschichte erreichen wollen. (9) Biographien können aus den unterschiedlichsten Beweggründen geschrieben worden sein – Erinnerung zumeist, Ausweiten des gesellschaftlichen Gedächtnisses – egal ob als Inspiration, Abschreckung, exemplarische Repräsentation einer Gruppe. Vorbild und Inspiration sind in der Geschichtsschreibung zumeist Männer. Biographien schreiben ist also eine polarisierende Arbeit zwischen dem Ausstellen des Außergewöhnlichen, aber auch der Möglichkeit der Identifikation. (10)

Was war mein persönlicher Ansatz? Vielleicht eine Mischung. Ich denke nicht, dass Luigia Cerale die Regel der Tänzerinnen im 19. und 20. Jahrhundert war. Sie markiert gewiss eine außergewöhnliche Situation.

Dennoch: eine geradezu mickrige Quellenangelegenheit. Und das – wie bereits erwähnt – obwohl sie sich zu Lebzeiten größter Anerkennung erfreute. Gerade das will ich ausstellen: Mit ihrem Tod soll nicht auch ihre Geschichte sterben.

Paradox: das Einzige – bis auf einen Gehaltszettel – das von Luigia materiell im Archiv aufzufinden ist, sind Berichte NACH ihrem Tod. Um sonst etwas über sie herauszufinden muss man über die Personen und Institutionen ihres Umfelds, sowie Wohnungsanzeiger und Meldezettel suchen.

Keine Geschichte ist unbedeutend. Ihre Biographie an sich schenkt keine Erkenntnisse, die unsere Gegenwart unmittelbar ändert. Es sind keine neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse im allgemein verstandenen Sinn – und doch schafft es Wissen. Es ist also doch eine Wissenschaft. Es ist ein wichtiger Schritt die Teile der Vergangenheit zu sammeln und so zusammenzusetzen, dass sie etwas ändern können. Den Standpunkt von Frauen in der Geschichte und im Archiv. Es geht mir mit meinem Schreiben nicht nur um Luigia Cerale. Es geht mir auch darum, einen Gegenkanon zu etablieren. (11)

Das was ich mache ist wichtig. Ich merke das, als ich plötzlich Informationen finde, die ich noch nirgends anders über Luigia gesehen habe – Sie hatte die Leitung über eine Tanzschule im ersten Wiener Bezirk inne. (12) Ich bin stolz. Man fühlt sich ein bisschen wie ein Detektiv, der gerade einen Fall gelöst hat. Es ist vielleicht keine große Erkenntnis und doch – es ist ein wichtiger Teil für die Geschichte ihrer Person.

Es macht süchtig, immer mehr Puzzleteile zu suchen und zu finden.

Noch mehr merke ich, dass das was wir tun – Frauengeschichte schreiben – wertvoll ist, als ich in Kontakt mit anderen Archiven trete. Sie sind interessiert, antworten mir schnell, versorgen mich mit sämtlichem Ihnen verfügbaren Material und – Sie spenden Mut, wollen mehr wissen, sind gespannt, was ich gefunden habe. Es ist ein gutes Gefühl. Es tut gut zu wissen, dass wir gemeinsam daran arbeiten, eine neue Geschichte zu schreiben. Nie mit dem Anspruch, jetzt alles aufzunehmen – denn Geschichte hat schwarze Flecken. Doch wir können versuchen, diese mitzudenken. Vielleicht ein bisschen mehr Essayismus in unserer Geschichtsschreibung. (13)

Ein Essay ist ein Versuch, ein Ausprobieren, Hierarchien abzubauen. Das Nichtgeschriebene, Nichtverfilmte kritisiert das Geschriebene, das Verfilmte. (14)

Der Essayismus ist parasitär, weil er sich kritisch auf vorhandene Wissensbestände bezieht. (Wolfgang Müller-Funk)

Mit der Figur des „Lumpensammlers“ spricht Walter Benjamin von der Idee,
Vorhandenes neu zu montieren.

Montieren: Sich die Zeit nehmen, um die Zeiten wieder aufzuspalten, sie zu öffnen. Sie wieder neu zu lernen, sie wiederzuerkennen, sie uns „remontiert“ wiederzugeben, um die Gewalt der Welt besser anzuprangern. (Georges Didi-Huberman)

Indem wir aktiv Geschichte schreiben, können wir die Vergangenheit in der
Gegenwart für die Zukunft neu montieren.

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1 Nachruf, in: Neue Freie Presse, 28.12.1937 sowie Nachruf, in: Wiener Zeitung 28.12.1937 (beides auch im Bestand der Wienbibliothek im Rathaus).
2 G. Oberzaucher-Schüller, Biographie über Luigia Wolff Cerale, in: Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL), https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_C/Cerale_Luigia_1859_1937.xml.
3 Gisela Bock, Challenging Dichotomies: Perspectives on Women’s History, in: K. Offen u.a. (Hg.): Writing Women’s History, London 1991.
4 Ebd., 1.
5 Ebd.
6 Angelika, Schaser: Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Irmela von der Lühe/Anita Runge (Hg.): Biographisches Erzählen (Quereles, Bd. 6), Stuttgart/Weimar 2001, 137–152.
7 Ebd., 141.
8 Hannes, Schweiger, Biographiewürdigkeit, in: C. Klein (Hg.), Handbuch Biographie, Stuttgart 2022, https://doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1007/978-3-476-05843-0_7.
9 Ebd., 43.
10 Ebd., 44. 11 Ebd., 47.
12 Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger: nebst Handels- u. Gewerbe-Adressbuch für d. k.k. Reichshaupt- u. Residenzstadt: 1880 bis 1902.
13 Es folgt eine Ιdeensammlung aus der VO Mediengeschichte „Essayismus in Film- & Medienkunst“ am tfm der Universität Wien im WS23/24 bei Christian Schulte.
14 Alexander Kluge, Cinema Impur.